Eines von Gerhard Riedls Dauerthemen ist die Behauptung, man könne bzw. solle zu Piazzollas Musik tanzen, denn er habe schließlich nie gesagt, man solle es nicht tun. So auch in seinem neuesten Beitrag:
Die Falschbehauptungen hinsichtlich Piazzollas Äußerungen sind eben nicht auszurotten. Der Komponist hat nie gebeten, nicht zu seiner Musik zu tanzen. Er hat allerdings ab zirka 1955 nicht mehr auf Tanzveranstaltungen gespielt. Ich habe das mehrfach erklärt – anderslautende Zitate darf man mir gerne vorlegen – ich fürchte aber, man findet keine!
Piazzolla habe „nie gebeten, nicht zu seiner Musik zu tanzen“? Diese Behauptung ist schlichtweg falsch. Im sog. „Decalogue“, eine Art musikalisches Manifest für sein Octeto Buenos Aires (das Piazzolla mit großer Wahrscheinlichkeit selbst verfasst hat), heißt es bei Punkt 7:
Since the ensemble is only to be listened to by the public, it will not play at dances.
Quelle
Das Verb to be to bedeutet hier sollen (vgl. hier c), d.h. die Öffentlichkeit (= das Publikum) SOLL nur zuhören. Das ist weit mehr als nur eine „Bitte“, nämlich eine klare Feststellung.
Eine weitere Quelle sind die Erinnerungen von Elsa Bragato. Sie erinnert sich an Unterhaltungen zwischen Piazzolla und ihrem Vater José:
I remember as if it were today that Astor and my father talked about «new tango» and the «reaction» that it would arise, or that it had already sprung up. […] When the possibility of the Octeto Buenos Aires came, nobody talked, I mean at least neither Astor nor my father, of «killing danced tango», in spite of the fact they disliked it. They talked, instead, of creating a «tango to be listened to, of making something avant-garde, different», as counterpart to tango for dancing. […] If we analyze it at a distance, neither Astor nor the musicians who followed him in his „craze“ of the Octeto Buenos Aires were mistaken; today co-exist the tango for dancing as well as the chamber tango, or tango simply for listening.
Quelle
Die maßgebliche Biographie Le Grand Tango: The Life and Music of Astor Piazzolla beschreibt den Konflikt zwischen ihm und Anibal Troilo:
Yet Troilo […] was never really reconciled to Piazzolla’s adventurousness. His own much reiterated preference was for „danceable“ music. Piazzolla wanted to create music that appealed to the ear rather than the feet. […] On yet another occasion, Piazzolla pointed at the people clustered near the orchestra and asked Troilo: „See how people want to listen to the music?“ […] The enthusiastic dance public of Buenos Aires wanted its bands to be dance bands; Piazzolla wanted his orchestra to be listened to.
S. 33–34, 40
Und auf der Basis des selben Buches heißt es über die 60er Jahre:
Tango zum Zuhören
In den 60er Jahren hatte sich die politische und wirtschaftliche Situation in Argentinien sehr verändert: Zu den gesellschaftlichen Veränderungen zählte auch, dass die plüschigen Kabaretts allmählich kleineren Clubs Platz machten, in denen nicht mehr getanzt, sondern Musik gehört wurde, Jazz und Folk, aber auch Tango. Man nannte sie Tanguerías.
Meistens traf man hier Intellektuelle und ein Publikum aus der Künstlerszene. Das war genau das Publikum, das sich Piazzolla für seinen „Tango nuevo“ wünschte.
Quelle
Aber Riedl hat ja „mehrfach erklärt“, dass über Piazzollas Musik und seine Tanzbarkeit lauter „Falschbehauptungen“ im Umlauf sind. Schauen wir deshalb mal nach, was er da „erklärt“.
