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Pugliese und die großen Gefühle

The­re is an Eng­lish ver­si­on of this artic­le here.

Vorbemerkung

In die­sem Bei­trag soll es um Gefüh­le gehen, aber aus­schließ­lich um die, die von der Musik aus­ge­löst wer­den, also nicht zum Bei­spiel Gefüh­le von „Ver­bun­den­heit“, die durch kör­per­li­che Nähe und gemein­sa­me Bewe­gung ent­ste­hen kön­nen. Um das The­ma „Musik und Gefüh­le“ bes­ser zu ver­ste­hen habe ich mich mit Musik­psy­cho­lo­gie und Psy­cho­akus­tik beschäf­tigt. Beson­ders anre­gend fand ich das Buch Das wohl­tem­pe­rier­te Gehirn: Wie Musik im Kopf ent­steht und wirkt. Alle nicht anders gekenn­zeich­ne­ten Zita­te stam­men aus die­sem Buch.

Es soll hier nicht um das sog. „epi­so­dische Gedächt­nis“ gehen: „Man ver­bin­det die Musik mit Epi­so­den aus dem eige­nen Leben. Das Gehirn ver­knüpft das Wie­der­ge­hör­te mit der Situa­ti­on, in der wir ein Musik­stück zum ers­ten Mal gehört haben. […] Da beim Musik­hö­ren alle Gehirn­re­gio­nen aktiv sind, erle­ben wir die dama­li­ge Situa­ti­on, deren spe­zi­fi­sche Atmo­sphä­re sowie unse­re dama­li­ge Gemüts­la­ge noch ein­mal mit allen Sin­nen“ (Quel­le).

Wenn ich im Fol­gen­den von „Tän­zern“ spre­che, mei­ne ich damit aus­schließ­lich die­je­ni­gen, die zumin­dest ver­su­chen „musi­ka­lisch“ zu tan­zen (sie­he die­sen Bei­trag) und nicht jene, denen beton­te Takt­schlä­ge, Phra­sen, Pau­sen etc. völ­lig egal sind und die ein­fach irgend­was machen.

Und wenn ich von „Puglie­se“ spre­che, mei­ne ich Stü­cke wie A los artis­tas pla­s­ti­cos und nicht ver­gleichs­wei­se ein­gän­gi­ge Stü­cke wie Recuer­do, bei denen man (wenn auch oft nur mit Mühe) noch Phra­sen erken­nen bzw. tan­zen kann (wie in die­sem Video).

Musik und Gefühle

Man ver­steht, inzwi­schen ziem­lich genau, wie Musik Gefüh­le erzeugt. Man weiß, dass bestimm­te Hirn­area­le (wie Amyg­da­la, Hip­po­cam­pus, prä­fron­ta­ler Cor­tex etc.) spe­zi­fi­sche Auf­ga­ben über­neh­men und wel­che Rol­le bestimm­te Boten­stof­fe spie­len (sie­he z.B. hier). Und man kann auch erklä­ren, war­um beson­ders „emo­tio­na­le“ Stü­cke wie „Hal­le­lu­jah“ von Leo­nard Cohen, „Yes­ter­day“ von den Beat­les, „Someone Like You“ von Ade­le oder auch Pachel­bels „Canon in D“ so stark wir­ken. Gemein­sam ist all die­sen Stü­cken, dass sie auf ein­gän­gi­gen Har­mo­nien / Melo­dien und ein­fa­chen Rhyth­men basieren.

Wie leicht man auf der Kla­via­tur mensch­li­cher Gefüh­le spie­len kann, sieht man beson­ders gut an Film­mu­sik. Hol­ly­wood Kom­po­nis­ten wie Hans Zim­mer arbei­ten mit immer glei­chen Akkord­fol­gen um Trau­er, Lie­be, Ehr­furcht usw. aus­zu­drü­cken (sie­he die­ses Video). Dis­so­nan­zen fin­den man ledig­lich bei „Gefahr“ und „Span­nung“, alle ande­ren Akkor­de basie­ren auf unse­rer west­li­chen Har­mo­nie­leh­re, d.h. sie sind „ein­gän­gig“ und ent­spre­chen voll­stän­dig unse­ren Erwar­tun­gen und Hörgewohnheiten. 

