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Damit Schüler etwas lernen!
Wozu sollen sie (zumindest in Bayern) außer Wortschatz und Grammatik etwas lernen, wenn sie spätestens in der Mittelstufe gelernt haben, dass die INHALTE des Unterrichts völlig irrelevant sind. Die einzige Funktion von Lektionstexten ist es, Wortschatz und Grammatik zu transportieren. WORUM es in den Texten geht, interessiert niemanden, denn Wissen darf ja nicht mehr abgeprüft werden. Völlig egal, ob es um Charles Darwin, die industrielle Revolution oder das amerikanische Bildungssystem geht – im schlimmsten Fall stellt der Lehrer in der nächsten Stunde bei der „Rechenschaftsablage“ (= mündliches Ausfragen) ein paar Inhaltsfragen, danach kann man alles problemlos vergessen, denn in einem „großen Leistungsnachweis“ (= Schulaufgabe, Klausur) darf es ja nicht mehr abgeprüft werden. Das ist völlig absurd, denn eigentlich gilt zumindest in Bayern laut LehrplanPLUS ein völliger anderer Kompetenzbegriff:
Kompetent ist eine Person, wenn sie bereit ist, neue Aufgaben- oder Problemstellungen zu lösen, und dies auch kann. Hierbei muss sie Wissen bzw. Fähigkeiten erfolgreich abrufen, vor dem Hintergrund von Werthaltungen reflektieren sowie verantwortlich einsetzen.
Nehmen wir ein Beispiel aus meiner 11ten. Da haben wir uns im ersten Halbjahr mit den Midterm Elections beschäftigt. Um deren Bedeutung zu verstehen, muss man wiederum das US System of Government zumindest in groben Zügen kapiert haben. Im G9 war es noch völlig normal, im G8 war es zumindest bis vor ein paar Jahren noch geduldet, dass die Schüler in einer Klausur ihr Wissen „erfolgreich abrufen“ mussten: Describe the system of checks and balances and give one example for each „direction“. (Das mit der „direction“ haben wir natürlich vorher im Unterricht besprochen und geübt, also wie kann der Präsident z.B. den Supreme Court „kontrollieren“ und welche Rechte hat andersherum das Oberste Gericht.) Auf diese Aufgabe konnten sich die Schüler vorbereiten, sie konnten und mussten etwas LERNEN: Ein paar Zahlen (100 Senators, 435 Representatives, 4 year term …) und vor allem Wortschatz (appoint a judge, override a veto, declare a bill unconstitutional, usw).
Ist dieses Wissen relevant? Ja, meiner Meinung nach unbedingt. Ständig sind auch wir in Deutschland von Trumps fast unbegrenzter Machtfülle betroffen. Egal, ob es um Handelskriege und deren Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft, das trans-atlantische Bündnis, etc. geht, man kann all das nur verstehen, wenn man ein entsprechendes Basiswissen besitzt.
Als ich angefangen habe zu unterrichten, hat man ganz selbstverständlich „Landeskunde“ unterrichtet, weil es allgemeine Übereinkunft war, dass ein gebildeter Mensch etwas über andere Länder, in dem Fall den englisch-sprachigen Raum, wissen sollte. Noch 2011 erschien:
Irgendwann kam dann die „interkulturelle“ Kompetenz daher. Wissen war nun kein „Selbstzweck“ mehr, sondern hatte die Funktion, einen potentiellen Besucher der USA für bestimmte Themen zu sensibilisieren. Also sollten Schüler zum Beispiel etwas über die Rolle der Religion in den USA lernen und wissen, um entsprechende Fettnäpfchen zu vermeiden.
Hat „landeskundliches“ Wissen etwas mit „kommunikativer Kompetenz“ zu tun? Natürlich, allerdings hängt die Antwort auf diese Frage von der Definition von „Kommunikation“ ab und in welchen kommunikativen Situationen wir uns unsere Schüler „im richtigen Leben“ vorstellen. ICH hätte gerne, dass meine Schüler zum Beispiel mit einem politisch interessierten Besucher aus USA angemessen das amerikanische und deutsche Regierungssystem vergleichen und kommentieren können.