In Milonga in der Nicht-Tanzbar listet er eine ganze Reihe von Quellen auf, die alle darin übereinstimmen, dass man zu Piazzolla (zumindest im herkömmlichen Sinne) nicht tanzen kann, darunter befinden sich auch renommierte Piazzolla-Interpreten, wie das Cuarteto Rotterdam. Von solchen international renommierten Musikern sollte man eigentlich annehmen, dass sie wissen, ob das, was sie da spielen, zum Tanzen geeignet ist. Aber unser tanzender (Ex-) Biologie- und Chemielehrer fegt alle Aussagen mit atemberaubender Ignoranz und Selbstgefälligkeit vom Tisch: Alles falsch, denn niemand liefere „Zitate“ und es „fehle durchgehend eine Begründung“. Auf die Idee, dass die „Begründung“ bereits in der Beschreibung bzw. Analyse der Musik (wie z.B. auch bei den Fachleuten von BR Klassik) liegen könnte, kommt er gar nicht:
Die Tangokompositionen Piazzollas sind nicht tanzbar, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Sie fordern vielmehr zum konzentrierten Hören auf. Piazzolla entwickelte den Tango weiter und assimilierte für diesen Zweck höchst unterschiedliche Einflüsse. So hört man in den Stücken von Piazzolla sowohl Elemente der Klassik als auch der argentinischen Folklore, der Neuen Musik und Ingredienzen des Jazz. […]
Seine harmonische Sprache weitete er aus mit Mitteln des Jazz sowie nach dem Vorbild etwa von Igor Strawinsky und Bela Bartók, deren Harmonik sich an Skalen eigener Prägung orientierte. Piazzolla hat zudem die Spieltechnik der Instrumente im Tango ausgeweitet durch Anleihen aus der Neuen Musik: Bogenschläge auf der Violine, stechende Streicherakzente in hoher Lage, Glissandi des gesamten Ensembles, virtuose Bandoneonläufe und eine Anreicherung der Besetzung durch eine Vielzahl von Perkussionsinstrumenten bestimmen seine Musik.
Quelle
Nachdem Riedl den verlinkten Quellen / Autoren vorwirft, dass sie keine Zitate und Begründungen liefern, erwartet man jetzt natürlich von ihm eine mit Zitaten unterfütterte Begründung, warum alle falsch liegen. Doch leider komplette Fehlanzeige: Nach ein bisschen „Satire“ und lahmen Wortspielen („Globus – Globuli“) ist der Artikel zu Ende. Man fragt sich verblüfft, was genau Riedl eigentlich behauptet bzw. beweisen möchte. Vielleicht meint er ja einfach nur Folgendes:
„Ich, Gerhard Riedl, widerlege alle Musikexperten, ‑wissenschaftler und ‑historiker, die behaupten, man könne zu Piazzolla (zumindest im herkömmlichen Sinne) nicht tanzen, ganz einfach indem ich zu seiner Musik tanze. Dabei lasse ich mir von niemand vorschreiben, was tanzen eigentlich bedeutet und kümmere mich auch nicht um konventionelle Definitionen von Tanz. Mir ist auch völlig egal, ob andere Leute das als dilettantisches Herumhampeln betrachten. Ich tanze so, wie ich die Musik empfinde und damit beweise ich, dass man zu Piazzolla tanzen kann und alle angeblichen Experten keine Ahnung haben.“
Vielleicht behauptet er aber doch, dass entgegen dem allgemeinen Konsens Piazzolla nichts dagegen hatte (oder sogar wollte), dass die Leute zu seiner Musik tanzen. In so einem Fall gilt der sog. Sagan Standard: Ungewöhnliche Behauptungen erfordern ungewöhnliche (= besonders überzeugende) Beweise. Also Zitate in der Art: „Obwohl ich so komplizierte Musik komponiert habe [Zur Erinnerung: Es geht nicht um „Oblivion“ und „Libertango“!], möchte ich, dass die Leute dazu tanzen“ oder wenigstens: „… können die Leute gerne dazu tanzen.“
Leider liefert Riedl keinen einzigen Beleg, geschweige denn ein Zitat, „erklärt“ also überhaupt nichts. Stattdessen verweist er auf einen Text von Thomas Kröter und behauptet, der würde etwas „erklären“. Kroeter beginnt schon mal mit einer völlig falschen, sinnentstellenden Übersetzung des 7. „Gebots“ („Wenn das Ensemble in der Öffentlichkeit zu hören ist …“). Später zitiert er immerhin Piazzollas Witwe („Astor sagte eines Tages zu mir […]“), leider ohne Seitenzahl, so dass man das Zitat nicht im Kontext überprüfen kann. Kroeter gibt dann aber gleich im nächsten Absatz zu, dass sich diese Aussage auf professionellen Bühnentanz bezieht und nicht auf normale Hobby-Tänzer. Gleich im nächsten Satz behauptet er dann aber, dass Piazzollas Musik „selbstverständlich“ auch für die „Pista der Amateure zu kapern“ sei. Wer sagt das? Piazzolla? Dann sollte es als Zitat gekennzeichnet sein. Oder doch eher Kröter? Dann sollte er diese Aussage als private Meinung kenntlich machen. Und überhaupt: Weil man ein professionelles Ballet zu Stravinskys „Feuervogel“ sehen kann, sollten „selbstverständlich“ auch Hobby-Tänzer zu dieser Musik tanzen? Was für ein Quatsch!
