In meinem Beitrag über guten Tango-Unterricht kritisiere ich, dass der übliche Unterricht oft völlig unstrukturiert und planlos ist. Jede Stunde wird irgendwas Neues gemacht, es wird kaum oder häufig gar nicht wiederholt, Neues wird nur selten mit bereits Bekanntem verknüpft und es ist keine in sich logische Abfolge von Inhalten („Progression“) erkennbar. Im Folgenden mein „Lehrplan“ für Anfänger.
Wie im Kontext Schule üblich, beschreibe ich ausschließlich INHALTE, also welche Schritte / Figuren ich in welcher Reihenfolge selber unterrichte. Es geht also NICHT nicht um „Freude am Tanzen“, Improvisation oder Führen und Folgen. Zum Thema Musik bzw. Musikalität habe ich einen eigenen Beitrag geschrieben.
Die im Folgenden beschriebene Abfolge muss natürlich nicht jeweils komplett „abgearbeitet“ werden, bevor man mit einem neuen Thema beginnt. So reicht es z.B. wenn man erstmal nur ein normales (= „verdoppeltes“) Kreuz lernt, sich danach z.B. mit Ochos beschäftigt und erst später das Kreuz ohne Verdoppelung dazukommt. Gerade das Gehen hat man ja auch nie „abgeschlossen“, sondern kommt immer wieder darauf zurück. Entsprechend beschränken sich die Erklärungen zur Technik einer neuen Bewegung am Anfang auf das Allernötigste und werden erst im Lauf der Zeit differenzierter und detaillierter.
Inhalt
Didaktisch-methodische Grundsätze
- Alle Bewegungen / Schritte üben wir erstmal (natürlich passend zu Musik) alleine. Erst wenn man seine eigenen Schritte ausreichend automatisiert hat und sich nicht mehr zu stark darauf konzentrieren muss, kann der Mann Führungsimpulse geben und die Frau sie aufnehmen. Danach tanzen wir in Übungshaltung und anschließend in offener Tanzhaltung. Erst nach viel Übung probieren wir es in enger Tanzhaltung.
- Grundsätzlich versuchen wir alles auf beiden Seiten bzw. in beide Richtungen zu tanzen. Also lernen wir das Kreuz von Anfang an auch auf der „geschlossenen“ Seite und tanzen die Molinete auch im Uhrzeigensinn.
- Um die (motorische bzw. neuronale) Flexibilität bzw. „Beidseitigkeit“ zu fördern, wechseln wir immer mal wieder die Tanzhaltung und fassen uns auf der anderen Seite (vom Mann aus rechts).
- Nach dem Grundsatz „Ich kann als Mann nichts führen, wenn ich nicht wenigstens eine grobe Vorstellung davon habe, was die Frau eigentlich macht“ lernt der Mann „Frauenschritte“ und andersherum. So lernt der Mann z.B. die Grobform von Ochos und die Frau das Kreuz im Vorwärts-Gehen.
- Alle Schritte lernen / üben wir zunächst im 4/4 Takt und übertragen sie dann auf den 3/4 Takt. Sobald wir etwas in einem flotten 4/4 Takt beherrschen (wie z.B. Felicia), tanzen wir es zu Milonga Musik.
- Zu Beginn jeder Stunde wiederholen wir die Inhalte der letzten Stunde. Alles Neue wird mit bereits Bekanntem verbunden, so dass möglichst vielfältige Variationen entstehen.
- Oft gibt es eine „Hausaufgabe“ (meistens in Form eines Videos) um das Gelernte zu Hause zu wiederholen und zu üben. Für die rhythmische Struktur der Musik z.B. dieses Video und zum Üben der Dissoziation dieses.
Gehen
- „Normales“ Gehen auf halbe Noten (also auf 1, 3, 5 und 7).
- Gehen mit Pausen, erst nur beim 4. Schritt, dann bei jedem zweiten.
- „Langsames“ Gehen auf ganze Noten (also auf 1 und 5).
- Kombinationen aus normalem und langsamen Schritten und Pausen.
- „Schnelles“ Gehen auf Viertel-Noten.
- Kombinationen aus normalen und schnellen Schritten.
- Gehen in allen drei Geschwindigkeiten.
Kreuz
- Gekreuzte Wechselschritte vorwärts und rückwärts.
- Zwei normale Schritte und ein Kreuz auf beiden Seiten.
