Eigentlich ist der Titel dieses Beitrags unsinnig, denn er suggeriert, dass man Tango auch UNmusikalisch tanzen kann. Nur, kann man dann eigentlich noch von „Tanz“ sprechen? Wikipedia definiert Tanz als „Umsetzung von Inspiration (meist Musik und/oder Rhythmus) in Bewegung“. Kann man noch von „tanzen“ sprechen, wenn Paare komplett neben der Musik sind, bei einem simplen 3/4 Takt die 1 nicht treffen und eine flotte Milonga nicht annähernd tänzerisch umsetzen können?
Ich komme tänzerisch vor allem von der internationalen Folklore und vom Standard- / Lateintanz. Bulgarische Volkstänze haben oft extrem komplizierte Rhythmen und es ist ganz normal, dass man oft Jahre braucht, bis man sie richtig „hören“ und tanzen kann. Aber jemand, der es halt noch nicht kann, käme nie auf die Idee zu behaupten, er könne „bulgarisch tanzen“. Und der Rumba-Rhythmus ist (richtig getanzt) nicht ganz einfach, aber andererseits auch nicht sooo furchtbar schwer. Wer da immer wieder „aus der Musik rausfliegt“, ist sich dessen im Normalfall bewusst und schwingt keine großen Reden über seine Tanzkünste.
Beim Tango mit seinen vergleichsweise primitiven 4/4, 3/4 und 2/4 Takten gehen Selbstwahrnehmung und Realität hingegen oft absurd auseinander. Da haben viele Männer noch nie etwas von Einleitungen oder Phrasen gehört, treffen kaum mal einen strong beat und latschen gnadenlos über Pausen drüber und schwurbeln trotzdem munter darüber, wie sie in einem „kreativ-künstlerischen Prozess“ die Musik „interpretieren“. Wenn ich Bekannte aus der Folklore zum Tango mitnehme, sind die meistens fassungslos, wieviele Paare sich komplett neben der Musik zu bewegen.
In keinem der Studios, in denen ich gelernt habe, wurden selbst die einfachsten Grundlagen systematisch vermittelt, nur ganz selten haben wir ZUR Musik getanzt, meistens dudelte irgendwas im Hintergrund, um das man sich nicht weiter gekümmert hat. Die meisten der so beliebten Workshops zu „Musikalität“ könnte man sich sparen, wenn zumindest die Grundlagen „musikalischen“ Tanzens von Anfang an fester Bestandteil des Unterrichts wäre.
Im Folgenden beschreibe ich, was ich unter „musikalisch tanzen“ für Hobby-TänzerInnen verstehe und wie ich das unterrichte. Alles Folgende bezieht sich auschließlich auf „normale“ Tango-Musik, also Stücke, die einen klaren, (weitgehend) gleich bleibenden Rhythmus und eine (halbwegs) regelmäßige Phrasenstruktur aufweisen (also NICHT für Troilo, Pugliese, Piazzolla etc).
Ich war bzw. bin immer wieder verblüfft bzw. entsetzt, wie oft irgendeine völlig beliebige (bzw. unpassende, weil viel zu komplizierte) Musik im Hintergrund dudelt, ohne dass irgendjemand „zur Musik“ tanzt. Wie soll ein Anfänger musikalisches Tanzen lernen, wenn er zu wenig akzentuierter Musik, vielleicht auch noch mit Tempowechseln bzw. wechselnder Dynamik tanzen soll? Gerade Neo- oder Non-Tangos mit ihrem gleichmäßigen Tempo und ihrer klaren Phrasenstruktur könn(t)en den Lernprozess deutlich fördern. Alles Folgende gilt sinngemäß genauso für Vals und Milonga.
Inhalt
Basis-Rhythmus
Bevor wir einen einzigen Schritt tanzen, machen wir uns erstmal mit der typischen Tango-Musik vertraut, z.B. mit Hilfe von El Once. Wir lernen, dass wir eine starke Betonung auf der 1., 3., 5. und 7. Zählzeit haben (beim Vals entsprechend die 1) und dass wir im „normalen“ Tempo (simple time) jeweils unsere Schritte auf diese betonten Zählzeiten (strong beats) setzen und damit „halbe“ Noten tanzen. Wenn wir nur auf die 1 und die 5 gehen, entspricht das „ganzen“ Noten. Wir gehen dann „langsam“ bzw. im „halben“ Tempo (half time). Wenn „schnell“ bzw. im „doppelten“ Tempo (double time) gehen, tanzen wir „Viertel“-Noten. Den Basis-Rhythmus können wir nun mit verschiedenen eigenen rhythmischen Mustern variieren (z.B. zwei langsame und vier normale Schritte, zwei normale und vier schnelle, usw.).
Phrasen
Wir lernen durch Hören und Mitzählen, dass 8 Zählzeiten musikalisch eine Einheit bzw. (8er) Phrase bilden. Zwei 8er Phrasen bilden die nächst größere Einheit (die zweite Phrase wiederholt oft das Thema der ersten) und zwei 16er Phrasen bilden eine weitere Einheit. Wir lernen, dass die meisten Tangos aus solchen 32er Phrasen bestehen. Als Gegenbeispiel nehmen wir Viento Norte, wo sich 32er Phrasen mit 16er Phrasen abwechseln.
Ab diesem Zeitpunkt achten wir darauf, dass wir in Phrasen tanzen. Am Anfang ganz einfach: Eine Phrase lang am Ort pendeln und eine Phrase lang gehen, danach in zunehmend anspruchsvolleren Kombinationen.
Einleitung
Wir zählen z.B. die Einleitung von El Adios und erkennen, dass wir vier Phrasen abwarten sollten, bevor wir mit dem Tanzen beginnen. Wenn uns die 32er Einleitung in „Fleisch und Blut“ übergegangen ist, analysieren wir den Beginn von Invierno und stellen fest, dass wir zwar nach vier Phrasen anfangen könnten, es aber viel besser wäre, auch noch die 5. und 6. Phrase abzuwarten, weil es erst dann richtig „losgeht“. Dagegen sollte man bei Viento Norte schon nach zwei Phrasen mit dem Tanzen beginnen. Außerdem üben wir auch immer wieder, wann man mit dem Tanzen beginnen könnte, wenn man den „richtigen“ Beginn verpasst hat.
Pausen
Über Pausen sollte man nicht einfach „drübertanzen“. Man kann mit ganz einfachen Mitteln (z.B. Stehenbleiben und Pendeln am Ort) „gestalten“.
Ende
Mit ein bisschen Übung kann man das nahende Ende eines Stückes erkennen / antizipieren und es mit einer einfachen Schlusspose schön beenden.
Tempo und Dynamik variieren
Auf fortgeschrittenem Niveau lernen wir unsere Figuren dem Tempo und der Dynamik der Musik anzupassen. Durch Verdoppelungen können wir Schritte bzw. Figuren beschleunigen bzw. durch halbes Tempo und Pausen verlangsamen. Wir tanzen z.B. das Sandwich zunächst zu „normaler“ Tango-Musik, danach zu einem Vals, dann zu langsamer Musik und am Ende zu einer flotten Milonga. Und jedes Mal versuchen wir, die Eigenarten der Musik (z.B. das Fließende des Vals) in Bewegung umzusetzen.
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