Der folgende Beitrag richtet sich vor allem an Frauen und nochmal besonders an die, die alleine Tango lernen wollen.
Bei wohl keinem anderen Paartanz klaffen das über Bilder und Filme vermittelte Image und die trübe Realität derart weit auseinander wie beim Tango.
Wenn man Leute fragt, was sie mit „argentinischem Tango“ assoziieren bzw. warum sie den Tanz lernen wollen, bekommt man meistens drei Antworten.
Die erste Assoziation geht in Richtung knisternde Erotik, Leidenschaft, hochgeschlitzte Kleider, schmachtende Blicke usw. wie z.B. bei Antonio Banderas oder in dieser Szene.
Die zweithäufigste Assoziation ist innige Umarmung, Nähe, Wärme, Frauen mit geschlossenen Augen und seligem Gesichtsausdruck.
Die dritte Assoziation geht in Richtung dynamische Musik mit dem typischen Tango-Rhythmus wie z.B. bei La Cumparsita, El Choclo und Paciencia und entsprechend spektakulären Schritten, Posen und Figuren. Ein bekanntes Beispiel für diesen Aspekt des Tangos ist diese Szene aus „Tango Lesson“.
Die Realität auf vielen Milongas schaut hingegen so aus:
In Hinblick auf Lebens- bzw. Bewegungsfreude ähnelt das Ganze eher einem Tanztee im Altersheim. Zu einer oft langweiligen Musik wird ein extrem reduziertes Repertoire an Schritten bzw. Figuren „getanzt“. Eigentlich ist Tango „Gehen in der Umarmung“. Von Gehen, also einer Vorwärtsbewegung, kann aber oft keine Rede mehr sein. Viele Paare kommen keinen einzigen Meter voran, sondern „tanzen“ (= drehen) auf der Stelle.
Mein wichtigster Rat ist deshalb: Schau dir erstmal zwei bis drei Milongas an (vielleicht kennst du ja jemand, der dich mitnimmt) und stelle dir dabei die folgenden Fragen:
Gefällt dir die Musik bzw. findest du sie zumindest erträglich? Auf praktisch allen „normalen“ (= „traditionellen“) Tango-Tanzveranstaltungen („Milongas“) werden ausschließlich Originalaufnahmen aus den 1930ern und 40ern (hier ein Beispiel) gespielt. Wenn du (so wie ich) diesen immer leicht jauligen Sound, das Rauschen, Knistern und Knacken, den oft schmalzigen bzw. quäkenden Gesang und das schleppende Tempo nicht magst, dann ist Tango eher nichts für dich.
Für Frauen gibt es allerdings auch die Möglichkeit die Musik „auszublenden“, gar nicht richtig hinzuhören, die Musik als „Hintergrundgeräusch“ an sich vorbei ziehen zu lassen und sich ausschließlich auf den Tanz / die Bewegung zu konzentrieren. Ob dir diese Art zu tanzen gefällt, musst du selber entscheiden.
Es gibt auch Milongas, auf denen moderne Musik gespielt wird, sog. „Neolongas“. Auf denen kann es dir allerdings passieren, dass den ganzen Abend lang kein einziger „normaler“ Tango gespielt wird (siehe dazu diesen Beitrag).
Gefallen dir die Leute? Aufgrund der historischen Musik ist Tango vor allem etwas für ältere Leute. Das Durchschnittsalter auf Milongas ist normalerweise 50+, junge Leute sind die Ausnahme. Vor allem wenn du eine jüngere Frau bist, sollte dir klar sein, dass es nur sehr wenige feurige „Latin Lovers“ gibt und stattdessen viel mehr betagte Herren, die eher behäbig durch die Gegend schlurfen.
Gefällt dir, wie getanzt wird? Im normalen Tango-Unterricht wird „musikalisches“ Tanzen überhaupt nicht thematisiert, d.h. man lernt nicht zur Musik zu tanzen. Von Notenwerten bzw. verschiedenen Tempi, Phrasen und Melodiebögen haben die meisten TänzerInnen noch nie etwas gehört. Meistens wird irgendwas geübt und im Hintergrund dudelt irgendeine Musik. Die Folge ist, dass die wenigsten Männer passend zur Musik tanzen. Wenn du musikalisch bist (und ein Instrument spielst), bei diesem Stück auf Anhieb den „Puls“ hörst und automatisch anfängst dich dazu zu bewegen, wird Tango immer wieder frustrierend sein, weil du es immer wieder mit völlig unmusikalischen Männern zu tun hast, die ständig neben der Musik sind.
