Der fol­gen­de Text ist eine Über­set­zung von Why lea­ding and fol­lo­wing actual­ly work von Vero­ni­ca Tou­ma­no­va.

Hast du dich jemals gefragt, wie es mög­lich ist, dass zwei Men­schen ihre Bewe­gun­gen so prä­zi­se auf die Tan­go­mu­sik koor­di­nie­ren, dass sie prak­tisch zu einem sich stän­dig ver­än­dern­den Wesen wer­den? Hast du jemals eine beson­ders gekonn­te Tan­go­auf­füh­rung gese­hen und warst erstaunt, wie makel­los die mensch­li­che Ver­bin­dung in einem erfah­re­nen Paar wer­den kann, trotz der Geschwin­dig­keit, der damit ver­bun­de­nen Risi­ken, des Stres­ses, der Impro­vi­sa­ti­on, der schwie­ri­gen Tanz­schrit­te? Hast du dich jemals über die Magie die­ses Tan­zes gewun­dert? Nach vie­len Jah­ren im Tan­go haut mich die­ses Ver­bin­dungs­phä­no­men immer noch um. Und doch brin­ge ich Men­schen jeden Tag genau das bei: Sich mit einem ande­ren Wesen zu ver­bin­den, zu füh­ren oder zu fol­gen, eins mit der Musik zu wer­den, die eige­nen Kör­per­be­we­gun­gen auf die Bewe­gun­gen einer ande­ren Per­son abzu­stim­men und gemein­sam zu improvisieren.

Wir alle wis­sen, dass es nicht leicht zu ler­nen ist. Eini­ge von uns wis­sen, dass es ver­dammt schwer zu leh­ren ist. Doch es ist nicht nur mög­lich, es pas­siert über­all. Tan­go ist Magie und wir alle sind sei­ne Zau­be­rer. Wir den­ken sel­ten dar­über nach. Wir hal­ten sel­ten inne, um uns zu fra­gen, wie die­se Magie entsteht.

Beim Tan­go geht es dar­um, eine ande­re Per­son zu füh­ren und ihr zu fol­gen, aber war­um funk­tio­niert das? Wis­sen­schaft­li­che For­schun­gen beant­wor­ten die­se Fra­ge teil­wei­se, indem sie zei­gen, dass „die Koor­di­na­ti­on kör­per­li­cher Hand­lun­gen mit ande­ren Men­schen dazu füh­ren kann, dass wir deren Kör­per in unser eige­nes Kör­per­sche­ma inte­grie­ren, ganz ähn­lich wie die Inter­ak­ti­on mit Objek­ten unse­re Wahr­neh­mung unse­rer kör­per­li­chen Gren­zen erwei­tert.“ Mit ande­ren Wor­ten: Beim Tan­go-Üben kann unser Gehirn unse­re Wahr­neh­mung auf die Kör­per­be­we­gun­gen unse­res Part­ners abstim­men. Der zugrun­de­lie­gen­de Mecha­nis­mus scheint der­sel­be zu sein wie bei einem erfah­re­nen Gei­ger, der spürt, wie die Gei­ge Teil sei­nes Kör­pers wird, oder bei einem erfah­re­nen Rei­ter, der sich mit dem Pferd „ver­schmol­zen“ fühlt.

Das ist voll­kom­men nach­voll­zieh­bar. Ich möch­te jedoch eine ande­re, etwas tri­via­le­re Erklä­rung hin­zu­fü­gen. Aus mei­ner eige­nen Erfah­rung als Tän­zer und Leh­rer habe ich den Ein­druck, dass das Füh­ren und Fol­gen beim Tan­go gut funk­tio­niert, aus dem ein­fa­chen Grund, weil wir alle in unse­rem All­tag STÄNDIG ande­re Men­schen füh­ren und ihnen folgen.

Zunächst müs­sen wir defi­nie­ren, was Füh­ren und Fol­gen bedeu­tet. Ich spre­che hier von kör­per­li­cher Inter­ak­ti­on durch Bewe­gung. Fol­gen bedeu­tet, einen phy­si­schen Impuls von einer ande­ren Per­son anzu­neh­men und dar­auf in einer Wei­se zu reagie­ren, die die­ser phy­si­sche Impuls nahe­legt. Fol­gen ist eine absicht­li­che (aber nicht not­wen­di­ger­wei­se bewuss­te) Ent­schei­dung, sich ent­spre­chend dem Impuls und dem eige­nen Wil­len im Rah­men der gege­be­nen Mög­lich­kei­ten zu bewe­gen. Mit ande­ren Wor­ten, es geht nicht dar­um, mani­pu­liert oder gezwun­gen zu wer­den. Füh­ren bedeu­tet daher, die­se phy­si­schen Hin­wei­se zu geben und deut­lich zu machen, wie sich der Fol­gen­de bewe­gen soll. Füh­ren hat auch nichts mit Gewalt oder Mani­pu­la­ti­on zu tun und beinhal­tet nicht not­wen­di­ger­wei­se kör­per­li­chen Kontakt.

