Ich verwende im Folgenden ganz traditionell „Mann“ und „Frau“. Für mich ist „der Führende“ und „die Folgende“ lediglich umständlicher, denn wir haben ja weiterhin die beiden Geschlechts-„Zuschreibungen“. Und „der Leader“ und „der Follower“ ist noch schlechter, denn dann ist ständig der Bezug („mit seinem rechten Arm“) unklar.
Über kein anderes Thema im Tango gibt es soviel nebulöses Geschwurbel wie beim Thema „Führen & Folgen“.
Einmal sollte ich mit der rechten Hand hinter meiner Partnerin den „Raum öffnen“ und sie „einladen“ diesen Raum zu „betreten“. Sehr beliebt ist auch eine „magische Verbindung“, gerne zwischen den Herzen („corazon a corazon“), dank derer die Frau spürt, was sie machen soll. Alternativ führt der Mann mit irgendeinem Chakra, seinem Solar plexus, mit seiner „Energie“, „Aura“ oder mysteriösen „Mikroimpulsen“. Besonders beeindruckend ist, wenn die Führung „einfach so, ohne jede Erklärung, […] von Rückenmark an Rückenmark“ passiert.
Kein Wunder, dass für viele Männer „führen“ ein ewiges Rätsel bleibt. Die meisten fangen in ihrer Not an, an der Frau rumzudrücken und zu schieben. Mit ihrer linken Hand (bzw. dem linken Arm) fuhrwerken sie herum (siehe dazu dieses Video), verändern ständig die Höhe bzw. Position und „führen“ z.B. ein Kreuz, indem sie ihren linken Arm strecken. Entsprechend drücken sie die Frau mit ihrer rechten Hand in einen Vorwärts-Ocho. Andere beschließen so wenig wie möglich zu führen und erklären das dann zur großen Kunst.
Woher kommt dieses ganze geheimnisumwitterte Geschwurbel rund ums Führen? Der Hauptgrund dürfte sein, dass die meisten Tango-LehrerInnen von ihren Maestros durch reines Vor- und Nachmachen gelernt haben. (So schaut ja auch heute noch ein Großteil des Unterrichts aus.) Was er da jetzt genau macht, kann der große Maestro leider nicht erklären, denn er hat seinerseits auch nur durch Nachmachen gelernt. Er macht seine Bewegungen schon seit Jahrzehnten und hat sie so automatisiert, dass sie ihm nicht mehr bewusst sind und er sie deshalb auch nicht mehr verbalisieren kann (oder es vielleicht auch gar nicht möchte). Dass Führen eigentlich ganz einfach ist, hat er noch nie gehört und kann es logischerweise auch nicht weitergeben.
Denselben Effekt kann man auch immer wieder bei den diversen Workshops von Star-TänzerInnen beobachten. Die können ganz großartig (vor)tanzen, aber viele / die meisten (?) können nicht (oder nur unzureichend) erklären, was sie da eigentlich machen und es entsprechend didaktisch-methodisch aufbereiten.
Entscheidend ist als Erstes zu verstehen, dass der Mann ausschließlich mit den beiden Punkten führt, an denen die Frau ihn berührt. Das sind bei offener Haltung seine linke Handfläche und sein rechter Oberarm. Er führt also NICHT, wo er die Frau berührt, also mit seiner rechten Hand auf ihrem Rücken (und mit seinen Fingern auf ihrem Handrücken). Wenn die Männer erstmal gelernt haben, ihre rechte Hand einfach nur sanft auf dem Rücken der Frau abzulegen und damit NICHT zu drücken, ist schon viel gewonnen. Eine gute Übung für das Führen ist deshalb, nur mit dem Oberkörper zu führen. Der Mann lässt seine Arme hängen (oder stützt sie in der Hüfte ab) und die Frau „fasst“ seine Oberarme oder Schultern (siehe dieses Video). Dadurch werden seine Hände und Arme „deaktiviert“ und er kann nicht mehr schieben bzw. drücken.
