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Inhalt
Vorbemerkung
In diesem Beitrag soll es um Gefühle gehen, aber ausschließlich um die, die von der Musik ausgelöst werden, also nicht zum Beispiel Gefühle von „Verbundenheit“, die durch körperliche Nähe und gemeinsame Bewegung entstehen können. Um das Thema „Musik und Gefühle“ besser zu verstehen habe ich mich mit Musikpsychologie und Psychoakustik beschäftigt. Besonders anregend fand ich das Buch Das wohltemperierte Gehirn: Wie Musik im Kopf entsteht und wirkt. Alle nicht anders gekennzeichneten Zitate stammen aus diesem Buch.
Es soll hier nicht um das sog. „episodische Gedächtnis“ gehen: „Man verbindet die Musik mit Episoden aus dem eigenen Leben. Das Gehirn verknüpft das Wiedergehörte mit der Situation, in der wir ein Musikstück zum ersten Mal gehört haben. […] Da beim Musikhören alle Gehirnregionen aktiv sind, erleben wir die damalige Situation, deren spezifische Atmosphäre sowie unsere damalige Gemütslage noch einmal mit allen Sinnen“ (Quelle).
Wenn ich im Folgenden von „Tänzern“ spreche, meine ich damit ausschließlich diejenigen, die zumindest versuchen „musikalisch“ zu tanzen (siehe diesen Beitrag) und nicht jene, denen betonte Taktschläge, Phrasen, Pausen etc. völlig egal sind und die einfach irgendwas machen.
Und wenn ich von „Pugliese“ spreche, meine ich Stücke wie A los artistas plasticos und nicht vergleichsweise eingängige Stücke wie Recuerdo, bei denen man (wenn auch oft nur mit Mühe) noch Phrasen erkennen bzw. tanzen kann (wie in diesem Video).
Musik und Gefühle
Man versteht, inzwischen ziemlich genau, wie Musik Gefühle erzeugt. Man weiß, dass bestimmte Hirnareale (wie Amygdala, Hippocampus, präfrontaler Cortex etc.) spezifische Aufgaben übernehmen und welche Rolle bestimmte Botenstoffe spielen (siehe z.B. hier). Und man kann auch erklären, warum besonders „emotionale“ Stücke wie „Hallelujah“ von Leonard Cohen, „Yesterday“ von den Beatles, „Someone Like You“ von Adele oder auch Pachelbels „Canon in D“ so stark wirken. Gemeinsam ist all diesen Stücken, dass sie auf eingängigen Harmonien / Melodien und einfachen Rhythmen basieren.
Wie leicht man auf der Klaviatur menschlicher Gefühle spielen kann, sieht man besonders gut an Filmmusik. Hollywood Komponisten wie Hans Zimmer arbeiten mit immer gleichen Akkordfolgen um Trauer, Liebe, Ehrfurcht usw. auszudrücken (siehe dieses Video). Dissonanzen finden man lediglich bei „Gefahr“ und „Spannung“, alle anderen Akkorde basieren auf unserer westlichen Harmonielehre, d.h. sie sind „eingängig“ und entsprechen vollständig unseren Erwartungen und Hörgewohnheiten.
Tango und „große“ Gefühle
Beim Tango geht es ja immer auch um „große“ Gefühle. Mir ist es ja schon ein Rätsel wie so ein Sound irgendwelche positiven Gefühle erzeugen kann. Noch viel rätselhafter finde ich allerdings, dass ausgerechnet die komplexe, Musik von Osvaldo Pugliese intensive Gefühle hervorrufen soll, wenn doch kaum jemand sie „vertanzen“ kann. Angeblich ist eine Pugliese-Tanda „für viele Tänzer der Höhepunkt einer Milonga“ (Quelle). Wie kann es sein, dass Musik, die durchgängig als „kompliziert“, „herausfordernd“, „nicht einfach zu tanzen“ etc. beschrieben wird, bei Tänzern nicht zu Frustration sondern im Gegenteil zu Hochgefühl führt? Exemplarisch für unzählige gleichlautende Aussagen: „While being able to dance well to Pugliese’s music is the mark of a truly accomplished dancer, his music is very challenging for new dancers“ (Quelle). (Ich würde new dancers allerdings ersetzen durch also for advanced dancers.)
