In meinem Beitrag über guten Tango-Unterricht kritisiere ich, dass der übliche Unterricht oft völlig unstrukturiert und planlos ist. Jede Stunde wird irgendwas Neues gemacht, es wird kaum oder häufig gar nicht wiederholt, Neues wird nur selten mit bereits Bekanntem verknüpft und es ist keine in sich logische Abfolge von Inhalten („Progression“) erkennbar. Im Folgenden mein „Lehrplan“ für Anfänger.
Ich beschreibe ausschließlich INHALTE, also welche Schritte / Figuren ich in welcher Reihenfolge unterrichte. Zum Thema Musik bzw. Musikalität habe ich einen eigenen Beitrag geschrieben.
Inhalt
Didaktisch-methodische Grundsätze
- Alle Bewegungen / Schritte üben wir erstmal (natürlich passend zu Musik) alleine. Erst wenn man seine eigenen Schritte ausreichend automatisiert hat und sich nicht mehr zu stark darauf konzentrieren muss, kann der Mann Führungsimpulse geben und die Frau sie aufnehmen. Danach tanzen wir in Übungshaltung und anschließend in offener Tanzhaltung. Erst nach viel Übung probieren wir es in enger Tanzhaltung.
- Grundsätzlich versuchen wir alles auf beiden Seiten bzw. in beide Richtungen zu tanzen. Also lernen wir das Kreuz von Anfang an auch auf der „geschlossenen“ Seite und tanzen die Molinete auch im Uhrzeigensinn.
- Um die (motorische bzw. neuronale) Flexibilität bzw. „Beidseitigkeit“ zu fördern, wechseln wir immer mal wieder die Tanzhaltung und fassen uns auf der anderen Seite (vom Mann aus rechts).
- Nach dem Grundsatz „Ich kann als Mann nichts führen, wenn ich nicht wenigstens eine grobe Vorstellung davon habe, was die Frau eigentlich macht“ lernt der Mann „Frauenschritte“ und andersherum. So lernt der Mann z.B. das Kreuz der Frau und die Frau Vorwärts-Gehen (das sie dann z.B. für Vorwärts-Ochos braucht).
- Alle Schritte lernen / üben wir zunächst im 4/4 Takt und übertragen sie dann auf den 3/4 Takt. Sobald wir etwas in 4/4 zu flotter Musik beherrschen (wie z.B. Felicia), tanzen wir es zu Milonga Musik.
- Zu Beginn jeder Stunde wiederholen wir die Inhalte der letzten Stunde. Alles Neue wird mit bereits Bekanntem verbunden, so dass möglichst vielfältige Variationen entstehen.
- Oft gibt es eine „Hausaufgabe“ (z.B. in Form eines Videos) um das Gelernte zu Hause zu wiederholen und zu üben. Für die rhythmische Struktur der Musik z.B. dieses Video und zum Üben der Dissoziation dieses.
Gehen
- „Normales“ Gehen (halbe Noten, also auf 1, 3, 5 und 7).
- „Langsames“ Gehen (ganze Noten, also auf 1 und 5).
- Kombinationen aus normalem und langsamen Schritten.
- „Schnelles“ Gehen (auf Viertel-Noten).
- Kombinationen aus normalen und schnellen Schritten.
- Gehen in allen drei Geschwindigkeiten.
Drehen am Ort
- Drehen links und rechts herum im normalen und schnellen Tempo.
- Kombinationen aus normalen und schnellen Schritten.
Kreuz
- Gekreuzte Wechselschritte vorwärts und rückwärts.
- Zwei normale Schritte und ein Kreuz auf beiden Seiten.
- Dasselbe mit Wiegeschritten.
- Kreuz ohne Verdoppelung.
- Zwei normale Schritte und zwei Kreuz (wieder auf beiden Seiten).
Ocho cortado
- Grundform.
- Einfache Variationen.
Ochos
- Üben der Dissoziation am Ort.
- Analog zum Gehen: Erst langsame Ochos (ganze Noten), dann normale (halbe Noten) und schnelle „Baby Ochos / Ochitos“ (Viertel-Noten) in verschiedenen Kombinationen.
- Wir beginnen mit Vorwärts-Ochos, weil sie technisch deutlich einfacher sind. Erst wenn die klappen, kommen Rückwärts-Ochos.
- Ochos mit Wiegeschritten kombinieren.
Parada / Pasada
- Aus dem Vorwärts-Ocho, zunächst zur offenen Seite, dann auch zur geschlossenen.
- Aus dem Vorwärts-Ochos mit Variationen.
- Aus dem Rückwärts-Ocho mit Sandwich.
Molinete
- Auf 8 in beide Richtungen.
- Mit Wiegeschritten kombinieren.
Ganchos
- Aus dem Vorwärts-Ocho auf der offenen Seite.
- Aus der Mirror Position.
- Aus dem Vorwärts-Ocho auf der geschlossenen Seite.
- Aus der Gegenüberstellung auf der geschlossenen Seite.
Barrida
- Aus dem Rückwärts-Ocho.
- Aus dem Gehen.
Rebotes
- Verschiedene Kombinationen.
Helge Schütt
Lieber Herr Lüders,
vielen Dank für diesen sehr informativen Artikel!
Ich gebe selber keinen Unterricht, aber trotzdem möchte ich aus Laiensicht einen Punkt anmerken, der für meinen eigenen Tanz sehr wichtig ist: Tango ist ein Paartanz, und dieser Aspekt fehlt aus meiner Sicht in Ihrem Lehrplan.