Bei vielen Männern ist das tänzerische Können bescheiden. Viele haben (vielleicht von einem Tanzkurs in ihrer Jugend abgesehen) ihr ganzes Leben lang nicht getanzt und beschließend irgendwann in fortgeschrittenem Alter mit Tango anzufangen. Im Gegensatz zu Frauen, die oft ihr ganzes Leben lang irgendwas mit Musik gemacht haben (wie z.B. Aerobic oder Zumba) und aufgrund von Yoga, Pilates, Tai Chi etc. ein gutes Körpergefühl haben, haben Männer häufig ihren Körper vernachlässigt, haben eine schlechte Haltung und haben große Probleme selbst einfache Bewegungen bzw. Schritte zu lernen.
Deshalb mein Rat, wenn du gute Voraussetzungen (wie Körpergefühl, Gleichgewicht und Drehtechnik) mitbringst: Vergeude deine Zeit und dein Geld nicht im normalen Gruppenunterricht! Beim Tango geht es vor allem ums Fühlen und Spüren. Wenn du mit einem Grobmotoriker rummurksen musst, kann das nichts werden, denn keine® von euch beiden weiß, wie es sich eigentlich anfühlen sollte. Außerdem vergeudest du sehr viel Zeit mit Sachen, die du schon längst kannst (wie z.B. Wechselschritte), aber der Mann eben noch nicht. Mit einem guten Lehrer lernst du viel schneller und kannst viel früher auf Milongas gehen.
Wie ist das Verhältnis von Männern und Frauen? Auf den meisten Milongas herrscht Frauenüberschuss, so dass man als Anfängerin oft den halben Abend nur rumsitzt und nicht aufgefordert wird. Hinzukommt eine oft ausgeprägte Cliquenwirtschaft, d.h. die Leute tanzen nur innerhalb ihrer Clique und ignorieren Neulinge. Beides ist vor allem für ältere Frauen oft extrem frustrierend (siehe auch dieses Interview). Sprich deshalb auf der Milonga andere Frauen an und frag sie nach ihren Erfahrungen. Wie lange hat es gedauert, bis sie aufgefordert wurden? Fühlt man sich als Anfängerin willkommen oder wird man komplett ignoriert? Wie verhalten sich die Männer? Zeigen sie Respekt und akzeptieren sie, wenn eine Frau nicht eng tanzen möchte? Oder pressen sie die Frau an sich, grabschen und / oder „belehren“ sie auf der Tanzfläche?
Gefällt dir die Atmosphäre? Leider halten sich die meisten Leute an den bekannten Spruch: „Tango ist ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann.“ Entsprechend ernst, getragen bzw. lätschert ist oft die Stimmung. So richtig Spaß haben die wenigsten, gelacht wird nur selten.
Vor allem wenn du Feministin bist, sollte dir klar sein, dass es beim Tango zum Teil anachronistische Rituale gibt. So ist es zum Beispiel üblich, dass nur der Mann zum Tanzen „auffordert“, die Frau ist zu einer weitgehend passiven Rolle verdammt. Sie kann den Tanz zwar ablehnen, selber aber nicht aktiv auffordern.
Abschließend solltest du auch wissen, dass der Tango für die meisten Leute vor allem eine soziale Funktion hat. Es geht für viele in erster Linie darum, Freunde und Bekannte zu treffen und ein bisschen zu plaudern. Der Tanz selber und vor allem die Musik ist vielen Leute völlig egal. Oft wird (wie in diesem Video) erstmal ausgiebig gequatscht, bis es irgendwann mal mit dem „Tanzen“ losgeht.
All das ändert aber natürlich nichts daran, dass Tango, so wie ich ihn unterrichte und selber tanze, der schönste Paartanz ist. Er ist zum Beispiel nicht so „genormt“ wie Standard/Latein, wo fast alles (Kopfhaltung, Winkel im Ellenbogen etc.) vorgeschrieben ist. Beim Tango tanzt man in einer natürlichen Haltung (vorausgesetzt man lehnt sich nicht gegeneinander) und nicht in so einer affektierten Oberkörperhaltung wie z.B. beim Wiener Walzer. Auch die Bewegungen sind natürlich und nicht so (teilweise lächerlich) übertrieben wie z.B. bei der Rumba und beim Paso Doble.
Beim Tango hat man (im Idealfall) ein echtes „Führen & Folgen“ im Gegensatz zu choreographierten Volkstänzen bzw. festen Figurenfolgen in Standard/Latein, wo die Frau „ihr Ding“ weitgehend „selbständig“ macht (z.B. an einer bestimmten Stelle drehen).
Im Gegensatz zu z.B. Salsa, wo man die ganze Zeit zur immer gleichen flotten Musik tanzt, tanzt man bei meiner Musik das ganze „emotionale Spektrum“ von gefühlvoll / romantisch / „kuschelig“ (wie z.B. Autumn Waltz) bis hin zu fetzig / energiereich / lebensfroh (wie z.B. Gloria).
