Seit Jahren behauptet Gerhard Riedl unermüdlich, dass man eigentlich gar keinen Tango-Unterricht braucht, weil man durch Practicas „weitaus schneller zum Ziel kommt.“ Was ist von dieser Behauptung zu halten?
In dieser undifferenzierten Schlichtheit ist sie m.E. schlichtweg Unsinn.
Zunächst einmal muss man klären, was für eine Art von „lernen“ man eigentlich meint. Einer meiner Hauptkritikpunkte am üblichen Tango-Unterricht ist ja, dass die Stunden viel zu vollgepackt sind und viel zu wenig Zeit fürs Üben, Automatisieren und „Ins-eigene-Repertoire-einbauen“ bleibt. Also kann ich auf einer Practica einfach durch Üben und Wiederholen lernen und „zu einem Ziel“ kommen, nämlich z.B. eine bestimmte Figur / Schrittfolge flüssig zu tanzen.
Und natürlich kann man auf einer Practica mehr als auf einer Milonga lernen, weil man Sachen ausprobieren kann und als Mann / Führender nicht so stark dem „Wohlfühl“-Gebot („Mach nichts, was den Tanzfluss und den Genuss der Frau stören könnte“) unterliegt. Auf Milongas geht man als Mann (vor allem als Anfänger) sinnvollerweise auf Nummer Sicher und tanzt nur Sachen, die man beherrscht und „riskiert“ normalerweise nichts. Aus diesem Grund ist / war für mich immer der effektivste Unterricht derjenige, bei dem man gleich danach auf einer Practica die Gelegenheit hatte, das Gelernte zu üben und zum Beispiel neue Ein- oder Ausgänge auszuprobieren oder das Tempo zu variieren.
Geduldiges Üben und Wiederholen führt aber bekanntlich auch nicht immer automatisch zum Ziel. Wohl jeder hat schon mal die Erfahrung gemacht, dass eine Figur nicht richtig flüssig klappt und es irgendwo „hakt“, obwohl beide meinen, alles richtig zu machen. Einfach das selbe immer wieder zu probieren, bringt in diesem Fall überhaupt nichts, denn dadurch verfestigen sich Fehler nur noch. In so einer Situation kann nur das geübte Auge bzw. das gute Gespür eines erfahrenen Lehrers weiterhelfen, der erkennt, woran es wirklich hapert.
Riedl meint aber nicht dieses Üben und Ausprobieren, sondern behauptet hartnäckig, dass man alleine durch Abschauen und „Austausch“ auf Practicas (und Milongas) neue, auch anspruchsvolle Figuren / Schrittfolgen lernen und deshalb auf Unterricht verzichten könnte. Natürlich ist auch dies möglich, nur müssen dafür ein paar Bedingungen erfüllt sein.
Zum einen funktioniert das Ganze nur auf einem ziemlich fortgeschrittenem Niveau. Wer als Anfänger noch mit den Grundlagen wie Haltung, Achse, Gleichgewicht etc. zu kämpfen hat, wird kaum von einer Practica profitieren. Riedl ignoriert darüberhinaus die Tatsache, dass es verschiedene Lerntypen gibt. Zweifelsohne gibt es z.B. stark visuell geprägte Menschen, die fast ausschließlich über das Sehen / Zuschauen lernen und mit Bewegungserklärungen wenig bzw. nichts anfangen können. Auf der anderen Seite gibt es aber eben auch Leute die erst eine präzise, verbal vermittelte Bewegungsvorstellung brauchen, bevor sie eine Bewegung erfolgreich ausführen können. Und dann gibt es noch Menschen, die am besten kinästhetisch, also durch Fühlen und Spüren, lernen. Sie lernen am besten, wenn man mit ihnen tanzt und sie spüren können, wie sich etwas anfühlen sollte. Ein guter Lehrer sollte die verschiedenen Lerntypen möglichst optimal „bedienen“ und fördern, indem er eine neue Figur erst mal zeigt, präzise erklärt (ohne endlos zu labern) und sie anschließend mit den Schülern tanzt.