Ansonsten „erklärt“, belegt bzw. beweist auch Kröter absolut nichts. Er versteigt sich lediglich zu der nun wirklich bizarren Behauptung, wir seien es Piazzolla „sogar schuldig, uns seine Musik als Tänzer zu erarbeiten“, weil wir ohne ihn die Musik der Epoca d’Oro nicht kennen würden. Piazzolla wollte mit dem „alten“ Tango absolut nichts zu tun haben, fand ihn tödlich langweilig und wie eine „Sekte“, bei der es keine „Abweichler“ geben darf (Quelle). Von diesen Fanatikern wurde er sogar körperlich bedroht und beschimpft. Und ausgerechnet ihm sollen wir dafür danken, dass wir heute zu „knarzenden [EdO] Konserven“ tanzen? Piazzolla würde sich im Grab umdrehen!
In Piazzolla für Laien referiert Riedl den Inhalt von Astor Piazzolla. A Memoir. Da heißt es einmal: „Das Wichtigste für ihn ist, dass seine Musik umgesetzt wird, so wie er sie erdacht und geschrieben hat.“ Was bedeutet in diesem Zusammenhang „umgesetzt“? Ist das ein wörtliches oder sinngemäßes Zitat aus dem Buch? Falls ja, hätte man gerne eine Seitenangabe. Danach geht es allerdings wieder um „professionelle“ Ballet- und Tango-Shows , die beide mit Hobby-Tango überhaupt nichts zu tun haben. „Auch Laien dürfen und sollten sich der Herausforderung immer wieder stellen“ klingt (wie bei Kröter), als ob Piazzolla das irgendwann so gesagt hätte. Falls dem so ist, bräuchte es ein Zitat oder zumindest eine Seitenangabe. Ansonsten ist es Riedls private Meinung und die sollte er kenntlich machen: „Auch Laien dürfen und sollten sich meiner Meinung nach …“
Fazit: Auch in keinem anderen Artikel habe ich irgendeinen auch nur ansatzweise brauchbaren Hinweis geschweige denn ein überzeugendes Zitat für Riedls Vorwurf der „Falschbehauptungen“ gefunden. Er selbst operiert mit falschen Behauptungen („hat nie gebeten“) und hat nie etwas „erklärt“ bzw. belegt oder gar bewiesen, sondern suggeriert lediglich permanent, indem er historische Fakten und eigene Meinung nicht sauber trennt.
In einem früheren Beitrag habe ich mich bereits mit musikalischen Aspekten von Piazzollas (Un)Tanzbarkeit beschäftigt.
Gerhard Riedl
Allmählich gerate ich in die Gefahr des Größenwahnsinns, weil sie mir nun einen um den anderen Artikel widmen. Irgendwie scheint es doch interessant zu sein, was ich so schreibe…
Na gut – ich werde ihnen darauf antworten. Allerdings nicht mit einer Zitaten-Schlacht oder Seitenzahl-Debatte. Das geriete allmählich in den Bereich von Nachbarschafts-Prozessen, wo man sich wegen überhängender Kirschbaum-Zweige fetzt.
