Warum tanzen in Deutschlang fast ausschließlich nur noch alte / ältere Menschen Tango? Warum gibt es kaum mehr Nachwuchs? In einem anderen Beitrag habe ich beschrieben, welche Rolle meiner Meinung nach die historische Musik spielt. In diesem Beitrag soll es darum gehen, warum auch die Art wie getanzt wird, meiner Meinung nach junge / jüngere Leute abschreckt.
Milongas schauen inzwischen sehr häufig so aus:
Wenn man jüngeren Leuten, die mit Tango nichts am Hut haben, solche Videos zeigt, erntet man belustigte bzw. ungläubige Blicke und Kommentare wie „Soll das etwas Tanzen sein?“, „Das soll Spaß machen?“ und „Die machen ja nix“.
Tango ist bekanntlich „GEHEN in der Umarmung“ („caminar en el abrazo“). Obwohl genügend Platz wäre, um eine Ronda zu bilden und vorwärts zu gehen, stehen bzw. kreiseln fast alle lieber an der Stelle. Außer fuzzelig kleinen Ocho cortados wird kaum mehr irgendwas „getanzt“. Was könnten Gründe für diesen sterbenslangweiligen Still- bzw. Drehstand sein und was müsste sich ändern, dass Tango für jüngere Leute wieder attraktiv wird.
Der Hauptgrund für diese Misere ist für mich, dass die Leute viel zu früh (oft von Anfang an) eng im Paar tanzen sollen. Dadurch lernen vor allem die Männer (die oft eh schon nicht entspannt gehen können) von Anfang an nur kleine Trippelschrittchen zu machen, um die Frau nicht ständig zu touchieren bzw. ihr auf den Fuß zu treten. Und wenn sich beide dann auch noch im „Milonguero“-Stil aneinander lehnen sollen, ist an normales Gehen nicht mehr zu denken (siehe dazu diesen Beitrag). Ändern könnte man das natürlich ganz einfach, in dem erstmal einzeln bzw. in offener Tanzhaltung geübt bzw. getanzt wird, bevor man etwas im Paar bzw. in enger Tanzhaltung probiert (siehe dazu diesen Beitrag).
Den zweiten Grund sehe ich darin, dass in vielen Kursen zu viele Paare auf zu engem Raum üben / lernen sollen. Selbst wer technisch in der Lage wäre, sich vorwärts zu bewegen, wird ständig ausgebremst, so dass er sich relativ bald Drehstand angewöhnt. Hier wird sich nichts ändern, denn weniger Teilnehmer bedeuten weniger Einnahmen für die Lehrer.
Ein weiterer Grund ist das beliebte Motto „Tango tanzen wie in Buenos Aires“ (wie z.B. hier). Vermutlich ist das meistens lediglich Marketing-Geklingel, aber es soll ja auch Lehrer geben, die es wörtlich nehmen und ihre Schüler bei jeder sich bietenden Gelegenheit daran erinnern, dass man in B.A. auf kleinstem Raum tanzen muss und deshalb alle etwas raumgreifenderen Bewegungen zu unterlassen sind. Ändern ließe sich dies ganz einfach, indem man sich z.B. mal fragt, wieviele Deutsche überhaupt Tango lernen wollen, um in B.A. zu tanzen. Die wenigen, die wirklich mal einen Urlaub dort verbringen, kommen häufig recht ernüchtert zurück und berichten von miserablem Unterricht und unverschämter Abzocke auf den Milongas. Wenn man sich von der Vorstellung löst, die Leute auf die Verhältnisse in B.A. vorzubereiten, muss der Fokus nicht mehr ständig darauf liegen, auf kleinstem Raum herumzutapsen.
Der vierte Grund ist die elende „Kastl-Tanzerei“. Anstatt den Leuten erstmal entspanntes Gehen beizubringen, wird häufig als erstes die „Kachel“ (Baldosa) und kurz darauf der (angebliche) „Grundschritt“ (Basse) unterrichtet. Gerhard Riedl hat die Nachteile dieser Schrittkombination bereits ausführlich dargestellt. Ein weiterer Nachteil ist, dass sich in den Köpfen von Anfängern die Vorstellung festsetzt, dass man Tango „am Platz“ tanzt. Ändern könnte man das natürlich ganz einfach, indem das Gehen oberste Priorität bekommt und alles andere erst später drankommt.
Der weiterer Grund ist der aus meiner Sicht verhängnisvolle Einfluss von Encuentros. Als unbedarfter Anfänger denkt man sich vielleicht noch: „Langweiliger geht’s ja wohl nicht, die machen ja überhaupt nix“. Nach einer Weile erstarrt man dann aber in Ehrfurcht und denkt sich: „Wenn die ‚Elite‘ so extrem reduziert tanzt, dann tanzt man Tango offenbar so.“ Die umfangreiche Verbotsliste (Quelle) auf vielen Encuentros macht klar, dass da nur noch minimale Bewegungen erwünscht sind:
Ändern kann man an der Beliebtheit von Encuentros natürlich gar nichts. Wem es gefällt, sich stundenlang zu öder Musik an der Stelle zu drehen, soll das auch in Zukunft gerne machen dürfen.
Was sich – last but not least – ändern müsste, ist die verbreitete „Begräbnis“-Stimmung auf vielen Milongas, die jüngere Leute abschreckt. Alle bewegen sich mit ernstem bzw. geschmerztem Gesichtsausdruck durch die Gegend, keiner lacht, keiner hat sichtbaren Spaß, in allen Gesichtern nur „der traurige Gedanke, den man tanzen kann“. Auf die Frage, ob Tango denn immer nur „getanzte Wehmut“ sei, hat Nicole Nau mal geantwortet: „Nein, um Himmels Willen. Das ist doch keine Wehmut. […] Enrique Santos Discepolo hat das gesagt. Ein großartiger Poet. Aber er war kein Tänzer, auch kein Musiker. […] Jemand, der traurig ist, zieht sich zurück. Oder er tanzt und verlässt damit die Traurigkeit“ (Quelle).
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