Gerhard Riedl ärgert sich immer noch über einen Artikel, in dem ich seine Ansichten zum Tango-Unterricht kritisiere und hat deshalb eine Replik geschrieben. Inhaltlich gibt es nichts Neues, er gibt ja offen zu – und ist sogar noch stolz darauf – dass er seit Jahren immer wieder dasselbe schreibt. Ein paar Dinge wollen aber doch kommentiert bzw. korrigiert werden.
Im Gegensatz zu Riedl wiederhole ich mich ungern, deshalb verlinke ich ggf. auf frühere Beiträge, in denen ich mich mit dem entsprechenden Thema bereits eingehend beschäftigt habe. Damit du den Kontext der folgenden (z.T. gekürzten) Zitate kennst, solltest du als erstes seinen Beitrag lesen.
Fürchtet man, im Austausch von sachlichen Argumenten den Zweiten zu machen?
Wie weit es mit der „Sachlichkeit“ her ist, sieht man schon am ersten Zitat: „Riedl hat offenbar noch nie selber unterrichtet […]“. Aus dem Zusammenhang ist natürlich völlig klar, das ich TANGO meine. Als Antwort kommt der Hinweis, dass er „zirka 35 Jahre Schulunterricht gegeben“ und außerdem viel Tango geübt habe. Wer Biologie und Chemie unterrichtet, hat natürlich auch Ahnung von Bewegungs- und Tanzunterricht. Ach nee, weiter unten heißt es ja: „Tanzunterricht […] ist mit Schulunterricht […] nicht zu vergleichen“. Zusammenfassend kann man also sagen, dass Riedl aufgrund seines langjährigen Schulunterrichts auch Ahnung von Tango-Unterricht hat, weil Schulunterricht nichts mit Tanzunterricht zu tun hat. Bei diesem intellektuellen Niveau braucht niemand Angst zu haben, „den Zweiten zu machen“.
[…] wieso eigentlich keine Gruppenkurse, die er doch für grundsätzlich geeignet hält?
Ganz einfach: Einzelstunden sind viel effektiver und machen vor allem mehr Spaß. Ich muss GöttinSeiDank nicht vom Tango leben und unterrichte nur zu meinem Vergnügen.
Und ich glaube weiterhin, dass man den Lernenden von Anfang an auch moderne sowie „schwierigere“ Tangomusik anbieten sollte.
Natürlich kann / sollte man bereits im Anfangsunterricht den Lernenden eine Vorstellung von der musikalischen Bandbreite des Tangos geben und ihnen mal Troilo, Pugliese und gerne auch Piazzolla präsentieren. Aber zu behaupten, dass jemand der noch nicht mal zu El Once im Takt gehen kann, sich zu Escualo „besser bewegt“, ist einfach absurd. Ganz toll geeignet zum Üben ist natürlich auch „Malena“. Wie Riedl uns dieses Stück musikalisch näher bringt, kann man hier bewundern. Über das Tanzen zu „schwieriger“ Musik (vor allem Piazzolla) habe ich ausführlich in diesem Beitrag geschrieben.
Worüber ich richtig sauer bin, ist eine totale Verdrehung meiner Ansichten. Ich sei der Meinung, es gebe im Tango kein „Richtig“ oder „Falsch“ […] Ich erlaube mir, da auch einmal von „Quatsch“ zu sprechen:
Oha, da habe ich offenbar etwas falsch verstanden. Ich korrigiere: Es gibt auch für Riedl „richtig“ und „falsch“. Oder, nee, doch nicht: „[…] oder dem Lernenden die Killervokabel „falsch“ überzieht.“ Ich korrigiere nochmal: Es gibt Falsches, aber das soll man nicht als „falsch“ bezeichnen, sondern stattdessen „positive Anregungen“ geben. Wenn jemand behauptet die Formel für Wasser sei O2H und überhaupt sei die Erde flach, ist das also nicht einfach „falsch“, sondern „nicht ganz richtig“ oder „noch verbesserungsbedürftig“. Das mit „richtig“ und „falsch“ steht übrigens genau so im „Milongaführer“, aber das habe ich auch missverstanden, denn das ist ja nur, haha, Satire und gar nicht so gemeint. So wie die Sache mit dem Zählen: Wenn Tangolehrer Phrasen zählen, ist das ein Zeichen schlechten Unterrichts. Wenn hingegen Riedl Phrasen zählt, beweist das seine musikalische Expertise.
