Wie bzw. zu welcher Musik haben die Leute in den „goldenen“ 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts getanzt? Die (selbsternannten) Gralshüter des (angeblich) „wahren“ Tangos wollen uns ja hartnäckig weismachen, dass die Leute damals nach ausgiebiger Mirada Blinzelei und Cabeceo Gedöns mit ernster Miene zu schleppender Musik mit Trippelschrittchen „umarmungsfokussiert“ in einer „gepflegten“ Ronda herumgedackelt sind. Was für ein Unsinn!
Von Michael Lavocah wissen wir, dass es bis vor gar nicht allzu langer Zeit völlig normal war, auf Milongas auch andere Musik („Non-Tangos“) zu spielen:
Until the 21st century it was still common to hear tandas of otros ritmos such as tropical (Argentine cumbia, or salsa), or swing, at many milongas. These might take the place of the milonga tanda and they helped to refresh the atmosphere. According to the testimony of Alberto Podestá and others, in the 1970s the milongas played 50% tango and 50% otros ritmos (other rhythms). The idea that an authentic milonga only plays tango music is relatively new.
Quelle
In the 1990s it was still common to hear tandas of otros ritmos at many milongas. As late as 2006, when the city government passed a law (B.O.C.B.A. N° 2537) intended to support milongas, this stated: that the tanda of otros ritmos was a «fundamental part» of a milonga. Today (2015), most milongas do not play any otros ritmos. Many less experienced dancers, never having heard otros ritmos at the milonga, are under the impression that a traditional milonga only plays tango music.
Dank Alberto Podestá wissen wir, wie es auf Milongas von Buenos Aires wirklich zuging. Die entscheidende Passage beginnt bei 6:20.
Ein Orchester spielte also 30 – 40 Minuten lang Tango-Musik und dann genauso lange GANZ ANDERE Musik („Jazz, Foxtrott, Brasilianische Musik …“), also NON-TANGOS! Da bekommt „goldenes“ Zeitalter gleich eine ganze neue Bedeutung. Was die musikalische Vielfalt und Spaß („fun“ 7:33) angeht, war das ja offenbar wirklich eine „goldene“ Zeit.
Enrique Rodríguez signalisierte die musikalische Vielfalt seines Orchesters bereits mit dem Namen:
Die Sentenz, Tango sei ein trauriger Gedanke den man tanzen kann, verbindet wohl kaum jemand mit der Musik von Enrique Rodríguez und seinem ‚Orquesta de todos los ritmos‘. Mit lockeren, fröhlichen, beschwingten und zwischendurch auch durchaus mal albernen Nummern füllten die versierten und extrem vielseitigen Musiker Cabarets, Tanzclubs und – im Karneval – auch Sportstadien. ‚Bailar todos los ritmos‘ (Alle Rhythmen tanzen) war der Slogan des Orchesters. Entsprechend beschränkte sich das Repertoire nicht nur auf rund 130 Tangos, 40 Valses und 15 Milongas. Die Fans liebten und lieben genauso die lustigen, lebhaften und leichtfüßigen Märsche, Polkas, Pasodobles, Corridas, vor allem aber die 68 Foxtrotts, die heute noch als Milonga-Ersatz einem Tangoabend lockere Beschwingtheit einhauchen können und Rodríguez den Titel ‚König des Foxtrotts‘ sicherten.
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Auch Francisco Lomuto war sehr vielseitig:
Francisco Lomuto war ein beliebter und viel beschäftigter Tanzmusiker, der nicht nur Tango im Repertoire hatte, sondern auch sogenannten „Jazz“. Damit werden in Argentinien diverse Musikstile von Rumba bis Foxtrott bezeichnet, und in den Tanzsälen der 20er bis 40er-Jahre war es üblich, dass Tango-Orchester sich mit „Jazz“-Orchestern abwechselten. Lomuto deckte mit seinen Musikern beides ab, bei ihm spielten – neben dem Pianisten, dem Kontrabassisten, den Geigern und Klarinettisten – die Bandoneonisten Tango und Saxophonisten und Schlagzeuger „otros ritmos“.
Tangodanza 4/21, s. 69, Theresa Faus
Muss/sollte man deshalb heute abgesehen von Tango-Musik Foxtrott oder Swing spielen? Nein, natürlich nicht – kann man, muss man aber nicht. Die Orchester haben damals halt das gespielt, was gerade in Mode war und den Leuten gefallen hat. Und nein, das heißt jetzt nicht, dass man ständig monotonen, kommerziellen Hitparaden-Dudelkram spielt, es gibt ja GöttinSeiDank genügend andere schöne, moderne Musik, zu der man wunderbar tanzen kann.
Die meisten unserer heutigen Tango Codes und Rituale sind Teil einer „erfundenen Tradition“ wie Volker Marschhausen (in der Tangodanza 3/2020 S. 83 – 85) darlegt. Die meisten „Codigos“ entstanden erst in den 90-er Jahren, „als Gegenreaktion auf den damals hegemonialen Tango Nuevo“. So war z.B. die Ronda in der Vergangenheit „selten die Norm“. Cabeco & Mirada entstanden lediglich um „seinerzeit die Sprachbarrieren im Nationengewirr“ zu überwinden und „fanden in Europa erst Ende der 90-er Jahre Einzug.“ Sie sind die „zentralen Macht‑, Kontroll- und Sanktionsinstrumente der Männer […], um die wartenden Frauen wortlos auf Abstand und in passiver Abhängigkeit zu halten“. Abweichendes Verhalten und Missachtung der Codes wurden nun sanktioniert, z.B. in Form von „öffentlichen Ermahnungen durch DJs, persönlichen Verwarnungen der Organisatoren, Milonga-Verbot [und] Zurechtweisung“.
Mauricio Castro hat zwei ausgezeichnete Bücher über die „Struktur des Tango“ geschrieben. Er meint zum Thema:
What is called tradition today is a made-up fantasy. When in 1940-ties people went to dance socially to clubs – there was Tango orchestra and jazz orchestra, they will play jazz, swing and Rock’n‘ Roll. So this fantasy of going to the place and listen to tango, milonga, and vals the whole night – has nothing to do with any Tango tradition. Those are just people unable to connect to what they are hearing. What we call tradition today is very weird.
Quelle
Es ist auch sehr aufschlussreich, sich die Geschichte der verschiedenen Tango-Stile genauer anzusehen. Angesichts des heute gängigen Geschlurfes kann man sich kaum noch vorstellen, dass Tango ursprünglich ein „sehr freier, wilder und kreativer“ Paartanz war. Erst durch den „Re-Import“ des „salonfähig“ gewordenen europäischen „Ballroom Tango“ entstand die heute bekannte Ästhetik mit ihren strengen Regeln und ihrem beschränkten Schrittrepertoire. Und was heute als „traditioneller“ Tango vermarktet wird, entstand erst ab ca. 2005 als Gegenreaktion auf die „tänzerisch-kreative Explosion“ des Tango Nuevo bzw. Neotango (siehe diesen Beitrag).
Mit Hilfe von alten Videos bekommt man einen Eindruck wie unterschiedlich früher getanzt wurde.
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