Wenn ich „folge“ (also „Frau“ bzw. „Follower“ tanze) kann ich es nicht leiden, wenn mein(e) Partner(in) plötzlich stehenbleibt und nichts mehr macht. Oft schaut er / sie mich erwartungsvoll an und gelegentlich kommt noch ein aufmunterndes „Jetzt bist du dran“. Ich bin in solchen Situationen bockig und mache auch einfach nichts. Manchmal kommt irgendwann die erstaunte Frage: „Du willst wohl geführt werden, oder?“
Der bekannteste Vertreter der Tunix-Fraktion ist Gerhard Riedl. Er „führt so wenig wie möglich“, bleibt lieber einfach stehen, lässt sich vom „Feuerwerk“ der Frau „bezaubern“ und würde die Begriffe „Führen“ und „Folgen“ im Tango am liebsten „verbieten“. Wer hingegen für die „Mär“ vom Führen & Folgen ist, „schmiert gerührten Quark zusammen“.
Da ist sogar schon ChatGPT schlauer:
In Tango, the „lead“ refers to the person who initiates and guides the movements of the dance, while the „follow“ responds to the lead’s movements. The lead communicates through physical cues such as pressure and direction, and the follow responds by adapting their steps and movements to match. The lead-follow dynamic is essential in Tango as it creates a connection between the dancers and allows for fluid, improvisational movements. The lead must have strong understanding of the music and rhythm, as well as the ability to read their partner and respond to their movements, while the follow must be able to listen and respond to the lead’s cues.
Am besten gefällt mir in seinem Text die folgende Passage:
Daher bin ich auch immer ziemlich ratlos, wenn mich eine Tanzpartnerin fragt, ob sie meine Führung gerade „richtig verstanden“ habe. Woher soll ich das wissen? Möglicherweise hatte ich den Raum zu einer Seite geöffnet und wartete gespannt darauf, ob sie diesen nun mit Vorwärts‑, Seitwärts- oder Rückwärtsbewegungen nutzen wollte, von einer Drehung, Verzögerung, Beschleunigung oder Verzierungen ganz zu schweigen.
Tja, wenn der Mann keine Ahnung habe, was er denn eigentlich tanzen möchte, ist es vielleicht wirklich besser, einfach stehen zu bleiben und die Frau machen zu lassen. Das Ganze dann allerdings ein „ständiges Hin und Her von Impulsen“ und „gemeinsames Gestalten des Tanzes“ zu nennen ist schon kühn. Der eine macht (fast) nichts und der / die andere macht irgendwas und das soll dann Gemeinsamkeit, Harmonie und Verbindung im Paar schaffen? Wem es Spaß macht, so „unverbunden“ miteinander zu tanzen, soll das gerne machen, nur sollte man nicht erwarten, dass man mit dieser Einstellung auf allgemeine Begeisterung trifft.
Natürlich gibt es Situationen, in denen die Frau „Freiraum“ hat, all die schönen Verzierungen, die sie auf dem letzten Adorno-Workshop gelernt hat, anzuwenden. Typische Situationen sind zum Beispiel Parada (bzw. Sandwich) und Ocho cortado. Aber auch in diesen Situationen funktioniert es nur, wenn wir uns besser kennen, schon öfter miteinander getanzt haben und ich (als Führender) weiß, dass da jetzt was kommen könnte. Wenn ich das nicht weiß, kann es schnell passieren, dass wir beide blöd rumstehen und die Frau sich wundert, warum es nicht mehr weitergeht. Als Folgender finde ich solche Situationen nervig und muss immer an dieses herrliche Video denken.
Die meisten Frauen machen in ihrer Verzweiflung irgendwelche Planeos, Flips, Voleos und oder knallen ihr Bein um das des Partners („Gancho“). Nachdem zum Beispiel beim Voleo das Bein (aufgrund des fehlenden Führungsimpulses) nicht locker schwingt, sondern aktiv mit Muskelkraft geführt werden muss, schauen all diese Bewegungen natürlich meistens fürchterlich aus. Mir ist völlig schleierhaft, wie frau Freude an so einem Gehampel haben kann.