Was das Ministerium bzw. sein Vertreter, Ministerialrat Gruber, unter „Kommunikation“ versteht, erfährt man ja leider nicht. Überhaupt werden neue Bestimmungen so gut wie nie begründet, Lehrer werden zu Befehlsempfängern degradiert. War da nicht mal in grauer Vorzeit irgendwas mit „mündigen“ Pädagogen, denen man einen Ermessensspielraum, z.B. bei der Bewertung von Arbeiten zugestanden hat? In letzter Zeit ertrinkt man in einer Flut von Vorschriften, die bis ins letzte Detail regeln, wie irgendwas zu bewerten ist. Dem Lehrer überlassen, wie verschiedene Teile einer Klausur gewichtet werden, weil er am besten weiß, was er wie intensiv behandelt hat? Wo kommen wir denn da hin, das Ministerium weiß das viel besser. Ein Schwellenwert von 33% für die Note 5 ist für einen kurzen, rein reproduktiven Vokabeltest nicht angemessen (immerhin galten die 33% bis letztes Jahr ausschließlich für das Abitur bzw. die Oberstufe)? Nichts da, der neue Schwellenwert wird einfach verordnet, der Lehrer hat da gar nichts mehr zu melden.
Um Schüler aufs Abitur vorzubereiten!
Das schriftliche bayerische Abitur ist inzwischen derart läppisch, das kann ein durchschnittlicher 10.-Klässler nach spätestens vier Wochen. Die meisten meiner 10.-Klässler kommen beim Hörverstehen genauso auf ihre ca. 16 Punkte (von 20) wie meine Abiturienten. Angesichts der absurd langen Zeit und der Tatsache, dass sie ein zweisprachiges Lexikon verwenden dürfen, verstehen auch mittelmäßige Schüler zumindest den Sachtext weitgehend problemlos (Hintergrundwissen brauchen sie ja eh nicht). Und man benötigt nun wirklich keinen großen Wortschatz um in lächerlichen 250 Wörtern darüber zu schreiben, ob Zoos (2016/II, 1.) bzw. der Muttertag (2014/I, 1.) abgeschafft werden sollten. Der größten Dumpfbacke habe ich nach spätestens zwei Wochen beigebracht, dass der Aufsatz eine kurze Einleitung, einen erkennbaren Hauptteil und einen kurzen Schluss haben muss. Und die Mediation ist eh so wischiwaschi, das können 10.-Klässler (wieder mit Hilfe des zweisprachigen Lexikons) auch schon längst.
Um den Lehrplan zu erfüllen!
Wie und vor allem wozu soll man noch „lehren“, wenn für die Schüler von vorneherein völlig klar, dass absolut NICHTS von all dem jemals „drankommt“? Wenn man ehrlich wäre, müsste man in der ersten Stunde eines neuen Q‑Kurses sagen: „Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Sie – vorausgesetzt Sie machen in Englisch das schriftliche Abitur – nichts von all dem, was wir in den nächsten zwei Jahren machen werden, jemals in einer Klausur benötigen bzw. reproduzieren müssen.“
Ich frage mich, was im neuen/alten G9 eigentlich quälende DREI Jahre lang gemacht werden soll. Ständig lese ich was von „vertieftem“ Lernen. Was soll da bitteschön „vertieft“ werden? Um Lernen „vertiefen“ zu können, müsste ja überhaupt erstmal irgendein Lernen stattfinden. Der „Unterricht“ findet inzwischen häufig auf einem derart armseligen Niveau statt, dass man selbst auf die Frage, was denn eigentlich derzeit das Thema des Unterrichts sei, meist nur ein müdes Schulterzucken erntet. „Lehren“ wir in Zukunft drei Jahre lang, dass ein Aufsatz eine Einleitung haben und man bei der Beantwortung einer Frage korrekt zitieren sollte?
