Die berühmte Tango-Tänzerin Nicole Nau hat ein interessantes Interview gegeben. Im Folgenden möchte ich einige ihrer Aussagen kommentieren.
Wenn man die Musikstrukturen kennt, kann man komplett anders tanzen.[…] In beider Ohren ist klar, wann beginnt es, wann ist der Bogen zu Ende. […] … die Musik hat eine Struktur, die ist immer gleich. (Kapitel 1)
Leider geht Nicole nicht weiter ins Detail und erklärt nicht, was genau jetzt der „Bogen“ ist und welche „Struktur“ sie meint. Aber ich vermute mal, dass sie den „Melodiebogen“ der 32-er Phrase und die ABABA Struktur meint (siehe dazu meinen Beitrag über musikalisches Tanzen).
Musik zählt sich, auch wenn du sie nicht zählst. Wer ein gutes Rhythmusgefühl hat, der fühlt, hier fängt sie an, hier ist sie zu Ende. (Kapitel 1)
Und weil die meisten Männer kein gutes Rhythmusgefühl (bzw. meistens überhaupt keines) haben, muss man halt erst mal mit Zählen beginnen und das solange üben, bis 8er, 16er und 32er Phrasen in Fleisch und Blut (= Musik- und Muskelgedächtnis) übergegangen sind.
Martin: Tango ist also nicht nur getanzte Wehmut? – Nau: Nein, um Himmels Willen. Das ist doch keine Wehmut. […] Enrique Santos Discepolo hat das gesagt. Ein großartiger Poet. Aber er war kein Tänzer, auch kein Musiker. […] Jemand, der traurig ist, zieht sich zurück. Oder er tanzt und verlässt damit die Traurigkeit. (Kapitel 4)
Hach, wie erfrischend! Endlich mal nicht der ständig zitierte „traurige Gedanke, der getanzt wird“ mit der dazugehörigen öden Musik, der Begräbnisstimmung und den furchtbar ernsten und geschmerzten Mienen der Tanzenden. Leider sagt Nicole an dieser Stelle nicht explizit, wofür ihrer Meinung nach der Tango denn nun wirklich steht. Aber für mich ist die Antwort klar: Spaß und Freude an der Musik und der gemeinsamen Bewegung. Natürlich darf es immer mal wieder eine Tanda lang „luschigen Schieber“ mit depressiv-suizidalem Gejammer geben (vgl. diesen Beitrag über Tango-Texte), aber halt nicht die ganze Zeit. Viel wichtiger sind Nähe und Verbindung z.B. in schönen Valses aber eben genauso Freude am Leben mit fetzigen Tangos und schwungvollen Milongas. (Siehe auch diesen Beitrag darüber, wie Milongas früher wirklich waren).
Jeder, der normal geht, rollt ab. Wer aus dem Tango-Unterricht kommt, hat das Abrollen aber verlernt. Warum? Wenn Tango doch das natürliche Gehen sein soll? (Kapitel 4)
Mit den meisten Männern übe ich erstmal wochenlang einfach nur normales, entspanntes Gehen, bei dem der Fuß ganz natürlich über die Ferse abrollt. Noch länger dauert es bei Männern, die bereits Tango-Unterricht hatten. Die haben sich meistens irgendwelche komischen Bewegungsmuster angewöhnt (wie z.B. übertriebenes Strecken der Beine und/oder Ausdrehen der Füße und Überkreuzen der Beine (wie hier), die sie erstmal mühsam wieder verlernen müssen (siehe auch diesen Beitrag über das Gehen).
Jemand, der gut ist, den musst du mehr fördern, und jemand, der nicht gut ist, den darfst du nicht überlasten. (Kapitel 5) […] Teilweise siehst du in Schulen, dass in einer Woche der Ocho angeboten wird. […] Nach dieser Woche ist er dann abgehakt. […] Nächste Woche Sandwich. (Kapitel 6)
Dieser Unterricht „überlastet“ bzw. überfordert vor allem die Männer permanent. Fast jede Stunde sollen sie irgendwas Neues lernen, dabei beherrschen sie noch nicht mal die elementaren Grundlagen (wie entspanntes Gehen). Es wird viel zu wenig (bzw. überhaupt nicht) wiederholt und geübt.