Der wohl häufigste Grund für diese Führungslosigkeit ist durchaus edel bzw. „emanzipatorisch“. Häufig wird „führen und folgen“ mit „befehlen und gehorchen“ gleichgesetzt (siehe dazu diesen Essay). Der modernen, „feministischen“ Frau will man(n) natürlich nichts „vorschreiben“, sie ist ja schließlich „autonom“ und hat keine Lust „ein passives, nicht-denkendes Objekt werden, das der Führende herumschiebt“. Und dann erscheint es eigentlich logisch, als Führender so wenig wie möglich zu machen und der Frau so viel Freiraum wie möglich zu lassen, damit sie sich „kreativ entfalten“ kann.
Ein zweiter Grund sind die diversen „Regeln“, die viele Frauen gelernt und automatisiert haben. Sie tanzen dann z.B. das Kreuz „selbständig“, ohne dass der Mann irgendwas führt, einfach weil „frau es so macht“. Viele beginnen die Molinete grundsätzlich mit quick-quick-slow, ohne dass es geführt wird usw.
Als Führender vertrage ich „Eigeninitiative“ der Frau nur in homöopathischer Dosierung. Wenn ich weiß, dass sie beim Ocho cortado gerne ihre schicke Hacke-Spitze Kombi zelebriert oder bei der Parada mit ihrem Bein in der Luft rumrührt, warte ich geduldig bis sie damit fertig ist. Wenn wir aber gerade zu Gran Hotel Victoria tanzen und ich weiß, dass (bei 1:25) diese schöne Pause kommt, nervt es, wenn sie in diese Pause reintanzt und sie damit zerstört. Und wenn wir zu Llorar por una Mujer tanzen, will ich überhaupt keine (störenden) Verzierungen haben, denn dieses Stück (bzw. diese Version) ist pure Energie und da möchte ich nach einer Parada / einem Sandwich sofort schwungvoll weitertanzen und nicht erst warten, bis die Frau endlich fertig ist. Anders gesagt, muss die Frau ein Gespür haben bzw. entwickeln, wann ihre Verzierungen musikalisch und tänzerisch passen und wann nicht. So kann sie grundsätzlich nach einer Barrida gerne mein Bein wieder zurückschieben, aber wenn ich die Barrida auf die vierte Phrase tanzen und die nächste markante 1 der neuen (32-er) Phrase treffen möchte, passt ihr Zurückschieben einfach nicht und (zer)stört unsere Harmonie und Verbindung.
Noch schlimmer wird es, wenn die „emanzipierte“ Frau meine Führung einfach ignoriert und ganz „autonom“ ihr „eigenes Ding“ macht. Ich möchte zum Beispiel bei diesem romantischen Vals langsame Ochos (über 2 Takte) tanzen und sie tanzt stattdessen einfache schnelle(re). Bei einer Anfängerin bin ich natürlich nachsichtig und vermute, dass ich nicht klar genug geführt habe oder dass sie noch nie etwas von verschwiedenen Geschwindigkeiten bei Ochos gehört bzw. gelernt hat. Wenn es aber eine fortgeschrittene Tanguera ist, die prinzipiell keine Lust hat dem Mann zu „folgen“, dann passen unsere beiden Konzepte einfach nicht zusammen und ich werde sie nicht mehr auffordern.
