Immer wieder wird behauptet, man könne Tango nur „authentisch“ tanzen, wenn man die Texte kennen würde. Ich denke hingegen, dass es reicht, eine ungefähre Vorstellung davon zu haben, worum es in den meisten Tango-Texte geht. Eine genauere Kenntnis verdirbt einem oft genug die Stimmung bzw. den Tanz.
Schauen wir mal, worum es meistens geht und welche Rolle die Frau dabei spielt:
„Die Hauptfigur [ist] häufig der von einer Frau verlassene Mann, der ohnmächtig dem Schicksal ergeben ist oder sich in Rachephantasien ergeht. Das Bild der Frau ist zwiespältig: sie ist einerseits das begehrte Liebesobjekt, die Mächtige, welche den Mann verlassen hat, aber auch die „gefallene Schlampe“, um deren Verlust der Mann nicht lange klagen muß und die am Ende doch nur arm zugrunde gehen wird. Sie ist unerreichbare Angebetete und Prostituierte zugleich. Der weinende Mann selbst widerspricht sehr der
Klischeefigur vom Macho-Tangotänzer, der jede Frau mit einem hochmütigen Blick „umlegen“ kann. Er ist passiv und selbstmitleidig.“ (Quelle)
„In der Geschichte des Tangos war die Frau anfangs eindeutig das Opfer, die Fügsame, die Dienende, die durch dominante Männer unterdrückt wurde, die ihnen gehörte. […] So war „die Tanguera ein knappes Jahrhundert lang pures Produkt männlicher Projektionen: eine Hure mit Herz auf der Zunge und Rhythmus im Blut. Eine Frau, die keine Zukunft, dafür aber viel Vergangenheit hatte und dem Mann als Vorwand für sein Unglück diente.“ (Quelle)
„Die sinnliche Frau wird im Tango als Bedrohung erlebt. Ähnlich wie im Mittelalter und heute bei den Taliban gilt sie als Werkzeug des Bösen. Nur die Mutter und die zu ewiger Jungfräulichkeit verdammte Schwester sind davon ausgenommen.“ (Quelle)
Selbst wenn manche Texte poetische Qualitäten haben sollten, wer möchte sich schon eingehender mit so einem hoffnungslos antiquiertem, misogynem Käse beschäftigen?
In ein echtes Dilemma geraten Text-Kenner, wenn die Musik so gar nicht zum Text passen will. Wenn man ganz unbedarft Desde El Alma hört und weiß, dass der Titel irgendwas in Richtung „Aus der (bzw. tiefster) Seele“ bedeutet, denkt man erstmal an was Schönes wie „Unsere Seelen haben sich endlich gefunden“. Wenn man sich dann aber den Text anschaut, vergeht einem gleich die gute Laune: „Seele, wenn du so sehr verletzt wurdest / Warum weigerst du dich zu vergessen? / […] Du lebst nutzlos traurig“. Wie bzw. was soll man denn jetzt tanzen? Mit depressiven Gesichtsausdruck und hängenden Schultern den Text oder mit fröhlichem Gesichtsausdruck die wunderbare Musik? Ich entscheide mich grundsätzlich für die Musik. Der Gesang ist für mich lediglich ein weiteres „Instrument“ wie die Geige oder das Klavier. Was da gesungen wird, ist mir inzwischen völlig egal – mit großer Wahrscheinlichkeit ist es ja doch nur wieder das übliche Gejammer (siehe auch diesen Beitrag über „Mi Dolor“).
Bei En el Volga Yo Te Espero wundert man sich, warum der Typ schon in der Volga/Wolga auf seine Olga wartet, aber vielleicht ist es ja heiß und sie kommt eh gleich und dann planschen die beiden und haben viel Spaß miteinander. Aber nein, „wenn sie nicht kommt, sterbe ich“ („si no vienes Olga, muero“) und er ist ihr „Gefangener“ („prisionero estoy“). Und schon ist die gute Stimmung wieder beim Teufel …
Bei Llorar por una Mujer hat man das Geheule zwar schon im Titel, aber die Musik bzw. die Interpretation ist derart gut gelaunt und schwungvoll, dass meine Version immer „Bailar con una Mujer“ heißt. Also nix da mit „sufrir y llorar como niños / leiden und weinen wie Kinder“, sondern „reír y bailar como niños / lachen und tanzen wie Kinder“.
Diese Diskrepanz zwischen Musik und Text/Inhalt gibt es natürlich auch bei Non-Tango Stücken. Bei Una Noche Mas denkt man aufgrund der wunderbaren Musik an etwas wie „Ach Geliebter, bleib doch noch eine weitere Nacht, bevor du wieder weg musst.“ Stattdessen: „Ich verfluche dich, sodass du nicht imstande sein wirst zu weinen / So dass dein Herz sich in Stein verwandelt / So dass deine Seele ihre Heiterkeit verliert, / Während mein Körper altert“ (Quelle). Und bei Madame Geneva’s denkt man auch eher an ein Liebeslied, in Wirklichkeit geht es um Hinrichtungen.
GöttinSeiDank gibt es aber auch ein paar Ausnahmen. Eine meiner Lieblings-Milongas ist Ella Es Asi und da heißt es doch tatsächlich: „Lebendig wie das Licht, / Schön wie eine Blume, / Voller Güte / Und Offenheit. / Ihr Gesang ist eine Geige, / […] / Und eine Drossel ihre Stimme: So ist sie …“ Na also, geht doch!
Falls ich jetzt dein Interesse an Tango-Texten geweckt habe, hier ein Tipp, wie man schnell herausfindet, worum es in einem Lied geht. Als erstes suchst bei The Poetry of the Tango. Falls du da nicht fündig wirst, googelst du nach „[Titel] lyrics“ bzw. „[Titel] letra“. Dann markierst und kopierst du den spanischen Original-Text und fügst ihn bei Deepl ein. Falls der Text wirklich in (Hoch-)Spanisch ist, ist die Übersetzung meistens gut. Falls er allerdings im Gaunerjargon Lunfardo geschrieben ist, kommt häufig Quatsch raus.
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