Etwas Neues sollte erst dann kommen, wenn das bisher Gelernte stressfrei und variabel getanzt werden kann. Und das bedeutet dann halt, dass man unter Umständen wochenlang z.B. nur Gehen in den drei Tempi üben muss/müsste. Fairerweise muss man aber auch sagen, dass viele TänzerInnen in möglichst kurzer Zeit möglichst viel lernen wollen. Und wenn man ökonomisch von seinen Kunden abhängig ist, dann muss man ihnen halt diese Illusion vermitteln und ständig mit etwas Neuem daherkommen.
Alles ist rund. Die Körper, die Umarmung, die musikalische Welle, der Salon, alles. […] Viele Schüler erzählen, sie lernen den Giro als Viereck um einen Stuhl. Aber ein Viereck ist nicht rund, kann also auch niemals eine Drehung werden. (Kapitel 6)
Den Sinn des Giro Vierecks habe ich auch nie begriffen. Man mag das als Technikübung für Pivots nehmen (es gibt bessere), aber ein Viereck als Vorbereitung für einen Kreis? Wer denkt sich so einen Unsinn aus und – noch viel schlimmer – warum wird dieser Unsinn fast überall unterrichtet?
Die Basis des Tango ist das ‚caminar‘, das natürliche Gehen. ‚El tango se camina.‘ Der Tango wird gegangen. […] Ich habe das Gefühl, dass dieses Gehen abgearbeitet wird, auf Vierecke gelegt, vorwärts, rückwärts. […] Das ist kein Tanz. Das ist Abarbeiten einer Bewegung. Daran krankt der Tango im Moment sehr, dass er nicht getanzt wird. Es mangelt dem Tango an Tanz. (Kapitel 6)
Ich kann diese ganze Viereck-Tanzerei nicht leiden, egal, ob es sich um das Giro-Viereck, die Baldosa oder die Basse handelt. Das „Kastl-Tanzen“ etabliert von Anfang an in den Köpfen die Vorstellung, dass man Tango die meiste Zeit an der Stelle tanzt. Es braucht nur wenige Am-Platz-Steher bzw. ‑dreher und nach kürzester Zeit kommt die ganze Ronda zum Stillstand und alle kreiseln nur noch an der Stelle. Abgesehen von der geradezu lähmenden Langeweile frage ich mich bei den meisten Encuentro bzw. Milonga Videos auch immer wieder, wo da eigentlich noch getanzt wird.
Wie „natürlich“ ist es übrigens den Tanz als Leader mit einem Rückwärtsschritt (wie bei der Basse) zu beginnen, obwohl man die übrige Zeit vorwärts geht? Und wer käme im normalen Leben auf die Idee den Weg von A nach B erstmal mit einem großen Seitwärts-Schritt („Salida“) zu beginnen? Beides tanze und unterrichte ich nicht. Stattdessen synchronisieren wir uns mit ein paar Pendelschritten und dann gehen wir einfach los.
Der Grund, das Motiv, warum die Leute [zu einer Milonga] hingehen, ist ein anderer, es geht nicht um Tanz. (Kapitel 6)
Stimmt, und es geht schon mal gar nicht um die Musik. Musik ist für die meisten Leute völlig nebensächlich. Ausgiebiges Quatschen während die Musik schon längst spielt (oft 30 Sekunden und mehr) ist viel wichtiger. Auch während des Tanzens wird immer wieder laut geredet (siehe diesen Beitrag über Quatschen auf Milongas). Tango hat für die meisten Leute vor allem eine soziale Funktion: Freunde/Bekannte treffen, den neuesten Klatsch austauschen und sich zwischendrin ein bisschen bewegen.
Wenn du Nicole Nau „persönlich“ erleben möchtest, kannst du dir dieses Interview ansehen. Eine Eindruck von ihrer „Vida“ Show bekommst du hier.
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