Der zweite entscheidende Punkt ist, dass die Armhaltung, genauer gesagt die Winkel in den Armen, also der „Rahmen“ (frame) nicht verändert werden darf. Der Mann drückt also nicht mit seiner linken Hand, indem er den Arm streckt und er zieht auch nicht, indem er den Arm stärker beugt. Stattdessen entstehen „Druck“ und „Zug“ z.B. bei Drehungen ausschließlich über die Rotation seines Oberkörpers. Die Frau leistet die ganze Zeit über einen leichten Widerstand, auch wieder ohne den Winkel in ihren Armen zu verändern. Wenn der Mann jetzt seinen Oberkörper nach links dreht, spürt die Frau in ihrer linken Hand Druck und in ihrer rechten Zug. Sie gibt dem Druck nach und folgt dem Zug und dreht ebenfalls, denn sie versucht stets „beim Mann zu bleiben“, also den „Rahmen“ konstant zu halten. Wenn der Mann sich nach rechts dreht, spürt sie entsprechend in ihrer rechten Hand Druck und in ihrer linken Zug und dreht sich entsprechend zur anderen Seite. Beim Gehen spürt die Frau an beiden Punkten gleichmäßigen Druck und setzt diesen Druck in Rückwärts-Bewegung um. Dieses Prinzip von Druck / Widerstand (pressure / resistance) bzw. Druck / Zug (push / pull) wird in diesem Video erklärt. Und wie man eine Drehung führt, wird hier erläutert.
Ein ganz einfaches Experiment macht das Prinzip klar. Die Frau berührt den Mann nur an seinen Oberarmen oder Schultern. Der Mann will jetzt losgehen, aber die Frau will stehen bleiben und widersetzt sich dem Druck. Wie immer sollten man die Rollen tauschen, damit auch der Mann spürt, wie sich „Führung“ für die Frau anfühlt.
Kaum ein Tango-Lehrer benennt die Dinge allerdings so klar und verständlich. Bei „Druck“ und „Widerstand“ verfallen die meisten in Schnappatmung oder werden gleich ohnmächtig. Das sind beides Begriffe, die auf keinen Fall ausgesprochen werden dürfen. Stattdessen ist meistens die Rede von „Energie“, „Impulsen“ oder besonders beliebt „Einladungen“.
Wenn man das zugrundeliegende Prinzip verstanden hat, wird auch sofort klar, warum Führen bzw. Folgen in enger Tanzhaltung (abgesehen vom kleineren Raum) deutlich schwieriger ist. Solange die linke Hand der Frau auf seinem Schulterblatt liegt, hat ihr linker Oberarm immerhin noch Kontakt zu seinem Oberarm und kann Führungssignale „empfangen“. Dieser Kontakt ist jedoch bereits deutlich schwächer, als wenn ihre Hand auf seinem Oberarm liegt. Je höher sie jedoch ihren Arm nimmt (im Extremfall legt sie ihren Arm um seinen Hals), desto weniger spürt sie auf ihren linken Seite irgendwelche Impulse. Aus einem (aus ihrer Sicht) ausgeglichenen links – Mitte (Brust) – rechts, wird jetzt ein ungleichmäßiges Mitte – rechts. Eine didaktische Konsequenz aus dieser Erkenntnis ist natürlich, dass man Führen und Folgen unbedingt erstmal in offener Tanzhaltung lernen sollte.
Ein Essay von Veronica Toumanova beschäftigt sich mit dem Thema: Warum wir “führen” und “folgen” oft missverstehen
Helge Schütt
Interessanter Artikel. Insbesondere bei den Maestros bin ich komplett bei Dir.
Aber: Das Führen sehe ich komplett anders. Das funktioniert definitiv nicht über die Physik der Impulsübertragung. Wenn du mittels Impulserhaltung führst, dann schubst du die Frau durch die Gegend, aber das ist keine besonders angenehme Art zu tanzen.
Nein, sanfter und trotzdem klarer ist die Führung über die Verbindung, komplett ohne Kraft. Die Folgende spürt meine Bewegungen und meine Körperspannung. Das reicht völlig aus. Das ist mein Führungsimpuls, den sie dann in ihre eigene Bewegung umsetzt.
Und wenn man diese Verbindung einmal sauber erklärt bekommt, dann kann man sie auch sehr schnell lernen und anwenden. Das ist wahrhaftig kein Hexenwerk.
Jochen Lüders
Sorry, aber dein Kommentar wird der Komplexität des Themas nicht gerecht.
> Nein, sanfter und trotzdem klarer […] spürt meine Bewegungen
Was heißt denn „Verbindung“ genau und wie bzw. wo „spürt“ die Frau deine Bewegungen? Ich beschreibe sehr konkret, wie die „Verbindung“ meiner Meinung nach aussieht und wo die Frau was spürt. Wenn du anderer Meinung bist, dann musst du schon auch entsprechend mehr ins Detail gehen.