Tango und „große“ Gefühle

Beim Tan­go geht es ja immer auch um „gro­ße“ Gefüh­le. Mir ist es ja schon ein Rät­sel wie so ein Sound irgend­wel­che posi­ti­ven Gefüh­le erzeu­gen kann. Noch viel rät­sel­haf­ter fin­de ich aller­dings, dass aus­ge­rech­net die kom­ple­xe, Musik von Osval­do Puglie­se inten­si­ve Gefüh­le her­vor­ru­fen soll, wenn doch kaum jemand sie „ver­tan­zen“ kann. Angeb­lich ist eine Puglie­se-Tan­da „für vie­le Tän­zer der Höhe­punkt einer Milon­ga“ (Quel­le). Wie kann es sein, dass Musik, die durch­gän­gig als „kom­pli­ziert“, „her­aus­for­dernd“, „nicht ein­fach zu tan­zen“ etc. beschrie­ben wird, bei Tän­zern nicht zu Frus­tra­ti­on son­dern im Gegen­teil zu Hoch­ge­fühl führt? Exem­pla­risch für unzäh­li­ge gleich­lau­ten­de Aus­sa­gen: „While being able to dance well to Pugliese’s music is the mark of a tru­ly accom­plished dancer, his music is very chal­len­ging for new dancers“ (Quel­le). (Ich wür­de new dancers aller­dings erset­zen durch also for advan­ced dancers.)

Merkmale Puglieses Musik

Schau­en wir uns mal an, was Puglie­ses Musik so schwie­rig macht:

„While di Sarli’s music was easy to dance to, Osval­do Pugliese’s approach to Tan­go music was much more expe­ri­men­tal, with a rich, com­plex and dis­cordant sound that pre­ven­ted easy dancing“ (Quel­le).

„The­re are long pau­ses, sur­pri­sing restarts, and this power, an impres­si­ve strength that tears and takes us. […] The rhyth­mic basis of Puglie­se per­fect­ly fits a calm and inten­se walk, while more com­plex inter­pre­ta­ti­ons requi­re sud­den speed or inten­ti­on chan­ges. He pro­vi­des a lar­ge and extre­me emo­ti­on ran­ge, from a soft vio­lin crying glis­san­do to cany­en­gue rhyth­mic games, and through the ban­do­ne­on anxie­ty, stret­ching with dis­so­nan­ce…“ (Quel­le).

„The rhyth­mic accen­tua­ti­on of his orches­tra lies on a super­po­si­ti­on of sonic lay­ers which form a subt­le and poly­rhyth­mic mecha­nism, in which dif­fe­rent instru­men­tal sec­tions move in a varie­ty of styl­es and effects. And from this, appar­ent­ly anar­chic, rhyth­mic dis­po­si­ti­on, the dif­fe­rent the­mes are expres­si­ve­ly trans­la­ted into the pecu­li­ar way of say­ing the soloists of the orches­tra had“ (Quel­le).

Pugliese und Piazzolla

Dis­so­nan­zen, unhar­mo­ni­scher (dis­cordant) Klang, plötz­li­che Tem­po­wech­sel, anar­chi­sche bzw. Poly-Rhyth­men – das erin­nert doch sehr an Piaz­zolla (sie­he die­sen und die­sen Bei­trag). Wie­so fin­den die meis­ten Leu­te eigent­lich Piaz­zoll­as Musik „untanz­bar“, wäh­rend sie von Puglie­ses Musik begeis­tert sind, obwohl sie doch – wenn man mal vom Piaz­zolla-typi­schen Quiet­schen, Krat­zen und Knar­zen absieht – so ähn­lich ist? Sowohl Puglie­se als auch Piaz­zolla haben (wenn auch zu unter­schied­li­chen Zei­ten) im Orches­ter von Ani­bal Troi­lo gespielt und die meis­ten Musik­his­to­ri­ker sehen eine direk­te Ent­wick­lung von Troi­lo über Puglie­se zu Piazzolla. 

