Dann sollte dir klar sein, dass bei keinem anderen Paartanz das über Bilder und Filme vermittelte Image und die trübe Realität derart weit auseinander klaffen wie beim Tango.
Wenn man Leute fragt, was sie mit „argentinischem Tango“ assoziieren bzw. warum sie den Tanz lernen wollen, bekommt man meistens drei Antworten.
Die erste Assoziation geht fast immer in Richtung knisterende Erotik, Leidenschaft, hochgeschlitzte Kleider, schmachtende Blicke usw. wie z.B. in dieser Szene.
Die zweithäufigste Assoziation geht in Richtung innige Umarmung, Nähe, Wärme, Frauen mit geschlossenen Augen und seligem Gesichtsausdruck.
Die dritte Assoziation geht in Richtung dynamische Musik mit dem typischen Tango-Rhythmus wie z.B. bei La Cumparsita, El Choclo und Paciencia und entsprechend spektakulären Schritten, Posen und Figuren. Ein bekanntes Beispiel für diesen Aspekt des Tangos ist diese Szene aus „Tango Lesson“.
Die Realität auf vielen Milongas schaut hingegen so aus:
In Hinblick auf Lebens- und Bewegungsfreude ähnelt das Ganze eher einem Tanztee im Altersheim, so richtig Spaß hat offenbar niemand. Zu einer oft fürchterlich langweiligen Musik wird ein extrem reduziertes Repertoire an Schritten bzw. Figuren „getanzt“, häufig wird nur gedreht. Das Ganze komplett an der Stelle, die meisten Paare kommen keinen einzigen Meter voran. Was sind die Gründe für diese Misere?
Auf praktisch allen „normalen“ (= „traditionellen“) Tango-Tanzveranstaltungen („Milongas“) werden ausschließlich Originalaufnahmen aus den 1930ern und 40ern (der sog. „goldenen Epoche“) gespielt. Wenn du diesen immer leicht jauligen Sound, das Rauschen, Knistern und Knacken und das schleppende Tempo nicht magst (hier ein Beispiel), dann ist Tango mit großer Wahrscheinlichkeit nichts für dich.
Es gibt auch Milongas, auf denen auch moderne Musik gespielt wird, sog. „Neolongas“. Auf denen kann es dir allerdings passieren, dass den ganzen Abend lang kein einziger „normaler“ Tango gespielt wird (siehe dazu diesen Beitrag).
Aufgrund der historischen Musik ist Tango vor allem etwas für ältere Leute. Das Durchschnittsalter auf Milongas ist normalerweise 50+, junge Leute sind die Ausnahme. Vor allem wenn du eine junge / jüngere Frau bist, sollte dir klar sein, dass es nur sehr wenige feurige „Latin Lover“ Tänzer gibt und stattdessen viel mehr betagte Herren, die behäbig durch die Gegend schlurfen.
Mein wichtigster Rat ist deshalb immer: Schau dir erstmal zwei bis drei Milongas an (vielleicht kennst du ja jemand, der dich mitnimmt), bevor du anfängst Tango zu lernen. Hör dir die Musik an, beobachte die Leute, fühle die Atmosphäre und entscheide dann, ob dir das Ganze überhaupt Spaß machen könnte.
Hinzukommt, dass nur die wenigsten Männer passend zur Musik tanzen. Im normalen Tango-Unterricht wird „musikalisches“ Tanzen überhaupt nicht thematisiert. Von Notenwerten bzw. verschiedenen Tempi, Phrasen und Melodiebögen haben die meisten TänzerInnen noch nie etwas gehört. Meistens wird irgendwas geübt und im Hintergrund dudelt irgendeine Musik, man lernt aber nicht zur Musik zu tanzen. Vor allem wenn du eine Frau bist und z.B. bei diesem Stück auf Anhieb den „Puls“ hörst und automatisch anfängst darauf zu tanzen, wird Tango immer wieder frustrierend sein, weil du es immer wieder mit völlig unmusikalischen Männern zu tun hast, die ständig neben der Musik sind.
Vor allem bei den Männern ist das tänzerische Können oft bescheiden. Viele haben (vielleicht von einem Tanzkurs in ihrer Jugend abgesehen) ihr ganzes Leben lang nicht getanzt und beschließend dann mit Mitte 40 (oder noch später) mit Tango anzufangen. Im Gegensatz zu Frauen, die oft ihr ganzes Leben lang irgendwas getanzt haben (und sei es nur Aerobic oder Zumba) und aufgrund von Yoga, Pilates, Qi Gong etc. ein gutes Körpergefühl haben, haben Männer häufig ihren Körper vernachlässigt, haben eine schlechte Haltung und haben große Probleme selbst einfache Bewegungen bzw. Schritte zu lernen.
Deshalb mein Rat, wenn du eine Frau bist und gute Voraussetzungen (wie Körpergefühl, Gleichgewicht und Drehtechnik) mitbringst: Vergeude deine Zeit und dein Geld nicht im normalen Gruppenunterricht! Beim Tango geht es vor allem ums Fühlen und Spüren. Wenn du mit einem Grobmotoriker rummurksen musst, kann das nichts werden, denn keine® von euch beiden weiß, wie es sich eigentlich anfühlen sollte. Mit einem guten Lehrer lernst du viel schneller und kannst viel früher auf Milongas gehen.