Entsprechend kann ich auch mit der derzeit häufig propagierten Idee nichts anfangen, dass der Mann nicht mehr führt, sondern nur noch „Vorschläge“ macht. Noch niemand konnte mir erklären, wie es weitergeht, wenn ich z.B. ein Kreuz (mit Verdopplung) „vorschlage“ und die Frau keinen Bock hat eines zu tanzen. Dann sind wir plötzlich im gekreuzten System und wenn ich nicht sehr schnell zur Seite ausweiche, latsche ich ihr auf den Fuß. Oder ich „schlage vor“ einen Ocho zu tanzen und sie macht stattdessen lieber einen Voleo, weil sie meinen Vorschlag nicht so prickelnd finde. Wie geht’s dann weiter? Fange ich an, ihr hinterherzuhoppeln? Wem’s gefällt, der soll so tanzen, ich finde bzw. fände es nur irritierend und nervig.
Update: Seit dem oben verlinkten bzw. zitierten Beitrag von Gerhard Riedl (vom August 2015) hat sich seine Einstellung zum Führen offenbar komplett verändert. In einem neueren Beitrag beschreibt er recht ausführlich und vernünftig, wie er führt: „Für mich trägt mein rechter Arm, mit dem ich ja mehr Kontaktfläche habe, deutlich mehr zum Führen bei. / Insofern hat Lüders mit seinem „Push and Pull“ durchaus recht. / Aber es gibt durchaus Momente, in denen man die Spannung erhöhen muss […] / Ich führe zusätzlich mit der Blickrichtung.“
Klaus Wendel
Hallo Jochen,
danke für Deinen ausführlichen Artikel, der einige verbreitete Ansichten über die „Aufgabenverteilung“ beider Rollen im Tangopaar beschreibt.
Natürlich sind die Varianten und Vorstellungen darüber sehr divers, denn ja nach Erfahrung des/r jeweiligen Tanzpartner:in kann man auch unter Führung oder Folgen eine vereinbarte Aufgabe verstehen.
„It takes two for a tango“, diese scheinbare Plattitüde haben viele nicht so richtig verstanden, denn gemeint ist damit nicht nur dass man dafür mind.2 Personen benötigt, sondern auch, dass beide Partner zusammen den Tango kreieren und nicht nur der Führende, der „bestimmt“, was die Frau zu tanzen hat. Er macht lediglich Vorschläge, auf die meine Partnerinnen aber meistens gerne eingehen, weil sie sich für sie logisch erschließen. Ich weiß, dass da einige vehement widersprechen werden, aber ich führe so. Natürlich hat der Führenden einen größeren Einfluss darauf, ob ein Paar souverän und elegant wirkt, aber eine erfahrene Folgende kann aus einem weniger guten Tänzer einen guten machen. (Natürlich nicht aus einem Anfänger.)
Auch der bekannte Satz „beim Tango führt die Musik“ setzt voraus, dass das Paar ad hoc in der Lage sein sollte die gehörte Musik zu „vertanzen“ – also viel Erfahrung.
„Führen und Folgen“ ist einfach nur ein Agreement, um sich einigermaßen harmonisch auf der gefüllten Tanzpiste zu bewegen.
Auch die enge Umarmung beschränkt die Freiheiten beider Tanzpartner.
Zunächst einmal ist da der äußere Raum, die Piste, mit anderen Paaren, auf der ich mich in einer Ronda-Ordnung mit einer Partnerin bewege, ohne andere Paare zu stören oder aufzuhalten, eine vereinbarte Ordnung, damit alle möglichst Spaß haben.
Als Führender biete ich meiner Partnerin nur den nötigen Raum und musikalische Vorschläge für Verdopplungen und Pausen ihrer Bewegungen an, die sie ausführen kann, aber nicht muss. Meistens sind das leider für die Frau nur die Vor- oder Seitschritte, oder Rückschritte in Drehungen, denn in der gemeinsamen „Caminada“ rückwärts (für sie) hat die Partnerin kaum eine Chance, auf den Mann einzuwirken.
Richtungswechsel wie „Ochos“ oder „Alteraciones“ sollten für die Folgende in einem guten Timing „angekündigt“ werden, ohne Kraft ohne Ziehen und Drücken – das Zauberwort für Führung ist hier „Effektivität“. Einem guten Leader sieht man die Führungssignale nicht an.