Melodie und Harmonien

Was hat nun die Neu­ro­wis­sen­schaft z.B. mit­hil­fe von Gehirn­scans her­aus­ge­fun­den? Begin­nen wir mit der Bedeu­tung der Melo­die: Sie ist die „Basis des musi­ka­li­schen Erle­bens“. Die ganz gro­ße Mehr­heit reagiert emp­find­lich auf Dis­so­nan­zen. Die „Wahr­neh­mungs­fä­hig­keit für kom­ple­xe Har­mo­nien“ ist „sehr sel­ten“. Der „audi­to­ri­sche Cor­tex“ (= alle an der Ver­ar­bei­tung von Klän­gen betei­lig­ten Hirn­area­le) signa­li­siert „Unwohl­sein“, wenn Erwar­tun­gen an Har­mo­nien nicht erfüllt wer­den. Grund­sätz­lich gibt es eine nur „gerin­ge Auf­ge­schlos­sen­heit gegen­über Neu­em“ (das erklärt ja auch, war­um so vie­le Leu­te aus­schließ­lich zu ver­trau­ter EdO Musik tan­zen wol­len, sie­he die­sen Bei­trag). Nur „geüb­te Hörer“ kön­nen auch kom­ple­xe Kom­po­si­tio­nen anti­zi­pie­ren, weil sie die Struk­tu­ren bereits gehör­ter Stü­cke im „audi­to­ri­schen Lang­zeit­ge­dächt­nis“ gespei­chert haben. Auf Tän­zer über­tra­gen bedeu­tet das, dass man sei­ne Stü­cke sehr oft gehört haben müss­te, um genuss­voll dar­auf tan­zen zu kön­nen. Davon kann aber kei­ne Rede sein. Im nor­ma­len Unter­richt wird Puglie­ses Musik natür­lich kaum gespielt und auf Milon­gas gibt es typi­scher­wei­se zu vor­ge­rück­ter Stun­de eine Tan­da. Die Zahl der Leu­te, die sich Puglie­se auf dem Weg zur Arbeit oder in ihrer Frei­zeit anhö­ren, dürf­te sich in engen Gren­zen hal­ten. Anders gesagt, müss­te ein Groß­teil der Tän­zer allein schon auf­grund des unge­wohn­ten Klan­ges emo­tio­nal eher ableh­nend reagieren.

Grundschlag und Tempowechsel

Ein für „musi­ka­li­sche“ Tän­zer noch viel grö­ße­res Pro­blem ist aller­dings ein weit­ge­hend feh­len­der (halb­wegs) regel­mä­ßi­ger Grund­schlag („Puls“) und stän­di­ge Tem­po­wech­sel: „Eine zeit­wei­se Ände­rung des Tem­pos bringt momen­tan einen Hauch von Emo­ti­on, sie wie­der­spricht aber gleich­zei­tig den Erwar­tun­gen über den rhyth­mi­schen Ver­lauf, die ein Stück in Gang hal­ten. Kom­men zu vie­le Abwei­chun­gen im Tem­po vor, dann ver­liert der Zuhö­rer das Gefühl für das zugrun­de­lie­gen­de Metrum und kann die kom­men­den Schlä­ge nicht mehr rich­tig vor­aus­ah­nen.“ Für Tän­zer ist die „Vor­her­seh­bar­keit“ des rhyh­mi­schen Ver­laufs ein, wenn nicht sogar das ent­schei­den­de Kri­te­ri­um für die „Tanz­bar­keit“ eines Stü­ckes. Gera­de weil es meis­tens schwer bis unmög­lich ist, den wei­te­ren Ver­lauf zu anti­zi­pie­ren, erzeugt die Musik von Puglie­se und Piaz­zolla (mess­ba­ren) Stress. 

Wie soll man zu Pugliese tanzen?