Wenn du dich selbst und ande­re Men­schen im All­tag beob­ach­test, wirst du bald vie­le Bei­spie­le für phy­si­sches Füh­ren und Fol­gen sehen. Wenn du jeman­dem die Tür öff­nest und auf­hältst, musst du füh­ren und die ande­re Per­son folgt. Wenn du mit einem klei­nen Kind spielst, führst du oft und das Kind folgt, aber manch­mal folgst du auch dem Kind. Jeder Mann­schafts­sport beinhal­tet ein stän­dig wech­seln­des Wech­sel­spiel von Füh­ren und Fol­gen. Der Orches­ter­lei­ter führt, die Musi­ker fol­gen, aber auch der Sän­ger oder der Solist kön­nen füh­ren und der beglei­ten­de Musi­ker folgt. Wenn Sie auf eine schö­ne Aus­sicht zei­gen, schau­en Ihre Freun­de auto­ma­tisch in die­se Rich­tung (das tun wir in Paris oft).

Meis­tens neh­men wir die­se Inter­ak­tio­nen nicht als Füh­ren und Fol­gen wahr, weil sie tief in unse­rer All­tags­dy­na­mik ver­wur­zelt sind. So tief, dass sie zu Refle­xen gewor­den sind. Wenn du in einer Schlan­ge war­test, bewegst du dich, sobald die Schlan­ge dich dazu auf­for­dert; wenn jemand in der Metro auf einen lee­ren Stuhl deu­tet, setzt du dich; wenn ein Kind dir einen Ball zuwirft, fängst du ihn. Und so wie du „folgst“, „führst“ du auch: Du wirfst den Ball zurück, bie­test einen lee­ren Sitz­platz an und bewegst dich als Spit­ze einer Warteschlange.

Natür­lich sind Füh­ren und Fol­gen in unse­rem täg­li­chen Leben bei wei­tem nicht so prä­zi­se wie bei zwei erfah­re­nen Tan­go­tän­zern, die impro­vi­sie­ren. Die sekun­den­schnel­le Prä­zi­si­on eines Tan­go­paa­res ist das Ergeb­nis jah­re­lan­gen Übens und Anpas­sens der Refle­xe der Tän­zer an bestimm­te Tanz­be­we­gun­gen. Doch an ihrer Basis kön­nen wir all­ge­mei­ne Kör­per­me­cha­nis­men erken­nen, die wir alle im Lau­fe unse­res Lebens meis­tern. Und nicht nur das: Unser Ner­ven­sys­tem ist dar­auf pro­gram­miert, ein­an­der durch Bewe­gung zu füh­ren und zu fol­gen. Wir tun das von unse­ren ers­ten Tagen als Babys an, weil es zu unse­rer Funk­ti­ons­wei­se als sozia­le Tie­re gehört. Als mir das klar wur­de, frag­te ich mich: Könn­te ich als Leh­rer die­se mensch­li­chen Refle­xe bes­ser wahr­neh­men, um Tan­go für mei­ne Schü­ler leich­ter erlern­bar und intui­ti­ver zu machen?