1.) Ganz grundsätzlich gefragt: Wie funktioniert Führen und Folgen? Was ist die Verbindung im Paar? Und wie funktioniert der Dialog im Paar, optimalerweise in jedem einzelnen Schritt?
2.) Die Konsequenz der Verbindung ist, dass ich als Führender die Bewegungen meiner Tanzpartnerin begleite. Wenn Sie den Führenden die Schritte zunächst allein üben lassen: Besteht dann nicht die Gefahr, dass der Führende seine automatisierten Schrittfolgen abschreitet und die Folgende dann zusehen muss, wie sie damit klar kommt? Das sehe ich auf Milongas leider ziemlich häufig. Und zwar nicht nur bei Anfängern, sondern durchaus auch bei Menschen mit 5+ Jahren Tango Erfahrung.
3.) Die Logik des Tanzens ist aus meiner Sicht genau anders herum als Sie es unterrichten. Für mich als Führenden ist die Frage nicht „Welche Schritte muss ich machen, damit die Figur gelingt?“ sondern vielmehr „Welche Schritte muss ich bei meiner Tanzpartnerin führen, damit als Ergebnis meiner Führung die gewünschte Figur herauskommt?“
4.) Und da wir als Paar tanzen, muss ich bei jeder Figur die Dynamik und die Schritte meiner Tanzpartnerin beachten. Ich kann mir schwer vorstellen, wie ich die Dynamik einer Figur ohne eine Tanzpartnerin lernen soll.
Mir ist nicht ganz klar, wie Sie mit diesen Aspekten umgehen. Behandeln Sie diese Aspekte später im Unterricht oder wie gehen Sie damit um?
Liebe Grüße,
Helge Schütt
Jochen Lüders
> „Tango ist ein Paartanz, und dieser Aspekt fehlt aus meiner Sicht in Ihrem Lehrplan.“
Das stimmt, aber darum geht es mir auch gar nicht. Ich bin Englisch- und Sport-Lehrer und im Kontext Schule bedeutet „Lehrplan“ einfach nur eine Auflistung von INHALTEN (ich habe zusätzlich noch ein paar didaktisch‑m. Grundsätze ergänzt). Also steht z.B. im Lehrplan Sport für die 5. Klassen, dass die Schüler in Fußball die Grobformen von Ball führen, stoppen, passen und schießen lernen sollen. Sog. „affektive“ Lernziele (wie „Freude am Fußball spielen“) und methodische Wege stehen NICHT im eigentlichen Lehrplan. Ich habe also lediglich beschrieben WAS ich in WELCHER REIHENFOLGE selber unterrichte bzw. was ich vorschlage.
> „Wie funktioniert Führen und Folgen? […]
Eine m.E. gute Beschreibung bietet: https://jochenlueders.de/?p=10362
Aber Sie können ein Dutzend solcher Artikel lesen und trotzdem „wissen“ Sie nur auf einer rein kognitiven Ebene wie es funktioniert. Dieses „Wissen“ nützt Ihnen fürs Tanzen aber gar nichts. Führen und Folgen lernen Sie nur durch (selber) FÜHLEN bzw. SPÜREN.
Nehmen wir als Beispiel das Kreuz. Bei mir lernen Sie natürlich erstmal ihre eigenen Schritte, aber auch (zumindest in der Grobform) die Schritte der Frau. Wenn sie die hinreichend beherrschen, tanzen wir zusammen das Kreuz, dabei führe ich und Sie folgen und SPÜREN, wie sich das Kreuz für die Frau anfühlt. Sie verstehen und lernen also, wann sie welche Impulse braucht. [Meine These ist, dass wir Männer nichts richtig führen können, wenn wir nicht zumindest eine grobe Vorstellung davon haben, was die Frau überhaupt macht]. Dann wechseln wir die Rollen, SIE führen und ich gebe Ihnen Feedback, wie sich ihre Führung für mich anfühlt. Also ob Ihr Impuls fürs Kreuz zu schwach, zu stark oder gerade richtig war, ob der Zeitpunkt zu früh, zu spät oder gerade richtig war, ob Sie (unbewusst) an mir rumschieben bzw. ‑ziehen usw. Durch ständiges Üben / Wiederholen verbunden mit qualifiziertem (!) Feedback verbessert sich im Lauf der Zeit (hoffentlich) Ihre Führung bzw. die Kommunikation im Paar.
> „Besteht dann nicht die Gefahr, […] wie sie damit klar kommt?“
Ja natürlich. Aber meine These ist, dass ich mich als Mann erst dann auf Führung konzentrieren kann, wenn ich meine eigenen Schritte bzw. Bewegungen weitgehend automatisiert habe. Und erst wenn ich die Führung weitgehend automatisiert habe, kann ich mich auf die Musik und ihre tänzerische Umsetzung konzentrieren. Im typischen Tango-Unterricht soll der Mann aber alles drei gleich von Anfang machen. Und das kann nicht funktionieren und führt nur zu Frustration.
> „Welche Schritte muss ich bei meiner Tanzpartnerin führen […]“
Siehe oben. Das Eine ist meiner Meinung nach die Voraussetzung für das Andere.
> „Ich kann mir schwer […] Tanzpartnerin lernen soll.“
Stimmt, das geht nicht. Aber das schreibe / behaupte ich doch auch nirgends, oder?
> „Behandeln Sie diese Aspekte später im Unterricht“
Nein, natürlich nicht, das wäre ja völlig absurd. Führen/Folgen bzw. Kommunikation im Paar beginnt mit unseren ersten (Pendel-)Schritten.