Früher gab es noch die schöne „Lernzielkontrolle“. Es sollte etwas gelernt werden, das Lernen sollte ein klar definiertes „Ziel“ haben und der Lehrer sollte „kontrollieren“, ob es geklappt hat. Inzwischen hat der Begriff vor allem in der Oberstufe komplett seinen Sinn verloren. Es wird nichts mehr gelernt, folglich kann es auch keine Ziele mehr geben, die man kontrollieren könnte. Checks and Balances? Egal, darf in einer Klausur nicht mehr abgeprüft werden. Shakespeare Sonette? Dürfen als Text in einer Klausur nicht mehr verwendet werden, im Abitur gibt’s ja nur Prosa. Politische Reden analysieren? Wozu, wenn die Schüler ganz genau wissen, dass in einer Klausur keine Rede „drankommt“? An einigen Schulen geht es ja inzwischen schon so weit, dass selbst Stilmittel als zu „wissensorientiert“ nicht mehr abgeprüft werden dürfen, weil sie im Abitur auch nicht mehr verlangt werden.
Richtig irre ist ja auch, dass man selbst sprachpraktische Dinge (wie Zeiten, Bedingungssätze, indirekte Rede usw.) nicht mehr prüfen darf (sind ja schließlich kein „Abiturformat“). Selbst in einer 11ten bekomme ich immer öfter Sachen wie „He didn’t wanted / She don’t goes / If he would have tell me / She have not went“ usw. Selbst die primitivsten Fachbegriffe bzw. Konzepte (wie Infinitiv, Gerund, simple past vs. present perfect etc.) werden nicht mehr beherrscht, von einem differenzierten Wortschatz mal ganz zu schweigen. Da gibt es doch tatsächlich immer noch so verbohrte Sturschädel, die meinen, dass Schüler in einer Sprache Wortschatz lernen und Grammatik beherrschen und der Lehrer das auch regelmäßig überprüfen sollte …
Um die Schüler auf das Kolloquium vorzubereiten!
Stimmt, im mündlichen Abitur („Kolloquium“) soll der Schüler plötzlich zeigen, dass er etwas weiß – also genau das, was vorher zwei (bzw. in Zukunft wieder drei) Jahre STRIKT VERBOTEN war! Aus diesem Grund rate ich auch jedem Schüler vom Kolloquium ab: Wie soll er plötzlich etwas können, das er vorher nicht üben durfte?
Ausblick
Die Verblödung geht munter weiter: Schon jetzt gelten die neuen Bewertungsrichtlinien für „kleine Leistungserhebungen, die einen in der Abiturprüfung vorgesehenen Prüfungsteil umfassen“ (KMS S. 5). Der nächste Schritt wird sein, dass auch in Stegreifaufgaben/Exen NUR NOCH Abiturformate zugelassen sind, man also keinen Wortschatz (ggf. kombiniert mit Grammatik) bzw. (Hintergrund-)Wissen mehr abprüfen darf. Was machen wir dann eigentlich in einem 20-minütigen KLN? Einen aus drei kurzen Absätzen bestehenden Text vorlegen und dazu eine Frage stellen? Einen 120 Wörter „Aufsatz“ schreiben lassen? Drei kurze Absätze sprachmitteln?
Die Schwellenwerte für Note 5 bzw. 4 werden wahrscheinlich im Abitur und in Oberstufen-Klausuren deutlich abgesenkt werden.
Dann „stört“ eigentlich nur noch die „Rechenschaftsablage“ (= mündliches Ausfragen), denn da kann man ja immer noch Wortschatz und Inhalte der letzten Stunde abprüfen. Am besten verbietet man die gleich komplett oder verordnet, dass nur noch „kommunikative Kompetenzen“ aber kein „Wissen“ mehr abgeprüft werden dürfen.
Fazit
Als ich vor 35 Jahren angefangen habe zu unterrichten, war Englisch ein tolles, anspruchsvolles, „gymnasiales“ Fach. Mit der Einführung des G8 begann ein für unmöglich gehaltener Niedergang. Der Tiefpunkt ist noch gar nicht erreicht, aber schon jetzt ist es ein Deppenfach, in dem nur noch gute Noten/Punkte produziert werden sollen. Unterrichten / Lehren bzw. Lernen im traditionellen Sinne findet nicht mehr statt.
Astrid
Wow! Erschreckend…
Und ich starte 2019 erst in mein Referendariat. Jedoch, das sei dazu gesagt, unterrichte ich an einer Realschule (E, BaWü).