„Überall graues Haar, gereifte Menschen.“
Derzeit geht es mal wieder um die Überalterung des Tango, speziell um die Rolle der Musik. Da muss ich natürlich auch meinen Senf dazugeben.
Ich beginne mit einem Artikel von Thomas Kröter. Leider zitiert und berichtet Kröter in erster Linie, er findet zu keiner Haltung und macht auch keine konkreten Vorschläge, wie sich etwas ändern könnte. Er hält es für eine „Illusion“, dass man durch eine „Verjüngung“ des Musikangebots auch etwas gegen die „Überalterung der Tango-Gemeinde“ tun könne. Als Beleg berichtet er von einer „bunten“ Berliner Milonga, auf der er auch „kein signifikant jüngeres Publikum“ angetroffen hat. Auf seine Frage „Was sagt uns das?“ gibt es aber m.E. eine ganz einfache Antwort.
Das sagt uns, dass es natürlich nicht damit getan ist, das Musikangebot auf Milongas vielfältiger zu gestalten, wenn im Unterricht weiterhin „Bahia Blanca“ in Dauerschleife dudelt. Das Ganze ist ein klassischer Teufelskreis: Welche jüngeren Menschen sollen sich angesprochen fühlen, wenn sie sehen, dass „Tango“ heute (sehr?) oft zu langweiliger Musik nur am Platz getanzt bzw. gedreht wird (so wie hier)? Und wenn sie dann trotz allem einen Tangokurs buchen, auch nur mit öder EdO-Musik beschallt werden? Und da wundert man sich, dass „von wenigen Ausnahmen abgesehen die einzigen Jungen die argentinischen Tanzlehrerpaare zu sein scheinen“? Nur wenn man bereits im Unterricht lernt, dass man Tango nicht nur zu 90 Jahre alter Uralt-Musik tanzen kann, werden jüngere Leute überhaupt auf Milongas auftauchen.
In seiner Reaktion auf Kröters Artikel macht Gerhard Riedl immerhin konkrete Vorschläge, wie sich die Musik ändern sollte. Seiner Meinung nach sollten die „beiden größten Genies der Tangogeschichte, Gardel und Piazzolla“ häufiger gespielt werden.
Über Piazzolla wundert man sich nicht, das ist ja eines seiner Dauerthemen. Nach wie vor ist Riedl schlichtweg egal, dass Piazzolla ganz klar gesagt hat, dass zu seiner Musik nicht getanzt werden soll (siehe dazu diesen Beitrag) und dass er vielleicht gute Gründe dafür gehabt hat. Wichtiger ist aber natürlich, was für eine Art von Musik Piazzolla eigentlich geschaffen hat:
[Man] hört in den Stücken von Piazzolla sowohl Elemente der Klassik als auch der argentinischen Folklore, der Neuen Musik und Ingredienzen des Jazz. […] Seine harmonische Sprache weitete er aus mit Mitteln des Jazz sowie nach dem Vorbild etwa von Igor Strawinsky und Bela Bartók, deren Harmonik sich an Skalen eigener Prägung orientierte. (Quelle)
Man muss kein Musikwissenschaftler sein, um zu erkennen, dass das nicht gerade nach populärer Tanzmusik klingt. Riedl „vermutet“ zu Recht, dass jungen / jüngeren Leuten Taylor Swift gefällt. Da läge es eigentlich nahe zu vermuten, dass derart komplexe und oft disharmonische Musik ihnen wahrscheinlich nicht gefällt. Derzeit ist Riedl in seiner Reihe „Piazzolla zum Tanzen“ bei 13 angekommen. Man kann es ja ganz einfach selber mal ausprobieren: Man sitzt in geselliger Runde beisammen (hoffentlich sind auch ein paar „Jüngere“ unter 50 dabei) und dann verkündet man: „Leute ich habe ein richtig cooles Stück zum Tanzen entdeckt“ und dann spielt man Tanti Anni Prima. Da wird es niemand mehr auf den Stühlen halten, die Beine werden zucken und die Körper werden sich wie von alleine zu dieser dynamischen Musik bewegen. Aber immerhin quietscht, knarzt und kratzt es in diesem Stück nicht ständig.