Wenig über­ra­schend gibt es nur weni­ge Vide­os, in denen kon­kre­te Tipps gege­ben wer­den, wie man denn nun Puglie­ses Musik „ver­tan­zen“ soll. In die­sem Video bekommt man in Hin­blick auf Tech­nik den kurio­sen Rat, „klei­ne­re Schrit­te“ (smal­ler steps) zu machen und mehr „im Kreis“ (cir­cu­lar­ly) zu tan­zen. In Hin­blick auf Musi­ka­li­tät wird emp­foh­len: „Hang back behind the music“ und „Do the oppo­si­te of what the song does“. Für mich ist das ein Euphe­mis­mus für: „Ver­giss die Musik, sie ist viel zu kom­plex für dich – mach ein­fach irgend­was.“ Und genau das machen ja auch fast alle.

In die­sem Video wird immer­hin nicht emp­foh­len, dass Gegen­teil von dem zu machen, was die Musik vor­schlägt, son­dern sich in Pas­sa­gen mit „ada­gio fee­ling“ auch lang­sam zu bewe­gen – ein, nun ja, nahe­lie­gen­der Tipp. In ener­gie­rei­che­ren („more ener­ge­tic“) Pas­sa­gen soll man hin­ge­gen eine anspruchs­vol­le Kom­bi aus „Moli­ne­te and inter­nal gancho“ tan­zen. Sieht schick aus, kann nur lei­der fast nie­mand – also unbrauchbar. 

Und in die­sem Video wer­den immer­hin „pul­se“ und „strong beats“ the­ma­ti­siert und anhand einer ein­fa­chen Schritt­se­quenz demons­triert. Nicht the­ma­ti­siert hin­ge­gen wird das Ent­schei­den­de, näm­lich, dass es in Puglie­ses Musik eben sehr oft kei­nen (zumin­dest durch­gän­gi­gen) „Puls“ gibt und die „strong beats“ oft völ­lig unver­mit­telt und über­ra­schend kommen. 

Fazit

Psy­cho­akus­tik und Neu­ro­wis­sen­schaft kön­nen nicht erklä­ren, war­um Puglie­ses Musik „gro­ße“ Gefüh­le erzeu­gen soll. Sie kön­nen hin­ge­gen sehr über­zeu­gend erklä­ren, war­um sei­ne Musik (so wie die Piaz­zoll­as) bei den meis­ten Men­schen emo­tio­na­le Ableh­nung her­vor­ruft. Die angeb­li­chen „gro­ßen Gefüh­le“ sind wohl in vie­len Fäl­len eine Mischung aus Ein­bil­dung, ästhe­ti­schen Kon­for­mis­mus und ver­meint­li­chem Distink­ti­ons­ge­winn. Wenn „ästhe­ti­sche Auto­ri­tä­ten“ behaup­ten, dass man inten­si­ve Emo­tio­nen füh­len soll, obwohl man nur hilf­los her­um­stol­pert, dann möch­te man natür­lich auch zur „kun­di­gen Eli­te“ dazu­ge­hö­ren und sich vom igno­ran­ten Pis­ten-Plebs abheben.

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Pugliese and the Great Emotions

  1. Vie­len Dank für die­sen Bei­trag! Der lie­fert mir wie­der viel Fut­ter zum Nachdenken.

  2. Vor ein paar Jah­ren habe ich mal im Vida Mia in Köln bei Jona­tan Saa­ve­dra und Cla­ri­sa Ara­gon (gene­rell sehr zu emp­feh­len die bei­den, übri­gens) einen Work­shop zum The­ma „wie tanzt man zu ver­schie­de­nen Orches­tern“ gemacht. Die bei­den emp­fah­len zu Puglie­se eher etwas Tief­ge­leg­tes, Linea­res, dra­ma­tisch-gezo­gen-manch­mal-Explo­si­ves (mei­ne Nach­er­zäh­lung und ver­mut­lich feh­ler­haft). Hat bis­her für mich ganz gut funk­tio­niert. Aller­dings hat zuletzt Agus­tin (von Natal­ja und Agus­tin) mir noch ein ande­res Bild in den Kopf gesetzt – Puglie­se als Wech­sel zwi­schen „mit der Fah­ne des Sozia­lis­mus dyna­misch vor­an­schrei­tend“ und „dafür eine Wei­le im Knast sit­zen und sich auf die nächs­te Run­de vor­be­rei­ten“. Aber ich glau­be, die Grund­idee ist den­noch dieselbe. 