Merkmale Puglieses Musik
Schauen wir uns mal an, was Puglieses Musik so schwierig macht:
„While di Sarli’s music was easy to dance to, Osvaldo Pugliese’s approach to Tango music was much more experimental, with a rich, complex and discordant sound that prevented easy dancing“ (Quelle).
„There are long pauses, surprising restarts, and this power, an impressive strength that tears and takes us. […] The rhythmic basis of Pugliese perfectly fits a calm and intense walk, while more complex interpretations require sudden speed or intention changes. He provides a large and extreme emotion range, from a soft violin crying glissando to canyengue rhythmic games, and through the bandoneon anxiety, stretching with dissonance…“ (Quelle).
„The rhythmic accentuation of his orchestra lies on a superposition of sonic layers which form a subtle and polyrhythmic mechanism, in which different instrumental sections move in a variety of styles and effects. And from this, apparently anarchic, rhythmic disposition, the different themes are expressively translated into the peculiar way of saying the soloists of the orchestra had“ (Quelle).
Pugliese und Piazzolla
Dissonanzen, unharmonischer (discordant) Klang, plötzliche Tempowechsel, anarchische bzw. Poly-Rhythmen – das erinnert doch sehr an Piazzolla (siehe diesen und diesen Beitrag). Wieso finden die meisten Leute eigentlich Piazzollas Musik „untanzbar“, während sie von Puglieses Musik begeistert sind, obwohl sie doch – wenn man mal vom Piazzolla-typischen Quietschen, Kratzen und Knarzen absieht – so ähnlich ist? Sowohl Pugliese als auch Piazzolla haben (wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten) im Orchester von Anibal Troilo gespielt und die meisten Musikhistoriker sehen eine direkte Entwicklung von Troilo über Pugliese zu Piazzolla.
Melodie und Harmonien
Was hat nun die Neurowissenschaft z.B. mithilfe von Gehirnscans herausgefunden? Beginnen wir mit der Bedeutung der Melodie: Sie ist die „Basis des musikalischen Erlebens“. Die ganz große Mehrheit reagiert empfindlich auf Dissonanzen. Die „Wahrnehmungsfähigkeit für komplexe Harmonien“ ist „sehr selten“. Der „auditorische Cortex“ (= alle an der Verarbeitung von Klängen beteiligten Hirnareale) signalisiert „Unwohlsein“, wenn Erwartungen an Harmonien nicht erfüllt werden. Grundsätzlich gibt es eine nur „geringe Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem“ (das erklärt ja auch, warum so viele Leute ausschließlich zu vertrauter EdO Musik tanzen wollen, siehe diesen Beitrag). Nur „geübte Hörer“ können auch komplexe Kompositionen antizipieren, weil sie die Strukturen bereits gehörter Stücke im „auditorischen Langzeitgedächtnis“ gespeichert haben. Auf Tänzer übertragen bedeutet das, dass man seine Stücke sehr oft gehört haben müsste, um genussvoll darauf tanzen zu können. Davon kann aber keine Rede sein. Im normalen Unterricht wird Puglieses Musik natürlich kaum gespielt und auf Milongas gibt es typischerweise zu vorgerückter Stunde eine Tanda. Die Zahl der Leute, die sich Pugliese auf dem Weg zur Arbeit oder in ihrer Freizeit anhören, dürfte sich in engen Grenzen halten. Anders gesagt, müsste ein Großteil der Tänzer allein schon aufgrund des ungewohnten Klanges emotional eher ablehnend reagieren.
Grundschlag und Tempowechsel
Ein für „musikalische“ Tänzer noch viel größeres Problem ist allerdings ein weitgehend fehlender (halbwegs) regelmäßiger Grundschlag („Puls“) und ständige Tempowechsel: „Eine zeitweise Änderung des Tempos bringt momentan einen Hauch von Emotion, sie wiederspricht aber gleichzeitig den Erwartungen über den rhythmischen Verlauf, die ein Stück in Gang halten. Kommen zu viele Abweichungen im Tempo vor, dann verliert der Zuhörer das Gefühl für das zugrundeliegende Metrum und kann die kommenden Schläge nicht mehr richtig vorausahnen.“ Für Tänzer ist die „Vorhersehbarkeit“ des rhyhmischen Verlaufs ein, wenn nicht sogar das entscheidende Kriterium für die „Tanzbarkeit“ eines Stückes. Gerade weil es meistens schwer bis unmöglich ist, den weiteren Verlauf zu antizipieren, erzeugt die Musik von Pugliese und Piazzolla (messbaren) Stress.