Helge Schütt
Ich werde dazu wohl einen Blog Artikel schreiben müssen. Ich melde mich, wenn ich den fertig geschrieben habe.
Spoiler vorab: Man kann auch komplett ohne Körperkontakt führen. Das ist insbesondere meine Empfehlung an Führende, die meinen, dass eine klare Führung über mehr Kraft und stärkere Impulse erreicht wird. Aber das macht es ja in Wirklichkeit nur noch schlimmer.
Jochen Lüders
> Ich werde dazu wohl einen Blog Artikel schreiben müssen.
Es würde schon reichen, wenn du in ein paar Sätzen beschreiben würdest, wie deine mysteriöse „Verbindung“ (kann ja wohl nur die Umarmung / Tanzhaltung sein) funktioniert.
> Man kann auch komplett ohne Körperkontakt führen.
Aha, Männer lernen also das Führen mit Körperkontakt, indem sie lernen OHNE Kontakt zu führen? Unterrichtest du so einen Quatsch?
> mehr Kraft
Was hast du eigentlich ständig mit „Kraft“? Ich benutze das Wort kein einziges Mal.
Helge Schütt
Zum Thema „Kraft“: Du sprichst nicht von Kraft, sondern von „Zug“ und „Druck“, die deiner Meinung nach für die Führung benötigt werden. Beides erfordert Kraft oder etwa nicht?
Jochen Lüders
Siehe dazu den ersten Teil meiner Antwort auf Cassiel.
Helge Schütt
Ja, in der Tat unterrichte ich solchen „Quatsch“. Und zwar mit gutem Erfolg. Gerade gestern Abend kam ein Schüler von mir auf einer Milonga zu mir, nachdem er mit einer erfahrenen Milonguera getanzt hatte und sagte mir: „Das geht ja alles federleicht. Mit ihr konnte ich auch die wildesten Drehungen ohne jede Anstrengung tanzen.“
Jochen Lüders
> Ja, in der Tat unterrichte ich solchen „Quatsch“.
Na dann, ERKLÄR doch mal, wie du unterrichtest bzw. wie das mit der Führung ohne Körperkontakt funktioniert. Geht ja dann wohl nur über Blickkontakt. Der Mann geht los, die Frau sieht das und geht auch los. Sie sieht, dass er dreht und deshalb dreht sie auch. Soweit alles klar. Was haben die beiden bislang über Führung gelernt? Und vor allem: Wie geht’s jetzt weiter?
Helge Schütt
Das ist ja genau dein fundamentaler Irrtum. Du gehst davon aus, dass Führung über Zug und Druck funktioniert. Deswegen brauchst Du natürlich auch Ansatzpunkte, über die dieser Zug und Druck an die Folgende übertragen werden.
Ich habe hier beschrieben, wie Führung meiner Ansicht nach funktioniert: https://helgestangoblog.blogspot.com/2023/04/fuhren-und-folgen.html
Wie Du siehst, komme ich komplett ohne Zug und Druck aus und brauche dementsprechend auch keine Ansatzpunkte, über die diese Kräfte übertragen werden.
Zur Verbindung schreibe ich in den nächsten Tagen noch etwas.
Jochen Lüders
> Ich habe hier beschrieben, wie Führung meiner Ansicht nach funktioniert: […] Die Verbindung erfordert keinerlei physischen Kontakt […] Der Führende bewegt sich wie oben beschrieben. Dann wird die Folgende diese Führungsimpulse aufnehmen und in eigene Bewegungen umsetzen. Das funktioniert. Einfach so, ohne jede Erklärung.
An dieser Stelle würde ich die Diskussion gerne beenden. Führung ohne „physischen Kontakt“, die „einfach so“ gelingt. Sorry, das ist mir einfach zu doof.
Helge Schütt
Hallo Jochen,
ich habe jetzt auch den Blog Beitrag zur Verbindung fertiggestellt, siehe https://helgestangoblog.blogspot.com/2023/05/verbunden-im-hier-und-jetzt.html
Viel Spaß beim Lesen und Ausprobieren!
Liebe Grüße,
Helge
Jochen Lüders
Ich bewundere deinen Mut so einen hanebüchenen Unsinn zu veröffentlichen und dich damit zum Gespött der ganzen Szene zu machen. Nehmen wir nur mal dein lächerliches „Beweis“-Video. Das ist ein Showauftritt und für den Anfang haben sie diese Kombination aus Kreuz- und Rebound-Schritten eingeübt. Mit jeder besseren Tänzerin tanze ich das nach ca. 20 Minuten genauso. Dafür braucht’s keine mysteriöse „Rückenmark“-Verbindung.