Tanzunterricht […] ist mit Schulunterricht […] nicht zu vergleichen.
Völlig falsch, pardon, von der Wahrheit weit entfernt. Natürlich sind die Ähnlichkeiten / Unterschiede abhängig vom Fach, aber die zugrundeliegenden Prinzipien guten Unterrichts sind die selben: Durchdachte und strukturierte Progression vom Einfachen zum Schwierigen, Anknüpfen an bereits Bekanntes, ständige Wiederholung, didaktische Vereinfachung von komplexen Inhalten usw. Und das Ganze möglichst abwechslungsreich, interessant und „freudvoll“. In Sport sind die Überschneidungen natürlich besonders groß, aber auch in Hinblick auf Englisch gibt es viele Gemeinsamkeiten. Nicht umsonst spricht man von Bewegungsvokabular und davon, dass z.B. die Frau nicht versteht was der Mann will.
Aber die Tendenz von Lehrern, aus allem eine Unterrichtsstunde machen zu wollen, kenne ich leider nur zu gut.
Und ich dachte immer, die Leute bezahlen viel Geld dafür, dass sie Unterricht bekommen und etwas lernen.
In den Practicas, wie ich sie vorschlage, können weniger Geübte mit Erfahreneren trainieren.
Super Idee! Dann können „Erfahrenere“ wie Riedl, die selber nicht wissen, was sie eigentlich tanzen wollen (Quelle) Anfängerinnen Tanzen beibringen. Darauf freuen sich die Damen bestimmt! Und erfahrene Tangueras können endlich mit talentfreien, dickbäuchigen Schraubstock-Typen übers Parkett schlurfen. (Alles weitere zum Lernen auf Practicas in diesem Beitrag.)
Lüders vergleicht Tangolernen immer wieder mit der Ausbildung in den Standard- und Lateinamerikanischen Tänzen.
Das ist ja interessant, wusste ich noch gar nicht. Muss ich gleich mal nachschauen: In meinem Beitrag über guten Tango-Unterricht kommt „Standard-/Latein“ KEIN EINZIGES MAL vor. In meiner Kritik an Riedl gibt es genau ZWEI Passagen und in beiden geht es darum, dass Riedl früher Standard/Latein getanzt hat. Hmm, warum nur haben Riedls „werte Gegner“ so wenig Lust sich „auf Diskussionen einzulassen“?
Was mir noch niemand erklären konnte: […] Was war daran falsch?
Echt jetzt? Das hat noch niemand erklärt? Na gut, dann übernehme ich das mal. Also – aufgemerkt (Trommelwirbel): Daran war überhaupt nichts falsch. Diese Tatsache sollte man zur Kenntnis nehmen, auch wenn man (wie ich) nicht von den Künsten der alten Milonguero/as schwärmt, sondern die neuen deutlich besser findet. Aber möglicherweise kann man in Deutschland Tango nicht so oft „in der Familie“ lernen. Oder Männer haben komischerweise keinen Bock mit anderen Männern rumzumurksen. Und Frauen schmiegen sich vielleicht lieber an einen Mann, als an eine andere Frau. Oder die Leute haben heute einfach keine Zeit und Lust durch nerviges und fehleranfälliges „Abschauen und Probieren“ etwas Neues zu lernen. Komischerweise gehen die Leute heute auch zu einem Musiklehrer, wenn sie Geige lernen wollen, anstatt einfach mal drauflos zu „probieren“. Und wer richtig Fußball spielen möchte, lernt das bei einem Trainer in einem Verein und nicht nur durch „Abschauen“. Unterricht muss irgendwelche Vorteile haben …
Und nicht der Wunsch, sich mit Lehrplänen, Rotstift, Notendruck und klugen Belehrungen traktieren zu lassen!
Ein Artikel, der schon schwach anfängt, sollte natürlich maximal doof enden!
Klaus Wendel
Sehr konkret und sauber argumentiert, und vor allem seine ständigen Widersprüche perfekt aufgedeckt. Gratuliere! 🎈
Diese Masche als Versuch, ständig alle eventuellen Einsprüche im Voraus zu kontern, was oft zu widersprüchlichen Aussagen führt, ist ihm nun auf die Füße gefallen.