Wie soll man zu Pugliese tanzen?
Wenig überraschend gibt es nur wenige Videos, in denen konkrete Tipps gegeben werden, wie man denn nun Puglieses Musik „vertanzen“ soll. In diesem Video bekommt man in Hinblick auf Technik den kuriosen Rat, „kleinere Schritte“ (smaller steps) zu machen und mehr „im Kreis“ (circularly) zu tanzen. In Hinblick auf Musikalität wird empfohlen: „Hang back behind the music“ und „Do the opposite of what the song does“. Für mich ist das ein Euphemismus für: „Vergiss die Musik, sie ist viel zu komplex für dich – mach einfach irgendwas.“ Und genau das machen ja auch fast alle.
In diesem Video wird immerhin nicht empfohlen, dass Gegenteil von dem zu machen, was die Musik vorschlägt, sondern sich in Passagen mit „adagio feeling“ auch langsam zu bewegen – ein, nun ja, naheliegender Tipp. In energiereicheren („more energetic“) Passagen soll man hingegen eine anspruchsvolle Kombi aus „Molinete and internal gancho“ tanzen. Sieht schick aus, kann nur leider fast niemand – also unbrauchbar.
Und in diesem Video werden immerhin „pulse“ und „strong beats“ thematisiert und anhand einer einfachen Schrittsequenz demonstriert. Nicht thematisiert hingegen wird das Entscheidende, nämlich, dass es in Puglieses Musik eben sehr oft keinen (zumindest durchgängigen) „Puls“ gibt und die „strong beats“ oft völlig unvermittelt und überraschend kommen.
Fazit
Psychoakustik und Neurowissenschaft können nicht erklären, warum Puglieses Musik „große“ Gefühle erzeugen soll. Sie können hingegen sehr überzeugend erklären, warum seine Musik (so wie die Piazzollas) bei den meisten Menschen emotionale Ablehnung hervorruft. Die angeblichen „großen Gefühle“ sind wohl in vielen Fällen eine Mischung aus Einbildung, ästhetischen Konformismus und vermeintlichem Distinktionsgewinn. Wenn „ästhetische Autoritäten“ behaupten, dass man intensive Emotionen fühlen soll, obwohl man nur hilflos herumstolpert, dann möchte man natürlich auch zur „kundigen Elite“ dazugehören und sich vom ignoranten Pisten-Plebs abheben.
Helge Schütt
Vielen Dank für diesen Beitrag! Der liefert mir wieder viel Futter zum Nachdenken.
Yokoito
Vor ein paar Jahren habe ich mal im Vida Mia in Köln bei Jonatan Saavedra und Clarisa Aragon (generell sehr zu empfehlen die beiden, übrigens) einen Workshop zum Thema „wie tanzt man zu verschiedenen Orchestern“ gemacht. Die beiden empfahlen zu Pugliese eher etwas Tiefgelegtes, Lineares, dramatisch-gezogen-manchmal-Explosives (meine Nacherzählung und vermutlich fehlerhaft). Hat bisher für mich ganz gut funktioniert. Allerdings hat zuletzt Agustin (von Natalja und Agustin) mir noch ein anderes Bild in den Kopf gesetzt – Pugliese als Wechsel zwischen „mit der Fahne des Sozialismus dynamisch voranschreitend“ und „dafür eine Weile im Knast sitzen und sich auf die nächste Runde vorbereiten“. Aber ich glaube, die Grundidee ist dennoch dieselbe.
Ansonsten – interessantes Wissensbüffet zur Psychologie des Musikhörens. Ich habe mich nur gefragt, ob das auch für „Musikhören und dabei tanzen, d.h. auch Platzmanagement auf der Piste und so weiter“ gilt.
Anya
Vielen Dank für den erhellenden Beitrag, der es in den letzten beiden Sätzen auf den Punkt bringt. Dass ausgerechnet im Tango Argentino ein solcher Konformismus herrscht ist – insbesondere vor dem Hintergrund der Historie – ein Paradoxon.
