Ein Dauerbrenner in der Tango (Blog-)Szene ist die Frage, ob man zur Musik von Astor Piazzolla tanzen kann bzw. sollte oder nicht. Im Folgenden beziehe ich mich auf einen Artikel von Thomas Kröter Zu Piazzolla tanzen? Warum nicht!
Die ganze Diskussion leidet m.E. in erster Linie an einem Definitionsproblem: Welche Stücke sind gemeint? Was bedeutet „zu Musik tanzen“? Und schließlich, wer ist „man“?
Beginnen wir mit der Musik. Die Tanzbarkeits-Apologeten meinen meistens die bekannten und vergleichsweise melodischen, rhythmisch eher einfacheren Stücke wie Libertango (siehe diesen Beitrag), Oblivion und Tango Apasionado und vielleicht noch Deus Xango. Keine Frage: Schon irgendwie „tanzbar“.
Viel seltener sind Stücke wie Escualo gemeint, weil die meisten, die musikalisch noch bei Trost sind, ganz genau hören, dass sie diesen komplexen Candombe-Rhythmus einfach nicht „vertanzen“ können. Und so gut wie nie sind Stücke wie Four, for Tango gemeint, die jedoch für die UNtanzbarkeits-Fraktion der Inbegriff von Piazzollas Musik sind. Solange man nicht vorher klärt, welchen „Piazzolla“ man meint, redet bzw. schreibt man aneinander vorbei.
Wann tanzt man (gut) zur Musik? Im Folgenden beziehe ich mich auf das beste mir bekannte Buch zu diesem Thema: Tango – Zur Musik tanzen! von Joaquín Amenábar. Bei weitem nicht so umfassend aber als Einstieg geeignet sind die Videos von Rui Barroso. Vereinfacht gesagt kann man zum „Basis“ Rhythmus oder zum „melodischen“ Rhythmus tanzen (und natürlich zwischen beiden wechseln). Auch Variationen wie Synkopen und „Off-Beat“ ändern nichts daran, dass man Betonungen/Akzente der Musik in Bewegung umsetzt. Das kann nur funktionieren, weil die meisten Tangos einem fest etablierten „Rondo“ Muster (A‑B-A-C‑A) folgen, und die einzelnen Teile bzw. Phrasen auch wieder bestimmten Mustern folgen (vgl. Kap. 9 „Form und Struktur des Tangos“ bzw. dieses Video).
Die einfachste Form zu tanzen, ist dem Basis-Rhythmus zu folgen und die entsprechenden Betonungen (meistens auf der 1 und 3) in Bewegung bzw. Schritte umzusetzen (siehe dazu auch diesen Beitrag). Also dann, ist Take Five tanzbar? Da werden wohl die Meisten mit „Ja“ antworten, das Stück wird ja auch gerne auf Neolongas gespielt. Eingängige Melodie, klarer Rhythmus (zumindest am Anfang) – alles easy. Nur tanzt halt so gut wie niemand im Takt der Musik. Die meisten hören den 5/4 Takt schon mal gar nicht und selbst wenn sie ihn hören, können sie ihn tänzerisch nicht umsetzen. Auf jedes Viertel einen Schritt zu tanzen ist zu schnell, am besten wäre es auf die ersten drei Viertel einen längeren Schritt und auf die verbleibenden beiden Viertel einen längeren (oder zwei kürzere) zu machen bzw. nur kurz das Gewicht zu verlagern. Die meisten Tänzer ignorieren die Musik entweder völlig oder versuchen zwei gleich lange Schritte zu machen. Sie sind davon überzeugt „gut“ zu tanzen, während sie in Wirklichkeit völlig neben der Musik sind.