Klaus Wendel
PS:
Wenn man bei YouTube Videos sucht und die Stichworte Musikalität + Tango eingibt, bekommt man zwar sehr viele Hilfestellungen, um die Tangomusik in ihrer Struktur besser zu hören und zu verstehen, aber leider kaum brauchbare Tutorials, um musikalischer zu tanzen.
Woran liegt das wohl?
Das Problem liegt in den unendlichen Möglichkeiten der Schrittstrukturen des Tangos. Denn wenn man schon als Paar 36 mögliche Schrittpositionen für 1 Schritt hat, wieviele sind es dann erst, wenn man mindestens 2 bzw. 3 Schritte für eine kleine rhythmische Variation braucht? Alleine die rechnerischen Möglichkeiten steigen ins unendliche. Potenzierung!
(Wer das überprüfen möchte, sollte sich einmal das Buch „Die „Struktur des Tangos“ Band 2 „Die Matrix“ von Mauricio Castro durchlesen.)
Diese alle zu demonstrieren bzw. zu unterrichten wäre ein Lebenswerk.
Tänzerisch sind diesen Möglichkeiten allerdings Grenzen gesetzt, nicht nur zeitliche aus mangelnder Übungszeit, sondern auch aufgrund der begrenzten Möglichkeiten in einer bequemen Umarmung. Es würde sehr sportlich.
Allerdings gibt es sehr gute Trainingsmöglichkeiten zum Beispiel von Chicho Frumboli, der die gebräuchlichsten rhythmischen Pattern und Schrittvariationen methodisch sehr gut für Unterricht aufgearbeitet hat.
Allerdings gibt es darüber keine Videos. Der Gute lässt sich das eben in Unterrichtsstunden bezahlen. Ich benutze diese auch in meinem Unterricht. Allerdings kann man damit auch seine Schüler überfordern.
Ein Musiker & Lehrer namens Joaquin Amenabár hat das Problem in seinem Musikalitätsunterricht für Tänzer allerdings einfach und genial gelöst, indem er die technische Struktur auf das Gehen (wie in einer Ronda gegen den Uhrzeigersinn) in eine Richtung und auf Wiegeschritte (Cuñitas) begrenzt hat.
Was mir allerdings an seiner gewissenhaft ausgeklügelten Methode missfällt, ist, dass man nach seinen Workshops oft das Gefühl hat jegliche tänzerische Freiheit zu verlieren, denn auf einer Tanzpiste hat man ja oft auch andere Gegebenheiten und vor allem geübte, räumliche Bewegungsmuster, die man alle an diese musikalischen Variationen anpassen oder auf ganz auf sie verzichten müsste. Diese Art Musik zu interpretieren ist zu analytisch und der Tanz wäre dann nur ein optisches Abbild des jeweiligen Musikstücks. Das lässt dann keinen Raum mehr für künstlerische Freiheit.
Das ist eben das Problem: je größer die tänzerische Vielfalt an Bewegungen, um so schwieriger der Tanz und aufwändiger die Übungszeit.
Und musikalisch sehr anspruchsvoll improvisierte Tänze sind oft technisch sehr schlicht gehalten oder wenn kompliziert getanzt, dann eben choreografiert worden. (Chicho u.a.. kann jedoch beides: sehr musikalisch und adhoc improvisiert, aber schon garnicht Herr Riedl , sorry, das musste raus!)
Grundsätzlich kann man aber sagen, dass für eine gute musikalische Umsetzung die choreografische Einfachheit bzw. Reduzierung der Schrittmöglichkeiten Vorrang vor einer komplizierten hat.
Hier möchte ich aber zusammenfassen, warum Gerhard Riedl so irrt:
Er propagiert kompliziertere, komplexere Schrittstrukturen in der Milonga, obwohl dies in der Fülle einer Milonga-Piste nicht nur räumlich schwer möglich ist, ohne andere Paare zu behindern oder zu stören, sondern auch musikalisch.
Im Gegenteil: einfache Strukturen, die er bei der Encuentro-Gemeinde leider oft kritisiert und als Schleichtanz bezeichnet, erleichtern musikalisches und räumliches Tanzen.
Komplexe Musik und komplexere Tanzstruktur, die er beide für Normaltänzer fordert, sind für diese mit nur 1x wöchentlichem Unterricht (ohne Intensivtraining) unmöglich effektiv zu erlernen.
Für Anfänger schon mal garnicht.