- Dasselbe mit Wiegeschritten.
- Kreuz ohne Verdoppelung.
- Zwei normale Schritte und zwei Kreuz (wieder auf beiden Seiten).
Ochos
- Üben der Dissoziation am Ort: Stehen auf beiden Beinen bzw. auf einem Bein und Drehen des Oberkörpers, Vierteldrehungen am Ort, zunächst nur in der leichteren Richtung (rechts herum, wenn man auf rechts steht), dann auch andersherum.
- Analog zum Gehen: Erst langsame Ochos (ganze Noten), dann normale (halbe Noten) und schnelle „Baby Ochos / Ochitos“ (Viertel-Noten) in verschiedenen Kombinationen.
- Wir beginnen mit Vorwärts-Ochos, weil sie technisch deutlich einfacher sind. Erst wenn die klappen, kommen Rückwärts-Ochos.
- Ochos mit Wiegeschritten kombinieren.
- Ocho Cortado in der Grundform und mit einfachen Variationen.
Parada / Pasada
- Aus dem Vorwärts-Ocho mit einfachem „Drübersteigen“, zunächst zur offenen Seite, dann auch zur geschlossenen.
- Aus dem Vorwärts-Ochos mit Variationen / Verzierungen: Caricia / Lustrada und Free Leg Projection
- Aus dem Rückwärts-Ocho mit „Absetzen“ der Frau, zunächst mit Sandwich, dann ohne.
- Aus dem Rückwärts-Ocho „Absetzen“ der Frau und Barrida.
- Parada aus der Molinete.
Molinete
- Alle Schritte üben wir zunächst auf einer Geraden, dann erst auf der Kreisbahn und von Anfang an in beiden Richtungen (mit Richtungswechsel).
- Im normalen Tempo, erst auf zwei, dann auf eine Phrase.
- Im schnellen Tempo auf 8.
- Kombinationen von normalem und schnellem Tempo (wie beim Gehen und den Ochos).
- Molinete mit Wiegeschritten kombinieren.
Gancho
- Einführung in die Technik und Gancho aus dem Vorwärts-Ocho auf der offenen Seite (ihr rechtes Bein um sein linkes).
- Aus der Mirror Position (ihr rechtes um sein rechtes).
- Aus dem Vorwärts-Ocho auf der geschlossenen Seite (ihr linkes um sein rechtes).
- Aus der Gegenüberstellung auf der geschlossenen Seite.
Traspie
- In der Vorwärts-Bewegung vorne kreuzen, in der Rückwärts-Bewegung hinten.
- Vorwärts und rückwärts nur vorne kreuzen.
- Vorwärts und rückwärts nur hinten kreuzen.
Helge Schütt
Lieber Herr Lüders,
vielen Dank für diesen sehr informativen Artikel!
Ich gebe selber keinen Unterricht, aber trotzdem möchte ich aus Laiensicht einen Punkt anmerken, der für meinen eigenen Tanz sehr wichtig ist: Tango ist ein Paartanz, und dieser Aspekt fehlt aus meiner Sicht in Ihrem Lehrplan.
1.) Ganz grundsätzlich gefragt: Wie funktioniert Führen und Folgen? Was ist die Verbindung im Paar? Und wie funktioniert der Dialog im Paar, optimalerweise in jedem einzelnen Schritt?
2.) Die Konsequenz der Verbindung ist, dass ich als Führender die Bewegungen meiner Tanzpartnerin begleite. Wenn Sie den Führenden die Schritte zunächst allein üben lassen: Besteht dann nicht die Gefahr, dass der Führende seine automatisierten Schrittfolgen abschreitet und die Folgende dann zusehen muss, wie sie damit klar kommt? Das sehe ich auf Milongas leider ziemlich häufig. Und zwar nicht nur bei Anfängern, sondern durchaus auch bei Menschen mit 5+ Jahren Tango Erfahrung.
3.) Die Logik des Tanzens ist aus meiner Sicht genau anders herum als Sie es unterrichten. Für mich als Führenden ist die Frage nicht „Welche Schritte muss ich machen, damit die Figur gelingt?“ sondern vielmehr „Welche Schritte muss ich bei meiner Tanzpartnerin führen, damit als Ergebnis meiner Führung die gewünschte Figur herauskommt?“
4.) Und da wir als Paar tanzen, muss ich bei jeder Figur die Dynamik und die Schritte meiner Tanzpartnerin beachten. Ich kann mir schwer vorstellen, wie ich die Dynamik einer Figur ohne eine Tanzpartnerin lernen soll.