Hinzukommt, dass Männer normalerweise wenig Veranlassung haben besser zu werden. Auf Milongas herrscht meistens Frauenüberschuss, so dass ein Mann (wenn er nicht wirklich grottenschlecht ist) immer eine Frau findet, die froh ist „betanzt“ zu werden. Frauen hingegen konkurrieren miteinander und investieren deshalb oft viel mehr in ihren Tanz, d.h. sie gehen auf Seminare / Workshops, nehmen Einzelstunden und arbeiten an ihrer Technik. Ein häufiges Problem ist auch eine ausgeprägte Cliquenwirtschaft. Beides macht es vor allem älteren Frauen oft schwer zum Tanzen zu kommen (siehe auch dieses Interview).
Vor allem wenn du Feministin bist, sollte dir klar sein, dass du beim Tango (aus deiner Sicht) anachronistischen Ritualen begegnen wirst. So ist es zum Beispiel üblich, dass nur der Mann zum Tanzen „auffordert“, die Frau ist zu einer weitgehend passiven Rolle verdammt. Sie kann den Tanz zwar ablehnen, selber aber nicht aktiv auffordern.
Abschließend solltest du auch wissen, dass der Tango für die meisten Leute vor allem eine soziale Funktion hat. Es geht darum Freund und Bekannte zu treffen und ein bisschen zu plaudern. Der Tanz selber und vor allem die Musik ist den meisten Leute völlig egal. Oft wird (wie in diesem Video) erstmal ausgiebig gequatscht, bis es irgendwann mal (eher gelangweilt) mit dem „Tanzen“ losgeht.
All das ändert aber natürlich nichts daran, dass Tango der schönste Tanz der Welt ist! 😉
Gerhard Riedl
Na, da wildert ja jemand heftig in meinen Themen! Es bleibt mir nur, aus vollem Herzen zuzustimmen.
Michael Pohle
Wohl oder übel – der spitzen Feder von Jochen Lüders und auch Gehard Riedl könnte ich zustimmen.
Natürlich schaudert die Angst in meinem Blute, dass ich von der etablierten Tango-Kommune verflucht und mit ewigen Bann belegt werde, ob des Teilens der kritischen Meinung.
Doch eine Frage hätt’ ich: Habt Sie, Herr Lüders und Sie, Herr Riedel eine Lösung?
Ist die Tango-Szene nicht ein System, geschaffen aus Glaubenssätzen, Annahmen, Sichtweisen – mit anderen Worten: ein sehr stabiles Netzwerk mentaler Modelle?
Was verhindert – aus Ihrer Sicht – die Veränderung?
Wie wollen Sie – z. B. Glaubenssätze – so erschüttern, dass sie von der Tango-Szene aufgegeben werden?
Ich freue nicht auf Ihre Antwort.
Michael Pohle aus Hamburg
Michael Pohle
…die Schlechtschreibprüfung hat wieder zugeschlagen.
Statt
„Ich freue nicht auf Ihre Antwort.“ sollte es im Post heißen:
„Ich freue mich auf Ihre Antwort.“
Michael Pohle aus Hamburg
Gerhard Riedl
Tja, Herr Pohle, da fragen Sie was!
Ich bemühe mich halt auf meinem Blog (seit 10 Jahren) Alternativen aufzuzeigen, zum Beispiel private Milongas mit etwas anderer Musik. Und die haben wir ja auch lange Zeit geliefert – und treffen uns immer noch im kleinen Kreis, um zu interessanterer Musik zu tanzen.
Ich hoffe, meine Anregungen haben auch das eine oder andere Umdenken bewirkt. Allerdings werden solche Konzepte nie mehrheitsfähig werden. Mit simpler Musik und der Botschaft, Tango könne jeder und jede erlernen, erreicht man halt mehr Kunden und Besucher.
Aber wer sagt, dass die Mehrheit stets recht hat?
Jochen Lüders
> Hab[en] Sie […] eine Lösung?
Nein.
> Was verhindert – aus Ihrer Sicht – die Veränderung?
Die meisten sind nach meinem Eindruck mit dem Status Quo doch ganz zufrieden. Nur eine sehr kleine Minderheit will „Veränderung“. Es fängt doch schon damit an, dass den meisten Leuten die Musik völlig egal ist. Nur so ist ja zu erklären, dass oft bis zu einer Minute gequatscht wird (während die Musik schon dudelt), bevor man irgendwann – eher gelangweilt – zu tanzen beginnt. Betrachten wir es positiv: Tango ist ein „niederschwelliges“ Angebot um Freunde und Bekannte zu treffen und ein bisschen Spaß zu haben. Die Musik ist immer die gleiche, das Tanzen ist immer das gleiche – das reicht den meisten Leuten. Gerade für Männer ist es doch wunderbar. Wenn sie nicht gerade unangenehme Grapscher, Quetscher oder labernde Oberlehrer sind, finden sie mit einem Minimum an Können angesichts des üblichen Frauenüberschusses immer Frauen, die dankbar sind, betanzt zu werden. Warum sollten sie irgendwas ändern wollen? Wie in allen anderen Lebensbereichen finden die meisten Leute Veränderung und Lernen mühsam und vermeiden beides nach Kräften.