    Ansons­ten – inter­es­san­tes Wis­sens­büf­fet zur Psy­cho­lo­gie des Musik­hö­rens. Ich habe mich nur gefragt, ob das auch für „Musik­hö­ren und dabei tan­zen, d.h. auch Platz­ma­nage­ment auf der Pis­te und so wei­ter“ gilt.

  3. Anya

    Vie­len Dank für den erhel­len­den Bei­trag, der es in den letz­ten bei­den Sät­zen auf den Punkt bringt. Dass aus­ge­rech­net im Tan­go Argen­ti­no ein sol­cher Kon­for­mis­mus herrscht ist – ins­be­son­de­re vor dem Hin­ter­grund der His­to­rie – ein Paradoxon.

    Die For­mu­lie­rung im Kom­men­tar „etwas Tief­ge­leg­tes, Linea­res, dra­ma­tisch-gezo­gen-manch­mal-Explo­si­ves“ sprengt aller­dings mei­ne Vorstellungskraft.
    Wie habe ich mir einen sol­chen Tanz vor­zu­stel­len? Tie­fer­ge­legt könn­te ich noch mit „erd­ver­bun­den“ gleich­set­zen, was der Tan­go per se ist.
    Wie tanzt man aber bit­te line­ar bzw. nicht line­ar? Oder dra­ma­tisch gezogen?

    Die Stei­ge­rung ist dann noch Fol­gen­des und lässt mich völ­lig rat­los zurück (um nicht zu sagen, dass ich mit dem Gesül­ze nichts anfan­gen kann):

    > Puglie­se als Wech­sel zwi­schen „mit der Fah­ne des Sozia­lis­mus dyna­misch vor­an­schrei­tend“ und „dafür eine Wei­le im Knast sit­zen und sich auf die nächs­te Run­de vorbereiten“.

    Dann müss­ten also alle „Kund­schaf­ter des Frie­dens“ glü­hen­de Anhän­ger von Puglie­se sein und per­fekt zu sei­ner Musik tan­zen können?!?

    • Lie­be Anya, Agus­tin hat­te uns dar­an erin­nert, daß Puglie­se Sozia­list war, und mein­te eben, das sei ein Weg, die Musik zu ver­ste­hen. Aber ich wie­der­ho­le ger­ne noch­mal, daß man mich als unzu­ver­läs­si­gen Beob­ach­ter ein­stu­fen soll­te. Wenn Du es ganz genau wis­sen willst – check doch mal, wann Agus­tin und Nata­lia in Dei­ner Gegend sind. Ein Work­shop bei ihm lohnt sich defi­ni­tiv, und Du könn­test ihn noch­mal direkt fragen.
      Was den von Jona­tan und Cla­ri­sa für Puglie­se vor­ge­schla­ge­nen Stil angeht – sor­ry, daß mein Bild bei Dir nicht funk­tio­niert hat. Zwei Vor­schlä­ge: Ande­re Füh­ren­de fra­gen, ob sie was damit anfan­gen kön­nen. Oder Du mailst mir (yokoitob@gmail.com), und wir schau­en, ob sich eine Gele­gen­heit zum „Vor­ma­chen“ ergibt. Mei­ne Groß­stadt heißt Rhein-Main. Und viel­leicht set­zen wir uns danach hin und ver­su­chen gemein­sam ein Wor­ding zu finden.

  4. Anya

    Lie­ber Yokoito,

    Puglie­se war nicht Sozia­list, son­dern Kom­mu­nist. Aber las­sen wir das, bevor wir hier mit der „kom­mu­nis­ti­schen Inter­pre­ta­ti­on“ der Musik anfangen.
    Dass sei­ne häu­fi­gen Gefäng­nis­auf­ent­hal­te sei­ne Musik beein­flusst haben (bzw. eher sein Mind­set und als Fol­ge die Musik), kann ich mir durch­aus vor­stel­len aber des­halb muss sich der Tän­zer nicht in die Lage versetzen.

