Machen wir mal ein kleines Gedankenexperiment. Stell dir vor, du hast noch nie „traditionelle“ (= historische) Tango-Musik gehört. Du sollst jetzt einfach „aus dem Bauch“ (bzw. dem Ohr) heraus entscheiden, welche Musik dir besser gefällt, welche du schöner findest und zu welcher du lieber tanzen würdest:
„Desde el alma“ in dieser oder in dieser Version? „Felicia“ in dieser oder in dieser Version? Und „Paciencia“ lieber so oder so?
Du magst den Schellack Sound, das Rauschen, Knistern, Knacken, das häufig schleppende Tempo und den oft quäkenden Gesang? Wunderbar, du kannst zwischen unzähligen Milongas wählen, auf denen ausschließlich „deine“ Musik gespielt wird. Du findest die moderneren Versionen schöner? Dann hast du ein gewaltiges Problem, denn diese Musik wird so gut wie überhaupt nicht gespielt.
Man hört / liest ja oft, dass man den „wahren“ Tango nur zu Originalaufnahmen tanzen könne, weil die historischen Aufnahmen musikalisch hochwertiger seien und die Musiker des (angeblich) „goldenen Zeitalters“ einfach besser waren. Häufig ist die Rede vom „einzigartigen“ Klang dieser Aufnahmen, was viele allerdings nicht davon abhält auf Milongas bzw. Encuentros bis zu 30 Sekunden zu quatschen (und damit die Musik komplett zu ignorieren), bevor sie irgendwann wann mal (eher gelangweilt) mit dem Tanzen beginnen. Ich bin kein ausgebildeter Musiker, deswegen maße ich mir nicht an, musikalische Qualität wirklich beurteilen zu können. Dennoch bezweifele ich, dass hervorragende Musiker, wie zum Beispiel das Solo Tango Orquesta (runterscrollen um ihren musikalischen Werdegang zu sehen), schlechter sind als die Musikern der 1930er und 40er (was mir Musiker und Musiklehrer wiederholt bestätigt haben). Und selbst wenn ich zu Hause unter idealen Bedingungen (keine Hintergrundgeräusche, hervorragende Lautsprecher etc.) und bei voller Konzentration höchst subtile Qualitätsunterschiede hören könnte, wären sie mir völlig egal, wenn ich „nur“ tanzen will. Ein schöner Klang und gute Audioqualität sind / wären für mich viel wichtiger.
Die meisten Leute nennen moderne Einspielungen alter Stücke „Coverversionen“ mit einem eindeutig negativen Beigeschmack: „Kommt bei weitem nicht an das Original ran“, „minderwertig“, „die spielen lediglich 1:1 die alten Titel nach“ usw. Natürlich gibt es (vor allem ältere) Gruppen, die die traditionellen Stücke einfach nur „nachspielen“. Aber das ist auch nicht weiter schlimm, denn die neuen Versionen klingen einfach besser. Aber jüngere Gruppen wie Solo Tango Orquesta und Bandonegro bieten oft neue Interpretationen wie z.B. diese mitreißende Cumparsita. Auch diese Version von Bandonegro ist viel interessanter als die meisten, langweiligen EdO Versionen. Oder noch besser, weil originell und lustig die Cumparsita als Vals.
In einem interessanten Beitrag über „Neotango“ werden die o.a. Gruppen „Acoustic Tango Cover Orquestas“ genannt.
Edo-Fundamentalisten nerven Neo-DJs ja gerne mit der Frage: „Und wann spielst du endlich richtigen Tango?“ Man braucht jetzt nur den Spieß umdrehen und den EdO-DJ freundlich (!) zu fragen: „Könntest du nicht zur Abwechslung mal schöne Musik zum Beispiel von [Namen der Lieblingsgruppe] spielen?“ Je mehr Leute diese Frage in regelmäßigen Abständen stellen, desto eher werden DJs (bzw. Veranstalter) ihr musikalisches Konzept umstellen.
Für Milongas gilt das Gesetz von (vermeintlicher) Nachfrage und dem daraus resultierenden Angebot. Auf der Nachfrage-Seite haben sich in den letzten Jahren relativ wenige, dafür lautstarke und aggressive Edoisten durchgesetzt. Es soll ja „traditionelle“ DJs geben, die gerne auch mal was anderes spielen würden, aber Angst vor einem mittleren Shitstorm und dem Verlust ihrer Gigs haben. Es ist höchste Zeit, dass die bislang still duldende Mehrheit endlich mal den Mund aufmacht („Wir sind das zahlende Tango-Volk“) und klar macht, dass ihr das alte Zeug einfach zu den Ohren raushängt.
Warum war denn der Tango in den 1970ern und 80ern selbst in Argentinien so gut wie tot? Natürlich gab es verschiedene Gründe, aber der Hauptgrund war doch wohl, dass vor allem jüngere Leute keine Lust mehr hatten, zu diesem Rentnergeschrammel zu tanzen. Wie stellen wir uns denn die Zukunft des Tango in Deutschland vor? Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass wir junge Leute mit diesem langweiligen Sound für „unseren“ Tanz begeistern können?
Und warum wird heute wieder überall dieses öde Zeug gespielt? Es war / ist meiner Meinung nach einfach eine Reaktion auf den großen Erfolg des Electrotango in den Nuller- und Zehnerjahren. Damals gab es Neolongas, auf denen fast den ganzen Abend lang nur Gotan Project, Otros Aires, Narcotango & Co. gespielt wurden. Verständlicherweise mochten das viele Leute entweder von Anfang an nicht oder hatten nach kurzer Zeit die Ohren voll davon. Die Stücke sind musikalisch oft langweilig, häufig viel zu monoton und „seelenlos“ und es gibt kaum langsame, romantische Stücke zum „Kuscheln“ bzw. Eng-Tanzen. Und nachdem es keine Alternativen gab (bzw. sie keiner spielte) landete man halt wieder beim alten Kram.
Wer gerne auf Gerontolongas zu bald hundert Jahre alter Musik mit kleinen Schrittchen im Kreis herumlatscht (bzw. nur an der Stelle dreht), soll das auch in Zukunft gerne machen dürfen. Aber für alle anderen gilt: Es gibt viel wunderbare Musik zu entdecken, die Reise könnte hier beginnen.
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