Den Raum, den ich meiner Partnerin zur Gestaltung des gemeinsamen Tangos gebe, ist abhängig von ihrer tänzerischen Erfahrung und Musikalität.
Optimal ist es, wenn die Frau danach garnicht weiß, wieso ein guter Tanz zustande gekommen ist, weil alles sehr leicht war. Das setzt viel Einfühlungsvermögen, eine gute Kenntnis der Bewegungen der Partnerin und Erfahrung voraus.
Der plausibelste Satz stammt von Eric Müller aus Bern: „Wenn man seine Partnerin führen möchte, sollte man zumindest wissen, was man jeweils von ihr erwarten kann.“ Logisch
Mit „Nichtstun“ als Führender ist das „Beobachten“ der Partnerin gemeint, dann begleite ich nur die Bewegungen der Partnerin, ist aber kein Stillstand, also ohne Forderungen.
Fazit:
Der Führende bezieht sich auf die Partnerin, den äußeren Raum und die Musik,
Die Folgende auf den Raum um den Mann herum, den er ihr anbietet und die Musik.
Für mich ist die Musikalität das Hauptqualitätsmerkmal der Tanzpartnerin. Wenn sie die Musik mit mir gleich empfindet, brauche ich fast garnicht zu führen. So wie mit meiner Tanzpartnerin Esther, bei uns führt sie Musik.
Jochen Lüders
Hallo Klaus,
danke für den ausführlichen Kommentar. Wie so oft stimmen ich dir in fast allen Punkten zu.
Lediglich eine Passage sehe ich etwas anders:
> „Als Führender […] die sie ausführen kann, aber nicht muss.
Natürlich MUSS sie nicht, aber wenn ich z.B. eine Verdoppelung tanzen möchte und sie macht das nicht mit, stört das unsere Harmonie und ich muss ggf. abbrechen und neu anfangen.
> „also ohne Forderungen.“
EINLADUNGEN 😉
> „Wenn sie die Musik […] bei uns führt [d]ie Musik.
Diesen Zustand kenne ich leider (noch) nicht. Klingt magisch!
Klaus Wendel
Deine Frage; […]„Lediglich eine Passage sehe ich etwas anders:
> „Als Führender […] die sie ausführen kann, aber nicht muss.
Natürlich MUSS sie nicht, aber wenn ich z.B. eine Verdoppelung tanzen möchte und sie macht das nicht mit, stört das unsere Harmonie und ich muss ggf. abbrechen und neu anfangen.
> „also ohne Forderungen.“
Antwort: Wenn eine/r im Paar ohne den anderen eine Verdopplung tanzt, wechselt doch lediglich das Schrittsystem. Das ist fast in allen Positionen möglich. Zum Beispiel in der gekreuzten ‚base‘, wenn die Dame durch ein verdoppeltes Einkreuzen geführt wird, sie macht dabei lediglich einen Gewichtswechsel im Kreuz, aber es ist auch eine Verdopplung, die zwar nicht räumlich mittels Projektionen stattfindet, aber in der geschlossenen Fussstellung. Man kann aber auch räumliche Verdopplungen – ohne Partner – also nicht gleichzeitig tanzen. Das Problem ist nur, dass die Führenden dann oft irritiert sind, wenn sie den „Schrittsystemwechsel“ der Dame nicht bemerken. Gute Führende spüren jedoch immer, in welchem Schrittsystem man sich im Paar zueinander befindet. „Das Genie überblickt das Chaos.“ Hört sich an wie Anarchie, ist aber praktizierte Improvisation. Insofern ist Führung nicht unbedingt nicht immer zwingend, sondern nur Einfühlung, was die Dame gerade tanzt.
Mauricio Castro „Die Struktur des Tangos“ „Die Matrix“