Am leichtesten tun sich bei diesem Practica-Lernen natürlich visuell orientierte Menschen. Und ja doch, natürlich gibt es Naturtalente, die eine Bewegung nur ein paar Mal sehen brauchen und sie perfekt imitieren können. Aber das sind halt leider Ausnahmen. Und selbst die brauchen brauchen sehr viel Erfahrung, um in dem ganzen Kuddelmuddel von Schritten und Drehungen irgendein Muster zu erkennen. Jeder, der schon mal versucht hat, sich von einem Video eine Schrittfolge abzuschauen, weiß wie schwierig das ist. Und bei einem Video hat man ja noch die Möglichkeit der (Super-)Zeitlupe, die man auf der Tanzfläche nicht hat. Die meisten Leute brauchen eine wohldosierte Mischung aus Demonstration, (knapper) Erklärung und Spüren. Und da wird’s schwierig, denn die wenigsten Tänzer wissen eigentlich, was sie genau machen, sie machen es aufgrund jahrelanger Wiederholung und Übung einfach, können es aber nicht (präzise) verbalisieren. Wenn ich nicht selber unterrichten würde und dadurch gezwungen wäre, meine eigenen Bewegungen immer wieder zu reflektieren und vor allem zu VERBALISIEREN, könnte ich auch nicht sagen, was ich bei einem Ocho eigentlich genau wann mache.
Noch komplizierter wird es, wenn man z.B. als Mann einer Frau eine neue Figur beibringen möchte. Dazu müsste man wissen, was die Frau eigentlich genau macht. Das wissen in der Regel nur die allerwenigsten Männer (wozu auch?), im Normalfall nur die, die regelmäßig beide Rollen tanzen und die betreffende Figur auch als Follower (zumindest in der Grobform) beherrschen. Ich kann zwar als Mann spüren, dass sich z.B. eine Volcada nicht „richtig“ anfühlt, deswegen weiß ich aber noch lange nicht, was die Frau anders / besser machen sollte. In der anderen Richtung (Frau möchte Mann was Neues beibringen) klappt es in der Regel noch schlechter, denn Frauen brauchen sich normalerweise ja nicht um Führung zu kümmern (außer sie tanzen wieder beide Rollen) und haben deshalb keine Ahnung, was der Mann also eigentlich wann machen muss.
Fazit: Practicas sind eine wertvolle Ergänzung zum Unterricht, können ihn aber nicht ersetzen.
Klaus Wendel
Lieber Jochen,
das kann ich ALLES bestätigen. Wenn ich bedenke, wie viele „schwere Fälle“ heute tanzen würde, die ich mit viel Geduld, Hartnäckigkeit, Einfühlung und Motivation zu guten Tänzern „beeinflusst“ habe, erscheint mir die Theorie von G.R. wie eine Ohrfeige. Dieser Mann irrt nicht nur, sondern schadet auch. Dabei widerspricht seine These auch noch den eigenen Unterrichtsanweisung in seinem Buch: als wenn irgendjemand durch seine Anweisungen Tango lernen könnte. Wenn ich mir den Beginn des Tango-Revivals Anfang der 80er Jahre ohne Unterricht vorstelle, wären sehr wahrscheinlich sehr viel mehr „Tänzer“ vom Kaliber G.R. dabei herausgekommen. Wie stellt er sich die Entwicklung der Tangoszene in Deutschland vor ohne Lehrer und Tangoschulen? Sind die ganzen Tänzer, Lehrer, die ich ausgebildet habe vom Himmel gefallen?
Gerhard Riedl
Lieber Klaus Wendel,
wenn es für mich nicht absolut lebensrettend ist, verteile ich keine Ohrfeigen, sondern versuche, mit Argumenten zu überzeugen.
Also, in meinem Buch steht nirgends, dass man allein dadurch das Tanzen lerne. Aber vielleicht hat es einigen Lesern bei der Entscheidung geholfen, was sie im Tango lernen möchten (Didaktik) und wie (Methodik). Selbstverständlich braucht man dazu Menschen, die es schon besser können – ob man die nun „Tangolehrer“, „sehr erfahrene Tänzer“ oder ähnlich nennt. Und ja, ich halte die verbreiteten Unterrichtsformen (Kurse mit relativ vielen Teilnehmern) für wenig effektiv und plädiere daher für andere Unterrichtsformen.
Ich benütze gerne die Gelegenheit, einen ausgewiesenen Tangoexperten zu fragen: Wie hat man eigentlich in den ersten Jahrzehnten (sagen wir bis 1960) am Rio de la Plata Tango gelernt? Gab es da schon Tangoschulen und Kurse der heute üblichen Art? Und wie effektiv war das Lernen damals?
Und noch eins: Wer weniger als 10 Youtube-Lehrvideos zum Tango veröffentlicht hat, ist bei mir gefeit dagegen, dass ich das „Kaliber“ seines Tanzvermögens beurteile. Ich wäre dankbar dafür, wenn dies auch für mich selber gälte.
Beste Grüße
Gerhard Riedl