Traditionelle DJs machen ein Riesen-Gedöns ums „spontane“ Auflegen und verachten Playlisten. Ich drücke zu Beginn der Milonga auf Play und unterbreche höchstens einmal, um die Gäste zu begrüßen und irgendwelche Ansagen zu machen.
Das ganze Geschwurbel rund ums spontane Auflegen halte ich für einen (aus nachvollziehbaren Gründen) liebevoll gepflegten Mythos. Hinter der Forderung, der DJ müsse „das Parkett lesen“, also intuitiv erfassen, was die Leute wünschen, steht ja die Annahme, dass es in einer bestimmten Situation einen gemeinsamen Musikwunsch aller (oder zumindest der meisten) Tänzer gäbe. Diese Annahme halte ich schlichtweg für Unsinn. Die Leute haben so unterschiedliche Musikgeschmäcker und wünschen sich in einer bestimmten Situation so derart unterschiedliche Sachen, dass es nie so einen gemeinsamen Musikwunsch geben kann. So hat es noch kein DJ jemals geschafft meine Wünsche zu „lesen“. Die meisten Neo-DJs spielen zum Beispiel viel zu viel elektronische Musik (für mich oft monoton und „seelenlos“), viel zu wenig (oft überhaupt keinen) Vals, häufig viel zu lange Stücke (alles über 4:30 finde ich zu lang) und vor allem viel zu laut. Und bei Tradi-DJs ist es noch schlimmer. Ich kann mir noch so sehr mal flottere Tangos oder schwungvolle Valses wünschen, meine Wünsche wurden noch nie „gelesen“. Selbst wenn ich meine Wünsche explizit geäußert habe, hat das nichts geändert.
Eine liebevoll und abwechslungsreich zusammengestellte Playlist ist mir wesentlich lieber als „spontanes“ Auflegen. Ich erwarte deshalb auch gar nicht, dass der DJ den ganzen Abend lang „arbeitet“ und ständig z.B. einen Kopfhörer über einem Ohr hat, weil er irgendwas vorhören muss. Ich konzentriere mich ausschließlich auf den Tanz, die Musik und vor allem natürlich auf die Frau in meinen Armen, der DJ selber ist mir völlig egal, er muss für mich nicht „präsent“ sein, ich nehme ihn gar nicht wahr.
Die eigentliche „Arbeit“ ist für mich das Finden von schöner Musik und das Zusammenstellen von Tandas und Playlisten. Wenn ich drei Stücke des selben Interpreten habe, ist eine Tanda schnell zusammengestellt. Wenn ich aber nur einzelne Stücke habe, kann es Tage und Wochen dauern, bis ich zwei andere passende Stück dazu gefunden habe. Jede Playlist höre ich mindestens zweimal komplett durch, bevor ich sie spiele, um sicherzustellen, dass sowohl die einzelnen Tandas als auch die gesamte Playlist in sich stimmig und trotzdem abwechslungsreich ist. Am Abend selber habe ich immer mein Notizbuch bereit, um mir zu notieren, wenn eine Tanda (oder ein einzelnes Stück) nicht so richtig „funktioniert“. Dann wird bei nächster Gelegenheit die Tanda wieder verändert und (hoffentlich) verbessert. Besonderes Augenmerk richte ich darauf, dass das Verhältnis von bekannter und „neuer“ Musik und das zwischen moderner und traditioneller Musik passt.
Wenn du selber DJ bist, mach doch einfach mal folgendes Experiment. Spiele eine vorbereitete Playlist ab, aber erwecke den Eindruck als ob du „arbeiten“ würdest, also konzentriertes Auf-den-Bildschirm-Starren, Kopfhörer über einem Ohr („vorhören“), Maus-Schubsen etc. In Wirklichkeit machst du aber nichts, du lässt einfach nur deine Playlist laufen. Irgendwann fragst du die Leute, ob du „nur“ eine Playlist abgespielt hast („kann ja jeder“) oder „spontan“ aufgelegt hast („große Kunst“). Solange du keine primitiven „handwerklichen“ Fehler gemacht hast (z.B. ein „falsches“ Stück anspielen und nach wenigen Takten abbrechen und ein anderes spielen oder plötzlich nur noch Gotan Project spielen), wird es im Normalfall keiner wirklich wissen. Natürlich wird es bei einer 50-prozentigen Ratechance entsprechend viele „richtige“ Antworten geben, aber nach meiner Erfahrung kann es kaum jemand mit Sicherheit sagen. Wenn dir spontanes Rumsuchen Spass macht und du das Gefühl hast, den Leuten damit eine Freude zu machen, mach es gerne weiter. Wenn du es aber als stressig empfindest und es nur machst, weil du glaubst, es würde von dir erwartet, solltest du dich entspannen und falls nötig nur noch ein bisschen Theater spielen.
Aus dem bislang Gesagten ergibt sich, dass ich spontane Musikwünsche normalerweise nicht sofort, d.h. am selben Abend, erfülle. Die Leute wünschen sich meistens ein einzelnes Lied, ich spiele aber nun mal keinen einzelnen Stücke, sondern Tandas. Ich müsste also auf die Schnelle zwei andere passende Stücke aus dem Hut bzw. meinem Laptop zaubern, um eine entsprechende Tanda zusammenzustellen. Allein das ist mir schon mal zuviel Stress, das mache ich lieber in Ruhe zu Hause. Zweitens müsste ich diese neue Tanda wieder auf die Schnelle irgendwo in meiner Playlist (statt einer anderen) einfügen, auch dazu habe ich keine Lust.
Ich erfülle gerne (und ständig) Musikwünsche, aber eben mit einer zeitlichen Verzögerung. In dieser Zeit habe ich selber eine (hoffentlich) stimmige Tanda zusammengestellt oder habe die Titel der gewünschten drei Stücken bekommen. Nach ca. 90 Minuten gibt es bei meiner Milonga immer eine kurze Pause für Begrüßung, Bekanntmachung der nächsten Veranstaltungen usw. Nach dieser Pause kommen dann die persönlichen „Wunsch-Tandas“ mit namentlicher Nennung: „Die nächste Tanda ist für den Gerhard, der sich Musik von Astor Piazzolla gewünscht hat“.
Eine Ausnahme ist der Wunsch nach einem Geburtstags-Vals. Das ist m.E. eine schöne Tradition und deshalb habe ich immer eine entsprechende Vals-Tanda parat, um auch kurzfristig („Habe gerade erfahren, dass die XY vor ein paar Tagen Geburtstag gehabt hat. Könntest du bitte …?“) etwas Passendes spielen zu können.
Aus den genannten Gründen habe ich natürlich auch kein Problem damit, wenn der DJ selber Spaß hat und zu „seiner“ Musik tanzt. Ich bin aus einem einzigen Grund DJ geworden, nämlich um selber zu schöner Musik tanzen zu können. Das traditionelle DJ-Gebot „Du musst den ganzen Abend lang zumindest so tun, als ob du wahnsinnig beschäftigt wärest, ständig auf dein Display starren und an deinen Knöpfen und Schiebereglern rumfummeln, auf keinen Fall darfst du Spaß haben und selber tanzen“ fand ich schon immer absurd. Sehr sympathisch finde ich deshalb folgende Aussage eines traditionellen (!) DJs:
Don’t just sit at the DJ booth, I feel strongly that DJs should dance. (Quelle)
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