Bei keinem anderen Tanz klaffen das über Bilder und Filme vermittelte Image und die trübe Realität derart weit auseinander wie beim Tango.
Wenn man Leute fragt, was sie mit „argentinischem Tango“ assoziieren (bzw. warum sie den Tanz lernen wollen), bekommt man meistens drei Antworten.
Die erste Assoziation geht fast immer in Richtung knisterende Erotik, Leidenschaft, hochgeschlitzte Kleider, schmachtende Blicke usw. wie z.B. in dieser Szene.
Die zweithäufigste Assoziation geht in Richtung innige Umarmung, Nähe, Wärme, Frauen mit geschlossenen Augen und seligem Gesichtsausdruck.
Die dritte Assoziation geht in Richtung dynamische Musik mit dem typischen Tango-Rhythmus wie z.B. bei La Cumparsita, El Choclo und Paciencia und entsprechend spektakulären Schritten, Posen und Figuren. Das bekannteste Beispiel für diesen Aspekt des Tangos ist wahrscheinlich die Libertango Sequenz aus „Tango Lesson“.
Eine Mischung aus allen drei Elementen gibt es in den Top 20 Best Tango Dance Scenes in Movies.
Die Realität auf vielen / den meisten (?) Milongas schaut hingegen so aus:
Die einzige Gemeinsamkeit sind die geschlossenen Augen von vielen Frauen. Man weiß allerdings nicht, ob sie das Ganze wunderbar finden oder einfach so langweilig, dass sie vor sich hindösen. In Hinblick auf Lebens- und Bewegungsfreude ähnelt das Ganze eher einem Tanztee im Altersheim. Zu einer fürchterlich langweiligen Musik wird meistens ein extrem reduziertes Repertoire an Schritten bzw. Figuren „getanzt“. Die meiste Zeit wird einfach nur gedreht. Relativ häufig wird eine Art Ocho cortado getanzt, oft allerdings so fuzzelig klein, dass die Frau überhaupt keinen Platz hat, ins Kreuz zu gehen, so dass es letzlich für sie nur zwei Rebound-Schritte sind (der erste nach hinten und der zweite zur Seite). Dann noch ein paar Mini-Ochos ggf. mit Parada, Mini-Molinete, das war’s dann bei den meisten schon. Das Ganze komplett an der Stelle, die meisten Paare kommen keinen einzigen Meter voran. Für diese Tanzerei braucht’s nicht mal die Inhalte meines Lehrplans für Anfänger. Halbwegs talentierten Leuten bringe ich das in wenigen Stunden bei.
Mein Rat für Interessierte ist deshalb immer, sich erstmal zwei bis drei Milongas anzuschauen, um zu entscheiden, ob einem diese Art von „Tanz“ überhaupt Spaß machen könnte. Einige kommen dann zum Ergebnis, dass sie mit Tango noch warten, bis sie 70 sind und vorher doch noch was Flotteres tanzen.
Gerhard Riedl
Na, da wildert ja jemand heftig in meinen Themen! Es bleibt mir nur, aus vollem Herzen zuzustimmen.
Michael Pohle
Wohl oder übel – der spitzen Feder von Jochen Lüders und auch Gehard Riedl könnte ich zustimmen.
Natürlich schaudert die Angst in meinem Blute, dass ich von der etablierten Tango-Kommune verflucht und mit ewigen Bann belegt werde, ob des Teilens der kritischen Meinung.
Doch eine Frage hätt’ ich: Habt Sie, Herr Lüders und Sie, Herr Riedel eine Lösung?
Ist die Tango-Szene nicht ein System, geschaffen aus Glaubenssätzen, Annahmen, Sichtweisen – mit anderen Worten: ein sehr stabiles Netzwerk mentaler Modelle?
Was verhindert – aus Ihrer Sicht – die Veränderung?
Wie wollen Sie – z. B. Glaubenssätze – so erschüttern, dass sie von der Tango-Szene aufgegeben werden?
Ich freue nicht auf Ihre Antwort.
Michael Pohle aus Hamburg
Michael Pohle
…die Schlechtschreibprüfung hat wieder zugeschlagen.
Statt
„Ich freue nicht auf Ihre Antwort.“ sollte es im Post heißen:
„Ich freue mich auf Ihre Antwort.“
Michael Pohle aus Hamburg
Gerhard Riedl
Tja, Herr Pohle, da fragen Sie was!
Ich bemühe mich halt auf meinem Blog (seit 10 Jahren) Alternativen aufzuzeigen, zum Beispiel private Milongas mit etwas anderer Musik. Und die haben wir ja auch lange Zeit geliefert – und treffen uns immer noch im kleinen Kreis, um zu interessanterer Musik zu tanzen.
Ich hoffe, meine Anregungen haben auch das eine oder andere Umdenken bewirkt. Allerdings werden solche Konzepte nie mehrheitsfähig werden. Mit simpler Musik und der Botschaft, Tango könne jeder und jede erlernen, erreicht man halt mehr Kunden und Besucher.
Aber wer sagt, dass die Mehrheit stets recht hat?
Jochen Lüders
> Hab[en] Sie […] eine Lösung?
Nein.
> Was verhindert – aus Ihrer Sicht – die Veränderung?
Die meisten sind nach meinem Eindruck mit dem Status Quo doch ganz zufrieden. Nur eine sehr kleine Minderheit will „Veränderung“. Es fängt doch schon damit an, dass den meisten Leuten die Musik völlig egal ist. Nur so ist ja zu erklären, dass oft bis zu einer Minute gequatscht wird (während die Musik schon dudelt), bevor man irgendwann – eher gelangweilt – zu tanzen beginnt. Betrachten wir es positiv: Tango ist ein „niederschwelliges“ Angebot um Freunde und Bekannte zu treffen und ein bisschen Spaß zu haben. Die Musik ist immer die gleiche, das Tanzen ist immer das gleiche – das reicht den meisten Leuten. Gerade für Männer ist es doch wunderbar. Wenn sie nicht gerade unangenehme Grapscher, Quetscher oder labernde Oberlehrer sind, finden sie mit einem Minimum an Können angesichts des üblichen Frauenüberschusses immer Frauen, die dankbar sind, betanzt zu werden. Warum sollten sie irgendwas ändern wollen? Wie in allen anderen Lebensbereichen finden die meisten Leute Veränderung und Lernen mühsam und vermeiden beides nach Kräften.