Helge Schütt
Eine kleine Anekdote zum Thema: Am vorletzten Freitag war ich im Tango Salon in Wiesbaden. Dort tritt jedes Mal ein Orchester auf. Dieses Mal haben die drei Musiker nicht nur traditionelle Tangos gespielt, sondern tatsächlich auch den Libertango. Als nach einer ewig langen improvisierten Einleitung klar wurde, dass Piazzolla kommt, hat ungefähr ein Drittel der Tänzer die Tanzfläche verlassen. Aber die übrigen zwei Drittel haben weiter getanzt.
Nach dem Libertango kamen die anderen auch sofort wieder zurück aufs Parkett. Es ist also kein bleibender Schaden entstanden.
Insofern frage ich mich, was genau die Intention deines Artikels ist. Willst du tatsächlich die Leute, die auch zu Piazzolla tanzen möchten, vom Tanzen abhalten? Warum?
Gerhard Riedl
Na, was wohl? Er will Recht haben. Man sollte es ihm lassen.
Astor
> Er will Recht haben.
Genau, darum geht’s. Haben Sie recht, wenn Sie ständig behaupten, Piazzolla „hat nie gebeten, nicht zu seiner Musik zu tanzen“ oder hat Lüders recht, wenn er anhand mehrerer Zitate bzw. Quellen nachweist, dass Piazzolla wollte, dass die Leute zuhören (und nicht tanzen). Da Sie auch in Ihrer (erbärmlichen) „Antwort“ keine einziges Zitat (bzw. keine einzige Quelle) anführen, die Ihre Behauptung stützen würde, ist die Angelegenheit entschieden. Eine angemessene Reaktion wäre das Eingeständnis, dass Sie sich halt all die Jahre geirrt haben. Wäre ja nicht weiter schlimm, denn „es irrt der Mensch so lang er strebt“. Aber auf so ein Eingeständnis wird man bei Ihnen vergebens warten, stattdessen schwurbeln Sie lieber über „große Weltpolitik“ und „Faustball-Sport“.
Klaus Wendel
Ausgerechnet Teflon-Riedl behauptet, dass Jochen Lüders (nur) Recht haben möchte? Ich halte mir den Bauch vor Lachen!
Ich nenne Herrn Riedl nur noch den Teflon-Gerd, weil er jede Kritik und jeder inhaltliche Widerlegung an sich abperlen lässt. Oder hat auf seinem Blog jemals irgendjemand ein Zugeständnis von ihm gelesen? Wenn ja, bitte hier zitieren Herr Riedl!
Aber der Gipfel ist wohl, dass man beim Kommentieren und bei Diskussionen auf seinem Blog auf seinen Wunsch hin immer Sachlichkeit und Quellen heranziehen soll. Aber wenn man sie, wie jetzt bei Jochens Artikel, liefert, ist es ihm plötzlich zu viel und zieht sich aus der Diskussion „wir machen keine Zitatenschlacht“. Er sucht aber bei all seinen Artikeln als Referenz seine eigenen Zitate per Link heraus (bei seinem letzten Artikel „ER HAT DAS SCHLIMME WORT GESAGT“ da waren es alleine 26! Dann war wohl dieser Artikel keine Zitatenschlacht? Dass er seine Antwort hier und diesen Artikel fast zeitgleich veröffentlicht und sich dabei selbst ins Knie schießt, ist wohl Ironie des Schicksals. )
Außerdem unterstellt er anderen Korinthenkackerei oder kontert mit Strohmann-Argumenten oder lehrerhaften Rechtschreibkorrekturen , die vom Thema abweichen. Uralte Riedl-Taktik. Manchen fällt das nicht auf, aber vielen schon. Deshalb lohnt es sich auch garnicht ihm Quellen zu liefern, weil dann sowas passiert wie jetzt wieder: „…das geriete allmählich in den Bereich von Nachbarschafts-Prozessen…“. Während er faktenfrei Dinge behauptet, also Meinungen, werden diese, je nach Gutdünken, wenn er widerlegt wird, auch nur als Meinung deklariert oder als Fakten, um bloß nicht festgenagelt zu werden. Man findet in seinen Artikeln keinen Hinweis darauf, was nun Meinung oder Fakten sein sollen. Zusätzlich legt er Aussagen auch noch zu seinen Gunsten aus, damit sie seinem Meinungsbild entsprechen, wie bei Piazzolla. Darauf hat Jochen hingewiesen und das ist auch die Hauptaussage seines Beitrages. Nichts anderes! Es war keine Aufforderung Piazzolla zu verbieten. Fast alle Kommentare von Riedl und Schütt darauf sind nur Nebelkerzen, Ja, auch von Dir, Helge! Von Dir hätte ich mehr erwartet!)