    Da ich per­sön­lich mit der Musik von Puglie­se wenig anfan­gen kann bzw. die Musik in mir kei­ne gro­ßen Gefüh­le erzeugt (höchs­tens die der Ableh­nung), sehe ich kei­ne Ver­an­las­sung Dein Ange­bot mir den Stil „vorzt­an­zen zu las­sen“ um anschlie­ßend ein „gemein­sa­mes Wor­ding zu fin­den“ anzunehmen.
    Ich bin eher davon aus­ge­gan­gen, dass man so etwas auch in Wor­te fas­sen kann bzw. es ging in dem Arti­kel von Jochen ins­be­son­de­re dar­um, war­um die Musik von Puglie­se gro­ße Gefüh­le erzeu­gen kön­nen soll­te (oder eben auch nicht).

    • Lie­be Anja, dan­ke für die Kor­rek­tur – ehr­lich gesagt, ist mir der Unter­schied nicht so wich­tig, aber ich den­ke, wir legen die­ses Unter­the­ma jetzt ein­fach mal beiseite.

      Was Dei­ne Gefüh­le Puglie­se gegen­über angeht – es gibt recht schö­ne Stü­cke von ihm, sogar rela­tiv friedlich/lyrisch klin­gen­de. Aber eben auch ande­re. Ich weiß jetzt nicht, war­um Du ihn nicht magst; mei­ne Lie­be zu Puglie­se ist begrenzt, weil das „Grund­ge­fühl“, das er in mir aus­löst, oft eher so etwas wie ein Sack Glas­scher­ben ist, wäh­rend ich mich inner­lich eigent­lich die meis­te Zeit sanft-har­mo­nisch füh­le und das auch in der Musik genie­ße. Aber ich hat­te schon wun­der­ba­re Tan­das zu Pugliese.

      Mei­ne Dir unver­dau­li­che For­mu­lie­rung bezog sich übri­gens nicht nur auf Puglie­se, son­dern eher gene­rell auf ein mög­li­ches Ver­hält­nis Musik/Bewegung. Natür­lich scha­de, daß ich jetzt nicht das Ver­gnü­gen gemein­sa­mer Tan­das oder gar Text­ar­beit mit Dir habe, aber ich wer­de ver­su­chen, dar­über hinwegzukommen.

  5. Hi Jochen,

    ein inter­es­san­ter Arti­kel – doch ich möch­te dir in zen­tra­len Punk­te wider­spre­chen. Zumal du mich ja zitierst als einen, für den Puglie­se Tan­das der „Höhe­punkt einer Milon­ga“ sind und und fragst: “ Wie kann es sein, dass Musik, die durch­gän­gig als „kom­pli­ziert“, „her­aus­for­dernd“, „nicht ein­fach zu tan­zen“ etc. beschrie­ben wird, bei Tän­zern nicht zu Frus­tra­ti­on son­dern im Gegen­teil zu Hoch­ge­fühl führt?“ 

    Ich will dir erklä­ren, war­um ich (ver­mut­lich) so füh­le, obwohl ich mich eigent­lich immer noch wie ein Tan­go-Anfän­ger („Pis­ten Plebs“, wie du so schön abwer­tend sagst) fühle: 

    1.) Ich weiß nichts über Psy­cho­akus­tik, aber ich bin mir sehr sicher, dass die Neu­ro­wis­sen­schaft unter­sucht hat, war­um Men­schen (z.B. Geburts­tags-) Über­ra­schun­gen mögen, Aben­teu­er lie­ben, gern Thril­ler schau­en oder Spaß dar­an haben, Ach­ter­bahn zu fah­ren. Ich wür­de ver­mu­ten, dass es mit dem Adre­na­lin zusam­men­hängt, dass dabei aus­ge­schüt­tet wird und das durch­aus in der Lage sein soll, „gro­ße Gefüh­le“ her­vor­zu­ru­fen. Nur halt ande­re als z.B. Dopa­min und Mela­to­nin. Und in der Mischung die­ser und ande­rer Boten­stof­fe des Kör­pers gibt es angeb­lich vie­le wei­te­re Arten von Hochgefühlen. 