Oder nehmen wir Androgyne. Natürlich kann ich mich dazu bewegen und das dann „tanzen“ nennen. Am einfachsten macht man es sich natürlich, wenn man alle herkömmlichen Kriterien für gutes Tanzen wie „im Takt sein“, Akzente der Melodie beachten, Tempo- und Dynamikwechsel berücksichtigen, über Pausen nicht einfach „drübertanzen“ etc. als „überholt“ und „die eigenen Kreativität einengend“ ablehnt. Dann gibt es einfach gar keine Kriterien mehr, anything goes und man tanzt so, wie man die Musik subjektiv halt gerade empfindet. In einer herrlich euphemistischen Formulierung meint Kroeter denn auch, dass man zu „komplizierter“ Musik nicht unbedingt kompliziert tanzen müsse. Stimmt, muss man nicht, aber auch die einfachen Schritten sollten zur Musik passen bzw. von der Musik „geführt“ werden. Ja doch, „Androgyne“ ist kompliziert und anspruchsvoll und natürlich muss man sich auf diese Komplexität tänzerisch nicht einlassen, sondern kann einfach irgendwas machen und auch noch subjektiv davon überzeugt sein, dass man „gut“ tanzt – nur stimmt das dann leider meistens einfach nicht. Selbstverständlich ist „Androgyne“ (gut) tanzbar (siehe diese Interpretation), aber dazu muss man ein trainiertes Ohr haben und das Stück mehrmals intensiv gehört und am besten schon ein paar Mal alleine zu Hause geübt haben.
Im Vergleich zu Piazzollas „Four for Tango“ sind die beiden genannten Stücke jedoch läppisch. Woran soll man sich bei dieser Musik als Tänzer halten? Es gibt (zumindest für ungeübte Ohren) keinen erkennbaren Takt bzw. Rhythmus, wenig strong bzw. weak beats, keine Melodie, stattdessen ständige Tempo- und Dynamikwechsel usw. Aber natürlich kann ich mich auch zu dieser Musik irgendwie bewegen bzw. „tanzen“ und dann ist das Stück für mich eben auch „tanzbar“. Die Musik ist dann eher eine Art „Klangteppich“, von der ich mich zu irgendwelchen Bewegungen, Schritten, Figuren etc. „inspirieren“ lasse, ohne dass irgendwas davon im traditionellen Sinn zur Musik „passen“ muss. Wenn Kroeter schreibt: „Wenn wir dann den sprichwörtlichen ‚Flow’ finden – der pure Traum, mag auch die persönliche Choreografie zunächst noch unterkomplex sein“, dann werden ihm da nur wenige Leute folgen können, weil sie es einfach nur mühsam finden, diese Musik in Bewegung umzusetzen, weil sie das (richtige) Gefühl haben, dass sie nur rummurksen und genau das Gegenteil von „Flow“ empfinden. Man hört keine (wiederkehrenden) Phrasen bzw. Teile bzw. sections und kann dadurch das Ende der einen und den Anfang der nächsten kaum erkennen bzw. antizipieren. Aber „man“ kann das Stück natürlich auch gut tanzen – nur muss sich auch hier wieder ein sehr guter Tänzer auf einem hohen „auditiv-motorischem Niveau“ (Amenábar) vorher intensiv mit dem Stück beschäftigt haben und es fast auswendig können muss, um die entsprechenden Pausen, Tempowechsel etc. antizipieren und in passende Bewegung umsetzen zu können: „[…] Tangokomponisten – wie Piazzolla […] – dachten nicht über den Tanz nach; sie schufen eine akademische Musik für Konzerte, die den Tango einbezog und klangvolle Bezüge zu jener urbanen Zeit herstellte, in der sie lebten.“ (Quelle)
Kroeter meint: „Im Grunde sind wir es Piazzolla sogar schuldig, uns seine Musik als Tänzer zu erarbeiten.“ Nö, warum denn? Wozu soll ich mir seine Musik „erARBEITen“, wenn sie mir (bis auf ein paar Ausnahmen) auch nach mehrfachem Anhören einfach nicht gefällt und mir Tanzen in erster Linie Spaß machen soll? Ich habe ja auch keine Lust mir Free Jazz oder Zwölftonmusik zu „erarbeiten“.
In Wahrheit geht es bei der ganzen (Un)Tanzbarkeits-Debatte meistens jedoch um etwas ganz anderes. Das Bekenntnis zu Piazzolla dient lediglich als Alleinstellungs- bzw. Distinktionsmerkmal, d.h. der eigene Geschmack wird aufgewertet, um sich vom musikalisch ungebildeten und anspruchslosen Tango-Plebs abzuheben. Da schwurbeln dann Leute, die bei einem läppischen Vals nur selten die 1 treffen, über kreative Improvisation und Interpretation. Und da werden dann schon mal alle diejenigen, die trotz aller Bekehrungsversuche einfach nicht zu Piazzollas Knarzen, Kratzen und Quietschen tanzen möchten, mit bescheuerten „Flacherdlern“ verglichen bzw. gleichgesetzt. Aber auch solche Diffamierungen werden nichts daran ändern, dass auch in Zukunft die meisten TänzerInnen auf die Frage „Zu Piazzolla tanzen?“ mit „Nein danke“ antworten werden.