Was auch übrigens zur Zeit politisch oft gemacht wird, wenn jemand etwas kritisiert: „Die wollen uns das Schnitzel und das Heizen verbieten“ (Weidel, Aiwanger und Söder weinen auch ständig darüber und haben damit viele Stimmen geholt.)
Und dass man sich oft in einigen Dingen einig sei, bedeutet ja nicht, dass man ALLES von Ihnen schlucken muss, Herr Riedl
Jochen Lüders
> Insofern frage ich mich, was genau die Intention deines Artikels ist.
Ich zweifele (nicht zum ersten Mal) an deiner Lesekompetenz. Machen nicht die Überschrift und die ersten drei Absatz meine Intention klar? Es geht ausschließlich um die Frage, ob Riedl Recht hat, wenn er behauptet, dass Piazzolla „nie gebeten [hat], nicht zu seiner Musik zu tanzen.“ Und die Antwort ist: Nein, er hat NICHT recht, denn er kann (vgl. seine erbärmliche „Antwort“ unten), KEINE EINZIGE Quelle (bzw. kein einziges Zitat) angeben, dass seine Behauptung stützen würde, während ich eine ganze Reihe von Quellen/Zitaten anführe, die belegen, dass Piazzolla wollte, dass die Leute ZUHÖREN (und nicht tanzen).
> Willst du tatsächlich die Leute […] vom Tanzen abhalten?
Mir ist schnurzpiepegal, ob die Leute zu seiner Musik „tanzen“. Jeder darf nach Herzenslust rummurksen und sich blamieren. Man sollte halt nur nicht glauben, bzw. öffentlich verkünden, dass Piazzolla das wollte.
> Aber die übrigen zwei Drittel haben weiter getanzt.
Und wie viele von denen haben wenigstens ansatzweise mal das 3–3‑2 Muster getanzt? (vgl. https://jochenlueders.de/?p=13894)
Helge Schütt
OK, du hast also Recht und Gerhard hat Unrecht. Und nun? Meine Frage war: Welche Schlussfolgerungen sollen wir anderen Tänzer aus dieser Erkenntnis ziehen? Sollen wir aufhören, zu Piazzolla zu tanzen und nur noch zuhören? Und da erlaube ich mir einen Hinweis darauf, wie die Abstimmung mit den Füßen, die ich vor ein paar Wochen live erlebt habe, ausgefallen ist. Wie sind denn deine Erfahrungen, wenn auf einer Milonga Piazzolla aufgelegt wird?
Natürlich hast Du auch Recht damit, dass wahrscheinlich niemand den Libertango im 3–3‑2 Rhythmus getanzt hat. (Ich konnte das nicht so genau beobachten, weil ich mich auf meinen eigenen Tanz konzentrieren musste.) Nur sehr wenige Tänzer dürften sich so intensiv mit dem Stück auseinander gesetzt haben wie du.
Aber das ist im Tango doch generell so. Die allerwenigsten Tänzer dürften den Anspruch an sich haben, mit professionellen Tänzern und Musikern mithalten zu können. Tango ist (und war nach meinem Verständnis auch schon immer) Breitensport, der auf der Straße getanzt wird und nicht im großherzoglichen Ballsaal.
Jochen Lüders
> Sollen wir aufhören, zu Piazzolla zu tanzen und nur noch zuhören?
Nein, natürlich nicht!
Als erstes müssen wir uns darüber einig sein, über welchen Piazzolla wir überhaupt sprechen. Wenn ich eine Piazzolla Tanda auflege, dann spiele ich immer „Tango Apasionado“, „Libertango“ und „Oblivion“. Auf einer Milonga habe ich , wenn getanzt werden sollte, auch noch nie ein anderes Stück gehört (wenn es einen konzertanten Teil gab / gibt, kann schon auch mal was anderes kommen). Wir sprechen also NICHT von „Escualo“, „Four, for Tango“ usw.