Die Formulierung im Kommentar „etwas Tiefgelegtes, Lineares, dramatisch-gezogen-manchmal-Explosives“ sprengt allerdings meine Vorstellungskraft.
Wie habe ich mir einen solchen Tanz vorzustellen? Tiefergelegt könnte ich noch mit „erdverbunden“ gleichsetzen, was der Tango per se ist.
Wie tanzt man aber bitte linear bzw. nicht linear? Oder dramatisch gezogen?
Die Steigerung ist dann noch Folgendes und lässt mich völlig ratlos zurück (um nicht zu sagen, dass ich mit dem Gesülze nichts anfangen kann):
> Pugliese als Wechsel zwischen „mit der Fahne des Sozialismus dynamisch voranschreitend“ und „dafür eine Weile im Knast sitzen und sich auf die nächste Runde vorbereiten“.
Dann müssten also alle „Kundschafter des Friedens“ glühende Anhänger von Pugliese sein und perfekt zu seiner Musik tanzen können?!?
Yokoito
Liebe Anya, Agustin hatte uns daran erinnert, daß Pugliese Sozialist war, und meinte eben, das sei ein Weg, die Musik zu verstehen. Aber ich wiederhole gerne nochmal, daß man mich als unzuverlässigen Beobachter einstufen sollte. Wenn Du es ganz genau wissen willst – check doch mal, wann Agustin und Natalia in Deiner Gegend sind. Ein Workshop bei ihm lohnt sich definitiv, und Du könntest ihn nochmal direkt fragen.
Was den von Jonatan und Clarisa für Pugliese vorgeschlagenen Stil angeht – sorry, daß mein Bild bei Dir nicht funktioniert hat. Zwei Vorschläge: Andere Führende fragen, ob sie was damit anfangen können. Oder Du mailst mir (yokoitob@gmail.com), und wir schauen, ob sich eine Gelegenheit zum „Vormachen“ ergibt. Meine Großstadt heißt Rhein-Main. Und vielleicht setzen wir uns danach hin und versuchen gemeinsam ein Wording zu finden.
Anya
Lieber Yokoito,
Pugliese war nicht Sozialist, sondern Kommunist. Aber lassen wir das, bevor wir hier mit der „kommunistischen Interpretation“ der Musik anfangen.
Dass seine häufigen Gefängnisaufenthalte seine Musik beeinflusst haben (bzw. eher sein Mindset und als Folge die Musik), kann ich mir durchaus vorstellen aber deshalb muss sich der Tänzer nicht in die Lage versetzen.
Da ich persönlich mit der Musik von Pugliese wenig anfangen kann bzw. die Musik in mir keine großen Gefühle erzeugt (höchstens die der Ablehnung), sehe ich keine Veranlassung Dein Angebot mir den Stil „vorztanzen zu lassen“ um anschließend ein „gemeinsames Wording zu finden“ anzunehmen.
Ich bin eher davon ausgegangen, dass man so etwas auch in Worte fassen kann bzw. es ging in dem Artikel von Jochen insbesondere darum, warum die Musik von Pugliese große Gefühle erzeugen können sollte (oder eben auch nicht).
Yokoito
Liebe Anja, danke für die Korrektur – ehrlich gesagt, ist mir der Unterschied nicht so wichtig, aber ich denke, wir legen dieses Unterthema jetzt einfach mal beiseite.
Was Deine Gefühle Pugliese gegenüber angeht – es gibt recht schöne Stücke von ihm, sogar relativ friedlich/lyrisch klingende. Aber eben auch andere. Ich weiß jetzt nicht, warum Du ihn nicht magst; meine Liebe zu Pugliese ist begrenzt, weil das „Grundgefühl“, das er in mir auslöst, oft eher so etwas wie ein Sack Glasscherben ist, während ich mich innerlich eigentlich die meiste Zeit sanft-harmonisch fühle und das auch in der Musik genieße. Aber ich hatte schon wunderbare Tandas zu Pugliese.
Meine Dir unverdauliche Formulierung bezog sich übrigens nicht nur auf Pugliese, sondern eher generell auf ein mögliches Verhältnis Musik/Bewegung. Natürlich schade, daß ich jetzt nicht das Vergnügen gemeinsamer Tandas oder gar Textarbeit mit Dir habe, aber ich werde versuchen, darüber hinwegzukommen.