    Ich gehö­re sicher zu den Men­schen, die das berühm­te Forest Gump Zitat (Das Leben ist wie eine Packung Pra­li­nen…) als Ver­spre­chen emp­fin­den. Auch in der Musik … – daher tan­ze ich auch gern zu Live-Musik. Auch dabei ist nicht immer vor­her­seh­bar, wie es wei­ter­geht. Macht (auch) sehr viel Spaß. Und ich bin beim Tan­go kei­nes­wegs allei­ne damit. 

    2.) Unser Gehirn ent­wi­ckelt sich ja wei­ter, wenn es gefor­dert wird. Und ver­küm­mert, wenn es kei­ne neue Impul­se bekommt (auch Neu­ro­wis­sen­schaft). Daher fin­de ich dei­ne sta­ti­sche Beur­tei­lung mit Aus­sa­gen wie „Die ganz gro­ße Mehr­heit“ usw. pro­ble­ma­tisch, weil sie die Kom­fort­zo­ne zum Ziel­zu­stand erklärt. Und wäh­rend ich auch D’A­ri­en­zo, und (inzwi­schen auch) Biag­gi gern tan­ze – so weiß ich auch, dass Puglie­se und Piaz­zolla mir hel­fen, mich nicht nur tän­ze­risch, son­dern eben auch im Hirn wei­ter zu entwickeln. 

    Und fand schon immer, dass Puglie­se (oft) viel kom­ple­xer und schwie­ri­ger zu tan­zen ist, als (vie­le) Piazzolla-Stücke. 

    Im Gegen­satz zu denen, die aber Tanz- und Spiel­ver­bo­te („untanz­bar“) aus­zu­spre­chen ver­su­chen, akzep­tie­re ich auch die, die lie­ber in ihrer Kom­fort­zo­ne blei­ben wol­len. Und spie­le auch Musik für sie. 

    3.) Auch zur Vor­her­seh­bar­keit Anmer­kun­gen: Wenn man die wich­tigs­ten Puglie­se- und Piaz­zolla-Stü­cke ein paar Mal gehört hat, dann kom­men vie­le Wen­dun­gen gar nicht mehr so über­ra­schend, wie du das beschreibst. Und gera­de Tango-Tänzer:innen, die seit 30+ Jah­ren Tan­go tan­zen und ihren Rey de Com­pas aus­wen­dig ken­nen, könn­ten sich das aneig­nen, wenn sie denn wollten. 

    Und auch Puglie­se hat sei­ne Musik nicht im luft­lee­ren Raum kom­po­niert, son­dern stammt aus einer musi­ka­li­schen Tra­di­ti­on und folgt musi­ka­li­schen Mus­tern, in denen bestimm­te Wen­dun­gen und Wech­sel nahe­lie­gen (wenn sie sich nicht sogar zwin­gend anfüh­len), sodass man sie manch­mal erah­nen kann (geht mir jeden­falls oft so). Es mag sein, dass mir das leich­ter fällt (ich habe schon bevor ich tanz­te sehr viel und bewusst Musik gehört) als ande­ren. Aber ich bin über­zeugt, dass man das Ler­nen kann und das ein sol­cher Lern­pro­zess einen wei­ter­bringt. Ich jeden­falls ermu­ti­ge dazu.

    Und übri­gens hat auch Puglie­se einen Rhyth­mus, der der Musik zugrun­de liegt (wie fast alle Musik west­li­cher Bau­art) – und auch wenn er den gern zwi­schen­drin nicht beto­nen oder gar nicht spie­len lässt oder eben wech­selt (wie übri­gens auch Troi­lo und ande­re – die machen das halt nur viel dezen­ter), kann man die­sen Rhyth­mus gehen (wer es nicht glaubt, möge sich die Nota­ti­on eines belie­bi­gen Puglie­se Stü­ckes ansehen).