Der erste Schritt wäre, einfach mal ein bisschen bescheidener zu werden. Wenn also z.B. Carsten hier in seinem Kommentar behauptet, selbst als „nicht besonders erfahrener Tänzer“ (noch dazu in enger Milonguero-Umarmung) „gar kein Problem“ mit Piazzollas Musik zu haben, dann zeugt das von einer grotesken Selbstüberschätzung bzw. von kompletter Ahnungslosigkeit. Und anstatt davon zu schwurbeln, dass man Piazzolla in einem „künsterlisch-kreativen Prozess interpretiert“, sollte man halt ein bisschen bescheidener sagen, dass man versucht (!) der Musik gerecht zu werden und „musikalisch“ zu tanzen.
Was heißt das jetzt genau? Nehmen wir „Libertango“. Wenn man halbwegs musikalisch ist, sollte man es ja eigentlich selber hören, falls nicht, hört bzw. liest man irgendwann mal, dass das Stück anders klingt als normale 08/15 Tangos. Wenn man jetzt ein bisschen googelt, stößt man auf meinen Artikel: https://jochenlueders.de/?p=13894. Da finden sich jetzt Erklärungen des 3–3‑2 Rhythmus und verschiedene Versionen, bei denen man das Muster viel besser hört als im Original. Abhängig von der eigenen Musikalität muss man jetzt das Stück so oft anhören, bis man das Muster wirklich hört (das kann dauern). Als nächstes sollte man erst mal alleine versuchen, sich zu diesem Rhythmus zu bewegen (vorwärts und rückwärts gehen, drehen usw.). Als nächstes probiert man das mit seinem Partner. Wenn man einen wirklich guten Lehrer hat, kann man auch zu dem sagen, dass man den 3–3‑2 Rhyhtmus von „Libertango“ lernen möchte. Am Anfang ist nur Gehen schon schwer genug, irgendwann kann man dann auch versuchen, Kreuz, Ochos etc. in diesem Rhythmus zu tanzen.
> Wie sind denn deine Erfahrungen, wenn auf einer Milonga Piazzolla aufgelegt wird?
Genau so, wie du es geschildert hast, ungefähr ein Drittel flüchtet.
> Tango ist […] Breitensport, der auf der Straße getanzt wird
„auf der Straße“?
Was du wahrscheinlich mit „Breitensport“ meinst, nenne ich „Hobby-Tänzer“.
Ich duelliere mich zwar gerne mit Riedl, wir sind uns aber auch in vielen Punkten absolut einig. Zum Beispiel darin, dass Tango (zumindest in München) früher viel abwechslungsreicher war und viel mehr Spaß gemacht hat. Und der „Breitensport“ schaut heutzutage immer häufiger so aus: https://www.youtube.com/watch?v=iwRH_Cmwn5c Das ist für mich Tanztee im Altersheim bzw. eine „Gerontolonga“ (Riedl). Heißt „Breitensport“ jetzt sich zu sterbenslangweiliger Musik an der Stelle zu drehen? Was muss ich denn noch können, um so zu „tanzen“? Dann gibt es natürlich auch keinerlei Motivation mehr, sich mit komplizierterer Musik zu befassen und mal was neues zu lernen.
Carsten
Mich interessiert eigentlich wenig, was Piazzolla oder andere Musikexperten zur Tanzbarkeit seiner Musik gesagt haben, sagen oder sagen werden.
Ich (Mitte 50) tanze jetzt seit etwas mehr als 8 Jahren Tango, habe ausschließlich bei klassischen Lehrer:inne:n Unterricht (darunter ein paar Jahre bei Ricardo el Holandés)) genommen und liebe den Tango der Epoca del Oro. Ich bin also kein Experte und nicht einmal ein besonders erfahrener Tänzer (und habe vor Tango auch keinen anderen Paartanz praktiziert).