Der Grund, war­um mich die­se Fra­ge beschäf­tig­te, hat­te mit einem bestimm­ten Pro­blem zu tun. Es gibt ein weit­hin beob­ach­te­tes Phä­no­men im Tan­go, näm­lich dass die ers­ten ein bis zwei Jah­re des Tan­go­ler­nens für Füh­ren­de schwie­ri­ger zu sein schei­nen als für Fol­gen­de. Nicht immer, aber oft. In den meis­ten Fäl­len spre­chen wir hier von Män­nern, die füh­ren, und Frau­en, die fol­gen, und das Geschlecht spielt dabei sicher­lich eine Rol­le, aber die Schwie­rig­keit hat mehr mit der Rol­le selbst zu tun. Für die Fol­gen­den wird das Ler­nen anspruchs­vol­ler, sobald die Frau nach den ers­ten zwei Jah­ren an einer ernst­haf­ten Tech­nik arbei­tet und ver­sucht, ihr Gleich­ge­wicht und ihre Ästhe­tik zu ver­bes­sern. Es ist all­ge­mein bekannt, dass es bis dahin irgend­wie leich­ter ist, Fol­gen zu ler­nen als Füh­ren. Ich beob­ach­te die­ses Phä­no­men schon seit lan­gem und fra­ge mich, was das Füh­ren am Anfang schwie­ri­ger macht. Jetzt glau­be ich, dass dies (unter ande­rem) an der ein­fa­chen Tat­sa­che liegt, dass wir in unse­rem All­tags­le­ben ande­ren mehr fol­gen als füh­ren, ins­be­son­de­re wenn wir in einer dicht besie­del­ten Umge­bung leben.

Das ist eine gewag­te Behaup­tung ohne empi­ri­sche Bewei­se, aber durch ein­fa­che Ana­ly­se mei­nes eige­nen Lebens in einer Groß­stadt kom­me ich zu dem Schluss, dass mei­ne Bewe­gun­gen häu­fi­ger durch den Reflex des Fol­gens bestimmt wer­den. Den ver­füg­ba­ren Raum ein­neh­men, sich in Men­schen­men­gen bewe­gen, öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel benut­zen, in Geschäf­te gehen, in Schlan­gen war­ten, mit einem Freund her­um­lau­fen: Ich stel­le fest, dass ich häu­fi­ger fol­ge als füh­re. Ich glau­be nicht, dass das viel mit mei­nem Geschlecht oder mei­ner Tan­go-Rol­le zu tun hat. Es könn­te etwas mit mei­nem ruhi­gen Tem­pe­ra­ment zu tun haben und damit, dass ich in man­chen Situa­tio­nen lie­ber fol­ge als füh­re, wäh­rend eine ande­re Per­son sich anders ent­schei­den wür­de. Doch ich glau­be, dass allein die Tat­sa­che, dass wir in Gemein­schaf­ten leben, von Men­schen umge­ben sind und täg­lich sozia­le Bin­dun­gen pfle­gen, uns alle dazu bringt, häu­fi­ger zu fol­gen als zu führen.

Was sagen wir einer Anfän­ge­rin? Sie soll auf­hö­ren zu den­ken. „Hör auf zu den­ken“ bedeu­tet nicht, dass wir wol­len, dass sie zu einem hirn­lo­sen Zom­bie wird. Wir wol­len, dass sie MEHR auf ihre Refle­xe ver­traut als auf ihre ana­ly­ti­sche Ein­schät­zung der Situa­ti­on. Wir bit­ten sie, sich auf schnel­les, intui­ti­ves Den­ken zu ver­las­sen statt auf lang­sa­mes, ratio­na­les. Vie­le Frau­en erzäh­len mir, dass ihr Tanz beim Ver­such zu fol­gen mehr zu flie­ßen scheint, ihr Kör­per sich ent­spannt, sobald sie „los­ge­las­sen“ haben. Die­ser inne­re Wech­sel vom „Tun“ zum „Flie­ßen“ lässt uns das Fol­gen als natür­li­cher und spon­ta­ner und daher „ein­fa­cher“ emp­fin­den. Hier ist es wich­tig zu ver­ste­hen, dass „Fol­gen“ und „gut tan­zen“ nicht das­sel­be sind. Nach­dem ich vie­le Jah­re als Fol­gen­de getanzt habe, kann ich dir sagen, dass die Rol­le der Fol­gen­den nicht von Natur aus ein­fa­cher ist als die des Füh­ren­den (ich glau­be sogar, dass sie schwie­ri­ger ist, aber das ist ein The­ma für einen eige­nen Artikel).