Wer etwas anderes behauptet, hat entweder vom Tangounterricht keine Ahnung oder ist einfach nur borniert.
Jetzt nutze ich auch eine Redewendung von Riedl: Basta!
Jochen Lüders
> Woran liegt das wohl? Das Problem […] Tangos.
Ich bezweifele, dass das der Hauptgrund ist. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen und Beobachtungen denke ich, dass den meisten LehrerInnen die Musik schlichtweg egal ist. Es dudelt einfach irgendwas im Hintergrund und die SchülerInnen tanzen / üben irgendwas, was mit der Musik nichts zu tun. So wie in diesem Video: https://www.youtube.com/watch?v=fDV6gyGbmwM Von dieser Art gibt es unzählige. Die Alternative sind Tutorials komplett ohne Musik, die genau den selben Subtext haben, nämlich dass die Musik keine oder nur eine komplett untergeordnete Rolle spielt.
> Was mir […] Freiheit zu verlieren
Kann ich nicht beurteilen, weil ich noch auf keinem seiner Seminare war. Aber sein Buch „Tango: Zur Musik tanzen!“ (https://joaquinamenabar.com/de/shop-books-ebooks/deutsch/tango-zur-musik-tanzen-ebook/) finde ich extrem hilfreich. Jetzt braucht man nur noch die wichtigsten Notenwerte zu kennen (vgl. https://jochenlueders.de/?p=15987) und schon versteht man, dass Amenábars „halbe“, „einfache“ und „verdoppelte“ Schritte ganzen, halben und Viertel-Noten entsprechen.
> Im Gegenteil: einfache Strukturen […] räumliches Tanzen.
Da finde ich den Konjunktiv angemessen: „könnten / sollten“ erleichtern. Egal, welches Encuentro Video ich mir ansehe, ich kann von beidem nichts erkennen: https://www.youtube.com/watch?v=z‑rMtvm3gvE
„räumliches Tanzen“? Bis auf wenige Ausnahmen kreiseln alle Paare an der Stelle und kommen keinen Meter vorwärts.
Immerhin spielt der DJ eine schöne „Cover“-Version. 😉
Klaus Wendel
[…]„räumliches Tanzen“? Bis auf wenige Ausnahmen kreiseln alle Paare an der Stelle und kommen keinen Meter vorwärts.[…]
Ja und, was heißt vorwärts? Vorwärts geht es doch nur, wenn die Ronda sich bewegt.
Mit räumlicher Improvisation bzw. tanzen meine ich nicht „raumgreifendes“ Tanzen von A nach B auf einer Linie, sondern auf einer „baldosa“, einer Kachel (besser in Tischgröße 1x1 m), im Kreis auch Molinete, (contra)giro genannt. Das Konzept ist etwa so, dass man sich in konträr gegangenen Drehung an den Platz bewegt, den der/die Partner:in gerade verlässt. Die Variationsmöglichkeiten sind da sehr komplex und schwierig.
„Raumgreifendes Tanzen“ ist nämlich nur ein optischer Effekt für die ganze Länge der Bühne um den Tanz für das Publikum in der letzten Reihe noch dynamisch wirken zu lassen. Auf vollen Tanzflächen einer Milonga ergibt das überhaupt keinen Sinn, weil man nicht für das Publikum tanzt. (Warum nur verwechseln so viele Leute die tänzerischen Grundlagen des Tanzens fürs Publikum mit denen des Tangos auf der Piste?)
„Tango ist Bewegung in Zeit und Raum“, aber nur wenn Platz dafür da ist. …und wenn ich Zeit zum Üben habe – kleiner Scherz.
Musikalische Improvisation bezieht sich allein auf die Musik und kann AUCH auf der Stelle getanzt werden, z.B. einfach durch Gewichtswechsel. Deshalb unterscheide ich zwischen räumlicher und musikalischer Improvisation. Die eine dient der Orientierung auf einer Piste in der Ronda und die musikalische allein der Musik, alles zusammen wird dann zum Tango.