Auch wenn Riedl noch 20 weitere Artikel in seiner Reihe schreiben wird, es wird niemand interessieren. Piazzollas Musik (mit Ausnahme von Stücken wie „Oblivion“ und „Libertango“) wird auch in Zukunft kaum jemand zum Tanzen animieren. Sein diesbezügliches Engagement („Finger wundgeschrieben“) ist völlig sinnlos (und damit in gewisser Hinsicht auch tragisch). Er ist unfähig (oder nicht willens) zwischen seinem eigenen Musikgeschmack und dem der „Tango-Gemeinde“ zu unterscheiden und anzuerkennen, dass den meisten Leuten Piazzolla halt nunmal nicht gefällt. Deshalb ist in Hinblick auf Piazzolla sein Erfolg nicht nur nicht „überschaubar“, er ist auf ganzer Linie gescheitert.
Sein zweiter Vorschlag, Carlos Gardel, ist allerdings noch skurriler. Zunächst einmal fragt man sich natürlich, warum ausgerechnet Gardel nicht zur „Museumsmusik“ und zum „Historien-Schmus“ gehört. Man mag es „genial“ finden, was Gardel zum Beispiel hier singt, aber musealer geht’s nun wirklich nicht. Stellen wir uns vor, dass wir dieses Stück in einem „Club, in dem junge Leute verkehren“ zu Gehör bringen. Da wird die Menge toben und begeistert zu diesem unerträglich schmalzigen Geknödel tanzen.
Was die Verjüngung des Tango-Publikums angeht, bin ich ausgesprochen skeptisch. Dazu müsste sich etwas in den Köpfen der Verantwortlichen ändern. Wer fest davon überzeugt ist, dass man „wahren“ Tango nur zu original EdO Musik tanzen sollte und dass moderne Einspielungen minderwertig sind (siehe diesen Beitrag), wird ohne Not nichts ändern. Da kann zum Beispiel Olli Eyding noch so oft über „Young Tango“ Initiativen berichten – solange er auf seiner eigenen Milonga ausschließlich Historisches spielt, wird er auch nur „überall graues Haar“ sehen. Und solange auf einer bekannten Münchner Milonga „Neo“ angekündigt wird und dann olle, 20 Jahre alte Electro-Schinken dudeln, wird sich auch nichts ändern. Vielleicht braucht es aber auch gar keine „Verjüngung“ des Publikums. Es wird in absehbarer Zukunft ja immer mehr Rentner geben, wenn die sich für Tango entscheiden, kann alles so weiterlaufen wie bisher. Wenn es aber nicht mehr genügend Kunden gibt, dann kann eine Verjüngung des Publikums meiner Meinung nach nur über eine Verjüngung bzw. Verbreiterung des Musikangebots kommen. (Die Art wie getanzt wird, müsste sich schon auch ändern, aber das ist ein anderes Thema.)
Wenn man die Google KI Gemini fragt, was man denn machen könnte, um jungen Leuten alte Tangomusik schmackhaft zu machen, macht sie richtig gute Vorschläge:
Es ist wichtig, zu verstehen, warum junge Menschen möglicherweise Schwierigkeiten haben, ältere Musikgenres wie den Tango zu schätzen. Dieses Wissen kann helfen, neue Wege zu finden, um diese Musik einem jüngeren Publikum näherzubringen. Vielleicht durch:
- Modernere Arrangements: Ältere Tangostücke können in neuen, moderneren Arrangements neu interpretiert werden.
- Zusammenarbeit mit modernen Künstlern: Kooperationen zwischen etablierten Tangomusikern und jungen, aufstrebenden Künstlern können neue Hörer anziehen.
Konkrete Vorschläge, was für Musik das sein könnte, findet man hier und in meiner Spotify Playlist.
Aber man könnte sich natürlich auch daran orientieren, wie Milongas in der „goldenen Epoche“ wirklich waren. Da wurde bekanntlich (?) nicht nur Tango getanzt, sondern es wurden auch „andere Rhythmen“ (otros ritmos) gespielt, was halt gerade populär war, wie zum Beispiel Foxtrott (siehe dazu diesen Beitrag). Also könnte man schauen, zu welcher populären Musik von heute man tanzen könnte. Es muss ja nicht gleich Taylor Swift mit ihrer langweiligen, immer gleichen „industrialisierten“ Musik sein und es muss auch nicht Hip Hop, Gangsta Rap oder Techno sein. Aber Perfect von Ed Sheeran und Lost Boy von Ruth B. sind zum Beispiel schöne Valses.