    4.) Die Tanz­tipps die du zitierst, sind tat­säch­lich furcht­bar (däm­lich). Ich habe die ent­spre­chen­den Lehrer:innen auf mei­ne schwar­ze Lis­te auf­ge­nom­men. Lei­der basiert vie­ler Tan­go-Unter­richt (hier­zu­lan­de) dar­auf, Musik und Figu­ren (mög­lichst exakt) aus­wen­dig zu ler­nen – und das mit der/dem immer­glei­chen Partner:in. Zusam­men mit unse­rer deut­schen Ten­denz zum Per­fek­tio­nis­mus sorgt das natür­lich für Stress auf der Milon­ga (kein Platz, andere:r Partner:in, ganz ande­re Stim­mung) und för­dert den Rück­zug in die Kom­fort­zo­ne. Und die krampf­haf­te Ver­mei­dung von Risiken.
    Was wohl auch dazu führt, dass die­se Tango-Lehrer:innen ganz sel­ten (bis nie) mit frem­den Partner:inne:n tanzen. 

    In mei­nem beruf­li­chen Umfeld hat sich inzwi­schen eine Kul­tur als bes­ten (effek­tivs­ten) Weg des Ler­nens eta­bliert, den wir Feh­ler­to­le­ranz nen­nen. Gera­de bei einem Tanz, der sich Impro­vi­sa­ti­on auf die Fah­nen geschrie­ben hat (aber sel­ten so getanzt wird) ist das m.M. der bes­te Umgang mit Neu­em. Ich jeden­falls habe mir Puglie­se und Piaz­zolla dadurch erschlos­sen (nie im Unter­richt bei­gebracht bekom­men, wie man gefäl­ligst dazu zu tan­zen hat). Und dabei kann man ganz ein­fach mit Gehen zur Musik anfan­gen. Und natür­lich klappt immer mal wie­der was nicht, wenn ich impro­vi­sie­re. Meist lachen mei­ne Part­ne­rin und ich dann drü­ber und tan­zen weiter.

    Und seit­dem ich auf­ge­ge­ben habe, per­fekt Tan­go tan­zen zu wol­len, habe ich unend­lich mehr Spaß dar­an (ich weiß, ist eigent­lich ver­bo­ten, aber das ist mir egal). Führt natür­lich dazu, dass eini­ge Damen nicht mit mir tan­zen. Aber das ist OK so. 

    5.) Kom­ple­xe Musik erfor­dert natür­lich ein gewis­ses tän­ze­ri­sches Kön­nen, um schön und inten­siv dazu tan­zen zu kön­nen. Aber ich mei­ne: Das kann ich ent­wi­ckeln, wenn ich mich dem stel­le. Zumin­dest hier bei uns beob­ach­te ich kaum weni­ger Tänzer:innen auf der Tanz­flä­che, wenn Puglie­se oder Piaz­zolla Tan­das auf­ge­legt wer­den (im Gegen­satz zu Milon­ga-Tan­das, wo schon mal nur noch die Hälf­te tanzt) und ich beob­ach­te auch nicht mehr „hilf­lo­ses her­um­stol­pern“ (dei­ne Wor­te) als bei einer schnel­len (klas­si­schen) Milon­ga Tan­da. Und du wirst ver­mut­lich Milon­ga Musik nicht unbe­dingt die „gro­ßen Gefüh­le“ abspre­chen wol­len oder sie als Sache einer „kun­di­gen Eli­te“ brand­mar­ken, oder? 

    6.) Lei­der fällt dein Fazit dei­ner ansons­ten ja erfreu­lich sach­li­chen Dar­stel­lung in den Rücken. Dei­ne letz­ten drei Sät­ze emp­fin­de ich als belei­di­gend. War­um musst die Men­schen, die Din­ge anders sehen als du, gleich abwer­ten. Nur weil du dir nicht vor­stel­len kannst, war­um und wie sie emp­fin­den? Was sagt das über dei­nen Cha­rak­ter aus?

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