Da auf der Tanzfläche meistens eine sich gegen den Uhrzeigersinn bewegende Ronda erwünscht ist, diese sich aber, je nach Fülle mehr oder minder fortbewegt, wenn es voll ist, kann man oft nur auf der Stelle drehen. Leider kann aber kaum ein Paar gut drehen, zumindest sehe ich in der Encuentro-Szene die Leute stattdessen eher auf der Stelle rumtippeln. Aber, bis man in Drehungen rhythmisch variieren kann, bzw. die Verdopplungen und die langsamen Taktschläge auf der 1 wirklich an die Musik anpassen kann, erfordert das viel Übung. Und weil das viele nicht können, tippeln sie eben auf der Stelle rum. Was ja auch legitim ist, denn niemand muss kompliziert tanzen.
Ich bedaure das aber, weil der Tango dadurch seine Variabilität verliert und nur noch an „Klammer-Blues“ erinnert.
Gute Salon-Tänzer zeichnen sich eigentlich durch gute, musikalische Drehungen aus, aber nicht durch endloses Metern auf einer Linie (Gehen oder caminata genannt), also weil auf sie auf kleinstem Raum tanzen können. Was heutige Showpaare als Glanzstück per „Herumstaksen“, (die basics), demonstrieren, ist auf einer Piste sinnlos und sollte nicht als Vorbild dienen. Nicht umsonst besteht der 40er-Jahre-Stil hauptsächlich nur aus Drehungsvariationen mit Eingängen und Abschlüssen.
Fazit: Je komplizierter der Tanz (z.B. Drehungen), um so höher die „Fehlermöglichkeit“, also macht man es einfach.
Jochen Lüders
> Nicht umsonst besteht der 40er-Jahre-Stil hauptsächlich nur aus Drehungsvariationen mit Eingängen und Abschlüssen.
Da habe ich so meine Zweifel, vgl. https://jochenlueders.de/?p=14011. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute zu „Jazz, Foxtrott und brasilianischer Musik“ rumgekachelt haben. Ist aber auch egal, wie es vor 80 Jahren war.
Keine Frage, ab einer bestimmten Menge an Leuten geht es nicht mehr vorwärts und man tanzt mehr oder weniger auf der Stelle. Das Problem sehe ich eher darin, dass immer mehr Leute fast nur noch an der Stelle tanzen, OBWOHL genügend Platz vorhanden wäre um vorwärts zu tanzen. Es heißt nun mal „Tango es CAMINAR“ (und nicht „kreiselar“). Und wenn es auf Wikipedia heißt: „[…] in den letzten Jahren wurde in der tänzerischen Avantgarde auf dieser Basis wieder mehr Wert auf interessante und herausfordernde Techniken gelegt. Allgemein werden Improvisation und ein kontinuierlicher Tanzfluss als essentiell bewertet.“ dann stimmt das immer häufiger einfach nicht mehr. In 10 Jahren wird man das aktualisieren müssen: „Tango wird meistens zu eher getragener Musik mit wenigen Figuren bzw. Schrittkombinationen am Ort getanzt.“ Und das Ganze ist ein Teufelskreis: Weil immer mehr Leute immer langweiliger / gleichförmiger tanzen, spielen die DJs immer langweiligere Musik. Und weil die Musik immer weniger Energie hat, wird der Tanz immer fader. Ich stimme ja oft nicht mit Riedl überein, aber wenn er die Verödung und Verspießerung des Tango kritisiert („Schwof der Untoten“), stimme ich ihm zu.
Gerhard Riedl
Besten Dank für den unvoreingenommenen Beitrag und auch die lichtvollen Kommentare! Um den Artikel etwas populärer zu machen, werde ich ihn demnächst auf meinen Facebook-Seiten verlinken und einige kleine sachliche Loopings korrigieren.
Sorry – mehr ist nicht drin!
Klaus Wendel
Ich kann Dir grundsätzlich zustimmen. dass die Leute nicht vorwärts laufen.
Aber ebenso kann ich mich darüber aufregen, dass die meisten Autofahrer ihre Staus selber produzieren, indem sie zu dicht auffahren. Hilft das?
Aber „Tango es Caminar“ bedeutet nicht, dass man nur in einer Linie vorwärts läuft, (oder hast Du das mal irgendwo gelesen? Glaube ich nicht!) sondern auch im Kreis. Sonst wären keine Drehungen erfunden worden. Und warum sonst wären Figuren auf kleinstem Raum erfunden worden? Tango Argentino ist kein Ballroomtanz, sondern auf kleinem Raum in Spelunken entstanden.