Falls die Entwicklung in diese Richtung geht, könnte ich mir in Zukunft eine stärkere Differenzierung von Milongas vorstellen. Liebhaber der historischen Musik tanzen auf „Edolongas“. Auf „Milongas“ tanzt man zu „modernen Arrangements“, also was heute noch oft abschätzig als „Cover“ bezeichnet wird. Wer nicht nur zu Tango Sound tanzen möchte, geht wie bisher auf eine „Neolonga“. Und dann gibt es ja vielleicht irgendwann mal wieder – die Hoffnung stirbt zuletzt – „Mixlongas“ mit einer Mischung aus „normalem“ Tango und anderen Musikstilen. Es hat sich bewährt, die verschiedenen Stile mit (ungefähren) Prozentzahlen anzugeben, bei mir wäre das dann z.B. 25% Moderner Tango / 75% Non/Neo. Natürlich sind auch komplett andere Mischungen denkbar, so wünscht sich Stefan Sagrowske (in der Tangodanza 4/2024 S. 71–72) einen „schönen Mix“ aus 50% Klassik, 30% Non und 20% Neo.
Jens Stuller
Ich könnte hier davon schreiben, dass die Olli Eydings Milonga von vorherin als traditionell angekündigt ist, es daher keinen Sinn macht, dann dahin zu gehen und die Milonga wegen der Musik verärgert früher zu verlassen. Auch könnte ich über weichgespülte Coverversionen eigentlich guter Titel schreiben. Es gibt Ausnahmen wo Neuarrangements mit modernen Einspielungen meiner Meinung nach gute Energie haben. In der veröffentlichten Playlist von Jochen Lüders sind das die Stücke von Quinteto Ángel, wie ich finde. Über den vorsichtigen aber möglichen Umgang mit Pizzolla auf einer Milonga könnte ich schreiben, trotzdem Pizzolla sagte, dass sein Tango nicht zum Tanzen gedacht ist. Gardel ist mir zu weinerlich, da ich nicht finde, dass Tango ein trauriger Gedanke ist, den man Tanzen kann. Zur Frage der Verjüngung des Publikums, kann ich aus eigener Erfahrung berichten, dass bei meinen ganzjährigen Open-Air-Milongas im öffentlichen Park oft auch jüngere Parkbesucher fragen, wo man Tango lernen kann. Ich verweise dann auf die Tanzschulen im entsprechenden Wohnbezirk, da ich mich selbst bewusst nicht als Tanzlehrer bezeichne, auch wenn ich ihnen auf Wunsch die Basics zeige. Mein Musikmix um Park ist i d.R. 50% traditionell und 50% Non-oder Neo. Dass ändere ich, wenn ich merke, dass die Tanzenden einen anderen Schwerpunkt haben Ich wünsche mir, dass auch im Unterricht 50/50 gespielt wird.
Jochen Lüders
> „und die Milonga wegen der Musik verärgert früher zu verlassen.“
Wie kommst du darauf? Natürlich wusste/weiß ich, was mich da erwartet. Deshalb bin ich nach immerhin 2,5 Stunden nicht „verärgert“, sondern einfach nur gelangweilt gegangen. Das ist lediglich ein Beispiel, wie jemand etwas ändern könnte, der offenbar erkannt hat, dass sich etwas ändern muss.
> „Über den vorsichtigen […] könnte ich schreiben,“
Was soll denn dieses ständige „könnte“? Entweder du TUST es oder du LÄSST es. Es interessiert niemand was du „könntest“.
> „Gardel ist mir zu weinerlich“
Das ist ein komisches Argument. Ich würde über 90% der gesungenen Tangos als „weinerlich“ bezeichnen. Man könnte dich so verstehen, dass Gardel jungen Leuten gefallen würde, wenn er weniger „weinerlich“ wäre.
Gerhard Riedl
Nachdem ich im obigen Artikel mehrfach angesprochen wurde, habe ich mir erlaubt, dazu einen eigenen Text zu verfassen:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2024/10/carlos-astor-und-jochen.html