In Piazzollas Musik – Tanzen oder Zuhören? geht es darum, ob Piazzolla selber wollte, dass zu seiner Musik getanzt wird.
Robert Wachinger
Hi Jochen,
es ist schon sehr seltsam, wie kontrovers Astor Piazzolla immer noch gesehen wird. Hier also ein paar Anmerkungen von einem bekennenden Piazzolla-Fan:
Du schreibst “Was bedeutet „zu einer Musik tanzen“?“ und kurz darauf “Wann tanzt man gut zur Musik?“ Wo und warum ist eigentlich das Wörtchen “gut“ dazugekommen? Der Zweck einer Tanzveranstaltung für „Normale“ (ok, mehr oder weniger …) ist doch zuallererst: Spass und Freude an der Bewegung zur Musik zu haben, das „gut Tanzen“ kommt dann mit der Erfahrung, oder auch nicht. Aber die Freude am Tanzen bleibt mMn die Hauptsache. Die Musik von Astor Piazzolla ist in ihrer Bandbreite mMn sehr geeignet. (und ganz nebenbei, bei so manchen „Tradischlurfern“ wäre ein „gut getanzt“ das letzte, was mir zur Beschreibung deren Tanzens einfallen würde …). Warum wird also bei so vielen Erörterungen über die Tanzbarkeit von Piazzolla das mE Pseudoargument „die meisten können nicht gut zu dieser Musik tanzen“ bemüht?
Allgemein dazu: „im Rhythmus tanzen“ heisst übrigens nicht, dass man seinen Schritt sklavisch auf die eins und die drei (oder bei Take Five auf eins und vier) setzen muss. Und gerade der Tango hat mMn das Alleinstellungsmerkmal, dass man je nach persönlicher Vorliebe zu einer von drei verschiedenen Ebenen tanzen kann, nämlich Melodie, Gegenmelodie und rhythmische Begleitung (andere Tänze zwingen die Tänzer halt doch oft in das Korsett der rhythmischen Begleitung).
Und zum Schluss noch: woher glaubst du zu wissen, dass die meisten Nuevo- und Neo-Tänzer Piazzolla ablehnen würden (von reinen Traditänzern sprechen wir hier ja nicht)? Leg doch mal ein paar schöne Piazzolla-Tandas auf und beobachte, ob und wie sich der Füllungsgrad der Tanzfläche ändert.
Ich jedenfalls fand deine früheren Ankündigungen „kein Piazzolla und Co“ immer sehr schade (aber ich würde ja auch mehrere „Weltmusik-Tandas“ gegen eine Piazzolla-Tanda eintauschen …).
Ciao und bis irgendwann,
Robert
PS: im übrigen bin ich dankbar, dass es mittlerweile wieder mehr „nicht gar so traditionelle Milongas“ gibt.
Jochen
> Wo und warum ist eigentlich das Wörtchen “gut“ dazugekommen?
Weil es mir um den (großen) Unterschiede geht zwischen „Ich mache einfach irgendwas zu dieser Musik und deshalb „tanze“ ich, egal, ob das herkömmlichen Kritierien entspricht“ und zumindest dem Versuch der Musik nach herkömmlichen Kritierien gerecht zu werden.
> Aber die Freude am Tanzen bleibt mMn die Hauptsache.
Stimmt, sehe ich genauso. Aber ICH habe halt keine Freude, wenn ich merke, dass ich nur rummurkse, weil ich z.B. in Pausen reinstolpere, Tempowechsel nicht antizipieren kann usw. Ich empfinde das als Stress. Ich bestreite ja gar nicht, dass andere Leute das als „Herausforderung“ sehen, ihren Spaß haben oder sogar (wie Kroeter) in „Flow“ geraten. Nur sind das offenbar nicht allzu viele, denn sonst hätten wir ja nicht das ständige Gejammer von Kroeter & Riedl, dass zuwenig bzw. überhaupt kein Piazzolla gespielt wird. Wenn die Nachfrage da wäre, würde die Musik ja auch gespielt.
> bei so manchen „Tradischlurfern“ wäre ein „gut getanzt“ das letzte …
Sehe ich absolut genauso. Und wenn ich mich zwischen Tradischrammel und Piazzolla entscheiden müsste, würde ich mich immer für letzteren entscheiden.