Wenn wir das Füh­ren leich­ter erlern­bar machen wol­len, soll­ten wir in unse­rem täg­li­chen Leben nach Bei­spie­len für den „Füh­rungs­re­flex“ suchen und von dort aus begin­nen, die Füh­rungs­fä­hig­keit zu ent­wi­ckeln. Genau wie jede ande­re Bewe­gung im Tan­go hat das Füh­ren sei­nen Ursprung in einer tri­via­len, all­täg­li­chen Bewe­gung, die jeder von uns machen kann. Wenn ich das Füh­ren leh­re, nei­ge ich dazu, meh­re­re Ana­lo­gien zu ver­wen­den. Eine davon ist, mit einem Kind oder einem Hund zu spie­len und sie dazu zu brin­gen, dir durch den Raum zu fol­gen, auf dich zu oder von dir weg, und sie dabei die gan­ze Zeit mit dei­nen eige­nen Bewe­gun­gen zu beglei­ten. Eine ande­re recht gelun­ge­ne Ana­lo­gie ist das Ver­schie­ben von Möbeln: Nicht wegen der Möbel, son­dern weil du, um etwas Schwe­res zu bewe­gen, dei­ne Bewe­gun­gen mit einer ande­ren Per­son koor­di­nie­ren musst, wäh­rend du auf ein Objekt oder einen Raum zwi­schen den Part­nern ach­test (den inne­ren Raum des Paa­res). Beim Trans­por­tie­ren schwe­rer Möbel, bei­spiels­wei­se beim Tra­gen eines Kla­viers eine Trep­pe hin­un­ter, muss eine Per­son den Weg durch die Trep­pe wei­sen und eine ande­re vor­sich­tig Schritt für Schritt fol­gen. Gemein­sa­mes Ein­kau­fen ist ein wei­te­res her­vor­ra­gen­des Bei­spiel für Füh­ren und Fol­gen. Beim Gehen durch eine Ein­kaufs­stra­ße über­nimmt eine Per­son unbe­wusst die Füh­rung, bleibt bei eini­gen Geschäf­ten ste­hen, geht hin­ein und for­dert die ande­re auf, ihr zu fol­gen. Ein­kau­fen mit einer ande­ren Per­son fühlt sich nie so an wie allein, selbst wenn jeder im Geschäft sei­nen eige­nen Weg geht. Es besteht immer noch ein aus­ge­präg­tes kör­per­li­ches Bewusst­sein für einen ande­ren Kör­per irgend­wo in dei­ner Nähe, der mit dei­nen eige­nen Bewe­gun­gen ver­bun­den ist. Die­se Ver­bin­dung ist sehr nütz­lich, um sie für Tan­go­zwe­cke zu erfor­schen und auf ein höhe­res Niveau an Raf­fi­nes­se und Prä­zi­si­on zu bringen.

Aus die­sem Grund ist es letzt­end­lich sinn­los, eine Fol­gen­de mit einem Auto zu ver­glei­chen. Ja, beim Fah­ren eines Fahr­zeugs ist so etwas wie eine Akti­on und eine Reak­ti­on betei­ligt, aber gleich­zei­tig spre­chen wir von einem unbe­leb­ten Objekt, das so pro­gram­miert ist, dass es auf vor­her­seh­ba­re Wei­se mecha­nisch auf Ein­ga­ben reagiert. Ein Auto folgt nicht: Es führt einen Befehl aus. Das Fol­gen ist eine bewuss­te Hand­lung, die viel mehr von der Fol­gen­den, ihren Fähig­kei­ten und Wün­schen bestimmt wird als davon, was tat­säch­lich geführt wird.

Wenn du schließ­lich jede mensch­li­che Akti­vi­tät ana­ly­sierst, an der mehr als eine Per­son betei­ligt ist, wirst du deut­lich füh­ren­de und fol­gen­de Bewe­gungs­mus­ter erken­nen. Jedes Mal, wenn du Tan­go­schü­lern sagst, dass Tan­go etwas ganz Beson­de­res ist und kei­ne Par­al­le­len zu ihren all­täg­li­chen Bewe­gun­gen auf­weist, erschwerst du ihren Lern­pro­zess. Tan­go ist ein Tanz, der von jedem getanzt wer­den kann, in jedem Alter und mit jedem Kör­per­typ, und je mehr wir sei­ne Bewe­gun­gen durch ihre Ursprün­ge in unse­rem All­tag erklä­ren, des­to schnel­ler wer­den sie ler­nen. Natür­lich wird Tan­go dadurch sehr ent­mys­ti­fi­ziert, aber mei­ner Mei­nung nach brau­chen Leh­rer Mys­tik nur, wenn sie nicht in der Lage sind, etwas auf ver­ständ­li­che Wei­se zu erklä­ren. Tan­go mag in unse­ren Augen etwas weni­ger magisch erschei­nen, wenn man all das oben Genann­te bedenkt, aber wenn eine ech­te Ver­bin­dung besteht, fühlt sie sich in unse­rem Kör­per immer wie­der magisch an.