Aber ich tanze auch sehr, sehr gern zu den Stücken von Astor Pizzolla (in seinen eigenen Versionen ebenso wie in diversen Interpretationen) und enpfinde viele von Ihnen als sehr gut tanzbar (andere sind zugegeben schwieriger zu tanzen, aber sicher nicht untanzbar). Manche Stücke von Pugliese zum Beispiel finde ich schwieriger tänzerisch gerecht zu werden, als den meisten Stücken von Piazzolla. Ich stelle daher die Behauptung auf: Wer wirklich gut Tango tanzen kann (im Sinne von Improvisationstanz, nicht als automatisiertes Abspulen von abgeschauten Figuren), sollte mit der Musik von Piazzolla gar kein Problem haben. Auch, bzw. gerade in der Milonguero-Umarmung. Über die Tanzbarkeit von Fank Zappas „Be-Bop Tango“ können wir gern diskutieren, aber doch nicht über Pizzollas Musik.
Ansonsten sei mir in meiner Überheblichkeit noch erlaubt, hinzuzufügen: Ich finde dieses ganze „Riedl/Lüders/Kröter/Pizzolla-hat gesagt-Spiel“ ausgesprochen kindisch. Leute euch gehts zu gut, wenn das die für euch relevante Erste-Welt-Probleme sind, die es wert sind, drüber zu bloggen.
Gerhard Riedl
Dann darf ich in meiner Bescheidenheit darauf hinweisen: Ich habe mir die „Bonsai-Sparte“ Tango herausgesucht, weil ich nicht so vermessen bin zu glauben, dass ich zur „großen Weltpolitik“ täglich besonders Gescheites zu sagen habe, was nicht von vielen Profi-Journalisten stündlich mit mehr Sachverstand publiziert wird.
Und ich mag nicht täglich auf Facebook irgendwelches geistiges Eigentum anderer verlinken, das ich auf die Schnelle gar nicht beurteilen kann.
Ich blogge weitgehend zum Tango, so wie andere halt übers Briefmarkensammeln oder den Faustball-Sport schreiben. Dennoch glaube ich, dass sich in dieser kleinen Welt so manches widerspiegelt, was auch größere und wichtigere Themen kennzeichnet.
Wer sich auf meinem Blog unter „Labels“ umsieht, entdeckt jedoch auch eine Menge Artikel zu anderen Themenbereichen – ebenso auf meinen anderen beiden Blogs. Leider werden die aber von den meisten Tangoleuten nur wenig beachtet.
Jochen Lüders
> Mich interessiert eigentlich wenig […] oder sagen werden.
Warum liest du dann den Beitrag überhaupt und kommentierst auch noch?
Mich interessiert irgendein schräger indischer Guru ja auch nicht (http://blog.neunmalsechs.de/2019/07/09/anti-paedagogik-vom-guru). Also lese ich deinen Beitrag nicht und kommentiere nicht. Allerdings besitze ich dann auch nicht die Unverschämtheit, deinen Beitrag als „ausgesprochen kindisch“ zu diffamieren und dir vorzuwerfen, dass es dir „wohl zu gut geht“, weil du über so ein Thema schreibst.
> Über die Tanzbarkeit [.…] aber doch nicht über Pizzollas Musik.
Du behauptest also im Ernst, dass du als „nicht besonders erfahrener Tänzer“ (noch dazu in enger Milonguero-Umarmung) „gar kein Problem“ hast, z.B. zu „Escualo“ zu tanzen (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=ni4azlNaPOM)? Tut mir leid, aber das ist einfach nur lächerlich. Aber ich ändere gerne meine Meinung: Schick mir ein Video, in dem du die ersten 20 Sekunden diese irre Tempo und den anspruchsvollen Rhythmus tanzt, und ich werde einräumen, dass ich mich in deinen Tanzkünsten geirrt habe.
Gerhard Riedl
Klaus Wendel schreibt auf seiner Facebook-Seite zum obigen Artikel, den er verlinkt:
„Es geht in diesem Artikel wohl nicht darum, ob hier jemand den Menschen verbieten will im privaten Umfeld dazu zu tanzen, sondern um Riedls unbewiesene Aussage, dass Piazzolla gesagt haben soll, seine Musik sei zum Tanzen komponiert worden oder man solle dazu tanzen.“
Ich weiß nicht, warum Wendel es nötig hat, mit Falschbehauptungen zu agieren. Es gibt kein Zitat von mir, in dem ich solche Behauptungen aufstelle.