(Das ist sogar auf einem Tisch möglich: https://youtu.be/lmcQUkac4zo)
Im Gegenteil: Das Bewegungsprinzip des Tangos, das heute noch auf der Piste gültig ist, ist die Drehung. Nachzuschauen bzw. zu lesen auch bei Gustavo Naveira und anderen.
Auch das Schrittrepertoire des heutigen Tangos, das in Wettbewerben „Tango de Pista“ getanzt wird, beruht auf dem Tango der 40er Jahre, wie er von Antonio Todaro bis in die 90erJahre unterrichtet wurde. Das erweiterte Spektrum von Naveira’s Tango Nuevo Tanz (nicht zu verwechseln mit dem Musikstil von Piazzolla) baut darauf auf. Drehungen UND Linien!
Das eigentliche Problem ist, dass es auf der Piste zugeht wie im Straßenverkehr:
Wenn es zu voll ist und einer steht, stehen alle. Daran wird man aber nichts ändern.
Der Unterschied zum Autoverkehr ist, dass man eben mit dem Fahrzeug nicht auf der Stelle kreiseln kann, sondern warten muss, bis sich der Stau auflöst.
Auf der Piste hat man dann die Drehungen, damit man überhaupt weiter tanzen kann.
Auf den Pisten in B.A. ist es in den Innenstädten dann oft so voll und eng (gewesen), dass man pro Musikstück in der Ronda nur einen Meter vorwärts kommt und selbst nicht mehr drehen kann. Dann kann man eben nur auf der Stelle rumtippeln. Spaß macht das auch nicht. Und die Realität ist nun mal, dass es so ist wie es ist und das beste daraus machen muss.
Was ich allerdings nicht verstehen kann, ist, dass sich viele Paare freiwillig auf eine volle Piste quetschen und dann erwarten, dass sie den gleichen tänzerischen Spaß haben könnten, als wären sie allein im Studio, wo man in jede Richtung alles tanzen kann, was einem einfällt.
Tanzen auf vollen Pisten schränkt nun mal eben ein.
Jetzt kann man lamentieren, was alles schief läuft und das Handtuch werfen.
Oder versuchen, den Leuten das Vorwärtstanzen beizubringen. Funktioniert aber nirgendwo!
Als gutes Beispiel dient hier Eric Joerissen in Nijmegen, der bei den monatlichen „Chained Salons“ eine Práctica anbietet und den Leuten im „Space Lab“ oder „Raum-Labor“ das Tanzen in Rondas beibringt. Dabei ist es sehr voll und das klappt dank seinen Übungen wunderbar. Unter anderem zeigt er auch wie man den Tanzfluss aufrecht erhält. Der arbeitet aber schon Jahre lang daran. Aber trotzdem ist man ohne Drehungen und ständigen Stop-Rebounds, (wie Du es nennst) aufgeschmissen.
Deshalb unterrichte ich hauptsächlich Drehungen.
Und wenn ich mal richtig tänzerisch loslegen möchte, um alles, was was ich drauf habe tanzen zu können, dann verabrede ich mich privat mit einer guten Partnerin im Studio, wo Platz ist oder gehe in eine nicht so gut besuchte Milonga, aber gehe nicht in eine ohnehin rappelvolle Milonga.
Wenn ich einen Porsche ausfahren möchte, fahre ich auch nicht in die Innenstadt von Köln, sondern auf die A 31 Richtung Emden, die ist nämlich frei und da gefährde ich auch niemanden.
Und ich habe erlebt, dass die wahren Könner des Tangos (z.B. Omar Vega †) sich auf einer gefüllten Piste virtuos bewegten. Aber aus Spaß am Tanz versteckt im Gewühl der Paare und nicht für die Zuschauer.
Klaus Wendel
PS: Ich möchte hier nochmals einen Irrtum aufklären.
Es klingt in den Antworten auf meine Kommentare immer so, als wenn mir die einfachen Strukturen des Tangos mit reduzierten Bewegungen gefallen würden.
Nein, ich tanze viel lieber komplexer und propagiere und unterrichte es auch so.
In südlichen Ländern wie Portugal und Spanien wird längst wieder energetischer getanzt. Gottseidank.
Ich erkläre hier nur WARUM auf den Pisten der Encuentros oft so langweilig getanzt wird, (Nicht auf allen!)
MEINE ZUSTIMMUNG ALS TÄNZER HAT ES DAMIT NICHT.
ABER ICH FINDE MICH DAMIT AB, HERR RIEDL!