> Pseudoargument
Ist für mich nicht „Pseudo“, allerdings würde ich differenzieren: Sie meisten WOLLEN nicht, weil sie nicht können. Und bitte schön, wir reden von P.s „schwieriger“ Musik und NICHT von „Oblivion“ & Co. [„Oblivion“ ist eines meiner Lieblingsstücke und ich spiele es immer wieder in den unterschiedlichsten Versionen.]
> Allgemein dazu: „im Rhythmus tanzen“ heisst übrigens nicht …
Stimmt, aber es wäre andererseits auch nicht schlecht, wenn man bei einem Vals wenigstens ab und zu die 1 treffen würde. 😉
> woher glaubst du zu wissen, dass die meisten Nuevo- und Neo-Tänzer Piazzolla ablehnen würden
Siehe oben, wenn die Nachfrage da wäre, würde auch ich mehr davon spielen. Bei mir dürfen sich Leute Stücke bzw. ggf. auch komplette Tandas wünschen. Ich habe genau EINEN bekennenden Piazzollisten, für den ich auch immer mal wieder etwas spiele.
> Ich jedenfalls fand deine früheren Ankündigungen „kein Piazzolla und Co“ immer sehr schade
Habe mich in der Zwischenzeit ja auch schon gebessert und das „kein“ durch „wenig“ ersetzt. 😉
> im übrigen bin ich dankbar …
I’ll do my very best! 😉
Robert Wachinger
„Ich habe genau EINEN bekennenden Piazzollisten, für den ich auch immer mal wieder etwas spiele.“
ich geh eigentlich nie zum DJ und wünsch mir irgend nen Titel (schon alleine deswegen, weil ich keine Liste der Stücke, zu denen ich mal gerne tanzen würde, führe, und mir auf die Rückfrage „was denn von Piazzolla?“ halt spontan nur Oblivion und Milonga del Angel einfallen würden). Sollte ich dann doch mal anfangen, oder? Dann hättest schon zwei „bekennende Piazzollisten“ 😉
Das Thema Angebot und Nachfrage sehe ich bei Milongas ein klein wenig anders, weil ich davon ausgehe, dass die meisten Leute eh nicht unbedingt alles kennen, zu dem sie gerne tanzen würden, wenn es denn gespielt würde (da muss der DJ, sofern er experimentierfreudig ist, auch mal neue Angebote ausgraben), anpassungsfähig sind d.h. auch mal „Mist, den der DJ grad auflegt“ ertragen (der DJ kann es ja schliesslich niemandem immer zu 100% recht machen …), und im Falle des Falles halt „mit den Füssen abstimmen“.
Ausserdem gibts wohl Moden, sonst wären die letzten Jahre in München nicht plötzlich so gut wie alle Milongas mit moderner oder gemischter Musik ausgestorben und nur noch traditionelle Milongas übriggeblieben oder neu entstanden (wie gesagt, mittlerweile scheint das ja glücklicherweise wieder anders zu werden). Ob das der Effekt von lautstarken „Tradiverfechtern“ war, welche quasi die Nachfrage dominierten, weiss ich allerdings nicht, da fehlt mir der Einblick.
Jochen
> Sollte ich dann doch mal anfangen, oder?
Konkrete Wünsche (Titel und ggf. Interpret) sind immer leichter zu erfüllen als „Was Schönes von xy“.
> da muss der DJ, sofern er experimentierfreudig ist, auch mal neue Angebote ausgraben
Yep, deswegen gibt es auf jeder (!) Milonga von mir 2–3 völlig neue Tandas.
> wie gesagt, mittlerweile scheint das ja glücklicherweise wieder anders zu werden
Ist mir etwas entgangen? Derzeit gibt es Montag die Neolonga im Lachdach (die ich aufgebaut habe) und seit kurzem am Mittwoch meine eigene Neolonga „TangoMÁS“ im El Rojo. Ansonsten noch ab und zu Sonja Armisen in der Dachauerstr. Aber sonst ist München doch eine TraDiSarli Wüste.
Gerhard Riedl
Ich kann mich zu meinen Erfahrungen nur einmal mehr wiederholen:
Moderner orientierte Tänzer verdrehen auf Milongas höchstens die Augen, wenn der DJ tausendmal gespieltes Zeug auflegt.
Traditionalisten stehen spätestens nach der zweiten Tanda, die ihnen nicht gefällt, beim DJ oder Veranstalter und beschweren sich.