Und im Gegensatz zu allen anderen Paartänzen, wo man praktisch die ganze Zeit zum immer gleichen „Sound“ tanzt, hat man bei meinem Tango eine fast unbegrenzte Vielfalt an Klängen / Sounds (siehe dazu diesen Beitrag).
Gerhard Riedl
Na, da wildert ja jemand heftig in meinen Themen! Es bleibt mir nur, aus vollem Herzen zuzustimmen.
Michael Pohle
Wohl oder übel – der spitzen Feder von Jochen Lüders und auch Gehard Riedl könnte ich zustimmen.
Natürlich schaudert die Angst in meinem Blute, dass ich von der etablierten Tango-Kommune verflucht und mit ewigen Bann belegt werde, ob des Teilens der kritischen Meinung.
Doch eine Frage hätt’ ich: Habt Sie, Herr Lüders und Sie, Herr Riedel eine Lösung?
Ist die Tango-Szene nicht ein System, geschaffen aus Glaubenssätzen, Annahmen, Sichtweisen – mit anderen Worten: ein sehr stabiles Netzwerk mentaler Modelle?
Was verhindert – aus Ihrer Sicht – die Veränderung?
Wie wollen Sie – z. B. Glaubenssätze – so erschüttern, dass sie von der Tango-Szene aufgegeben werden?
Ich freue nicht auf Ihre Antwort.
Michael Pohle aus Hamburg
Michael Pohle
…die Schlechtschreibprüfung hat wieder zugeschlagen.
Statt
„Ich freue nicht auf Ihre Antwort.“ sollte es im Post heißen:
„Ich freue mich auf Ihre Antwort.“
Michael Pohle aus Hamburg
Gerhard Riedl
Tja, Herr Pohle, da fragen Sie was!
Ich bemühe mich halt auf meinem Blog (seit 10 Jahren) Alternativen aufzuzeigen, zum Beispiel private Milongas mit etwas anderer Musik. Und die haben wir ja auch lange Zeit geliefert – und treffen uns immer noch im kleinen Kreis, um zu interessanterer Musik zu tanzen.
Ich hoffe, meine Anregungen haben auch das eine oder andere Umdenken bewirkt. Allerdings werden solche Konzepte nie mehrheitsfähig werden. Mit simpler Musik und der Botschaft, Tango könne jeder und jede erlernen, erreicht man halt mehr Kunden und Besucher.
Aber wer sagt, dass die Mehrheit stets recht hat?
Jochen Lüders
> Hab[en] Sie […] eine Lösung?
Nein.
> Was verhindert – aus Ihrer Sicht – die Veränderung?
Die meisten sind nach meinem Eindruck mit dem Status Quo doch ganz zufrieden. Nur eine sehr kleine Minderheit will „Veränderung“. Es fängt doch schon damit an, dass den meisten Leuten die Musik völlig egal ist. Nur so ist ja zu erklären, dass oft bis zu einer Minute gequatscht wird (während die Musik schon dudelt), bevor man irgendwann – eher gelangweilt – zu tanzen beginnt. Betrachten wir es positiv: Tango ist ein „niederschwelliges“ Angebot um Freunde und Bekannte zu treffen und ein bisschen Spaß zu haben. Die Musik ist immer die gleiche, das Tanzen ist immer das gleiche – das reicht den meisten Leuten. Gerade für Männer ist es doch wunderbar. Wenn sie nicht gerade unangenehme Grapscher, Quetscher oder labernde Oberlehrer sind, finden sie mit einem Minimum an Können angesichts des üblichen Frauenüberschusses immer Frauen, die dankbar sind, betanzt zu werden. Warum sollten sie irgendwas ändern wollen? Wie in allen anderen Lebensbereichen finden die meisten Leute Veränderung und Lernen mühsam und vermeiden beides nach Kräften.
Rainer Lehmann
Es ist wie auch in Konzerten von Laienorchestern. Oft werden nur nach der Nase des Publikums Stücke ausgewählt. Das verhindert erstens die Weiterentwicklung der Hörgewohnheiten und zweitens die Weiterentwicklung der Orchester selbst. Publikum kann man erziehen und man wird auch mit anderer Musik neues Publikum gewinnen. Im Tango sehe ich das ähnlich. Mit der immer gleichen Musik wird sich das Tanzniveau nur schwer weiterentwickeln. Tanzmuster schleichen sich ein. Man wird als Tänzer nicht gefordert und kann sich somit nicht entsprechend in seiner musikalischen Flexibilität verbessern. Natürlich verliert man auch Publikum, wenn man Gewohntes ändert. Konzertpublikum ist da ähnlich gestrickt wie Tangotänzer. Aber es gibt da auch viele Neugierige und Lernwillige. Die Lösung ist Altes zu pflegen, aber auch Neuem gegenüber aufgeschlossen zu bleiben. Die Verantwortung sehe ich bei den Veranstaltern und den Djs, die alle Mittel haben dies zu beeinflussen.