Mir ist nicht ganz klar, wie Sie mit diesen Aspekten umgehen. Behandeln Sie diese Aspekte später im Unterricht oder wie gehen Sie damit um?
Liebe Grüße,
Helge Schütt
Jochen Lüders
> „Tango ist ein Paartanz, und dieser Aspekt fehlt aus meiner Sicht in Ihrem Lehrplan.“
Das stimmt, aber darum geht es mir auch gar nicht. Ich bin Englisch- und Sport-Lehrer und im Kontext Schule bedeutet „Lehrplan“ einfach nur eine Auflistung von INHALTEN (ich habe zusätzlich noch ein paar didaktisch‑m. Grundsätze ergänzt). Also steht z.B. im Lehrplan Sport für die 5. Klassen, dass die Schüler in Fußball die Grobformen von Ball führen, stoppen, passen und schießen lernen sollen. Sog. „affektive“ Lernziele (wie „Freude am Fußball spielen“) und methodische Wege stehen NICHT im eigentlichen Lehrplan. Ich habe also lediglich beschrieben WAS ich in WELCHER REIHENFOLGE selber unterrichte bzw. was ich vorschlage.
> „Wie funktioniert Führen und Folgen? […]
Eine m.E. gute Beschreibung bietet: https://jochenlueders.de/?p=10362
Aber Sie können ein Dutzend solcher Artikel lesen und trotzdem „wissen“ Sie nur auf einer rein kognitiven Ebene wie es funktioniert. Dieses „Wissen“ nützt Ihnen fürs Tanzen aber gar nichts. Führen und Folgen lernen Sie nur durch (selber) FÜHLEN bzw. SPÜREN.
Nehmen wir als Beispiel das Kreuz. Bei mir lernen Sie natürlich erstmal ihre eigenen Schritte, aber auch (zumindest in der Grobform) die Schritte der Frau. Wenn sie die hinreichend beherrschen, tanzen wir zusammen das Kreuz, dabei führe ich und Sie folgen und SPÜREN, wie sich das Kreuz für die Frau anfühlt. Sie verstehen und lernen also, wann sie welche Impulse braucht. [Meine These ist, dass wir Männer nichts richtig führen können, wenn wir nicht zumindest eine grobe Vorstellung davon haben, was die Frau überhaupt macht]. Dann wechseln wir die Rollen, SIE führen und ich gebe Ihnen Feedback, wie sich ihre Führung für mich anfühlt. Also ob Ihr Impuls fürs Kreuz zu schwach, zu stark oder gerade richtig war, ob der Zeitpunkt zu früh, zu spät oder gerade richtig war, ob Sie (unbewusst) an mir rumschieben bzw. ‑ziehen usw. Durch ständiges Üben / Wiederholen verbunden mit qualifiziertem (!) Feedback verbessert sich im Lauf der Zeit (hoffentlich) Ihre Führung bzw. die Kommunikation im Paar.
> „Besteht dann nicht die Gefahr, […] wie sie damit klar kommt?“
Ja natürlich. Aber meine These ist, dass ich mich als Mann erst dann auf Führung konzentrieren kann, wenn ich meine eigenen Schritte bzw. Bewegungen weitgehend automatisiert habe. Und erst wenn ich die Führung weitgehend automatisiert habe, kann ich mich auf die Musik und ihre tänzerische Umsetzung konzentrieren. Im typischen Tango-Unterricht soll der Mann aber alles drei gleich von Anfang machen. Und das kann nicht funktionieren und führt nur zu Frustration.
> „Welche Schritte muss ich bei meiner Tanzpartnerin führen […]“
Siehe oben. Das Eine ist meiner Meinung nach die Voraussetzung für das Andere.
> „Ich kann mir schwer […] Tanzpartnerin lernen soll.“
Stimmt, das geht nicht. Aber das schreibe / behaupte ich doch auch nirgends, oder?
> „Behandeln Sie diese Aspekte später im Unterricht“
Nein, natürlich nicht, das wäre ja völlig absurd. Führen/Folgen bzw. Kommunikation im Paar beginnt mit unseren ersten (Pendel-)Schritten.