> „Wenn du dieses siehst, dann tue jenes“
> es gibt kein „richtig“ oder „falsch“.
Totaler Quatsch. Sie soll nachmachen, was er vormacht (was ja auch nicht immer gelingt). Natürlich wäre es falsch, wenn sie plötzlich anfangen würde Ochos zu tanzen. Es ist eine einstudierte CHOREO!
> Es gibt in der Verbindung kein „Push“ oder „Pull“.
Natürlich nicht, sie berühren sich ja gar nicht. Die beiden haben das Ganze einstudiert und außerdem SIEHT sie, was er macht.
Klaus Wendel
Hallo Jochen,
das Problem, das auch ich beim Lernen bei Lehrern hatte, dass kaum konkrete Hilfen oder Anleitungen für die Führung vermittelt wurden. Bei Antonio Todaro wurde viel mit den Armen und den Händen und dem Oberkörper geführt, die Führung war sehr unmittelbar mit „mechanischen Mitteln“ für die Frauen alles andere als angenehm. Allerdings hat Antonio in einer Zeit (Anfang der 60er) unterrichtet, in der fast nur Männer in Pràcticas lernten und das Gelernte am Wochenende mit ihren Partnerinnen umsetzen sollten. Diese Männer lernten aber über die Frauenrolle das Bewegungsrepertoire der Frauen und auch welche „marcas“ man braucht. Dieses Verständnis fehlt den meisten Männern heute, deshalb ist es gut, wenn man Tango per „double role“ lernt.
Ich hatte mal vor Jahren eine gute Unterrichtsstunde bei Sergio Molini und Giselle Graef-Marino. (Brüssel) Sie erklärte mir, dass das Führen für sie eher dem „Öffnen von Räumen“ entspricht, die sie dann auch gerne „betritt“. ER sollte als IHR rechtzeitig im musikalischen Timing den Raum für den nächsten Schritt anzeigen und öffnen. Die Umarmung „blockiert“ oder „öffnet“ diese Räume. Es ist aber nicht nur ein technisches Problem, sondern auch ein mentales: Die Führenden sollten zuerst immer mental die jeweiligen Bewegungsmöglichkeiten und das Timing der Partnerin „verstehen“ und effektiv, also ohne großen technischen Firlefanz, anleiten. Die Bewegungen des Mannes sind dann immer nur Reaktion, also Konsequenz, auf die Bewegungen der Frau – erfolgt also auch, bzw. begleite sie.
Die Übungen dazu, wie man dieses Unterfangen vermitteln sollen, sind sehr umfangreich und verlangen viel Einfühlung und Bewegungsverständnis. Manche Männer lernen es sehr schnell, aber diejenigen, die nur an ihre eigenen Schritte denken, lernen es fast garnicht.
Für Bewegungslegastheniker im fortgeschrittenen Alter ohnehin eine völlige Überforderung.
Jochen Lüders
> Sie erklärte mir […] anzeigen und öffnen.
Das ist zweifelsohne ein schönes Bild, aber ich würde (vor allem als Anfänger) natürlich gleich als nächstes fragen: WIE soll ich bitteschön diesen Raum „öffnen“? Und wenn ich dann als Antwort bekomme, dass ich die Frau zu ihren Seitwärtsschritt (oder was auch immer) „einladen“ soll, dann bin ich keinen Deut schlauer, weil einfach nur eine Metapher (einen Raum öffnen) durch eine andere (jemanden zu etwas einladen) ersetzt wurde.
Wenn du mir hingegen sagst, dass ich mein Gewicht aufs andere Bein verlagern soll und gleichzeitig den Oberkörper irgendwohin drehen soll, dann kann ich das umsetzen.
Wenn ich einem Mann erklären will, wie er das Damen-Solo beim Disco Fox führen soll, sag ich ihm, dass er seine linke Hand heben und mit seiner rechten Hand leichten (!) Druck auf ihre Schulter ausüben soll. Das versteht er normalerweise und kann es (mit ein bisschen Übung) umsetzen. Wenn ich ihm jedoch sage, dass er mit seiner linken Hand den Raum für ihr Solo „öffnen“ oder zu einem Solo „einladen“ soll, hat er keine Ahnung was er machen soll.
> Die Bewegungen des Mannes sind dann immer nur Reaktion
Das mag auf (sehr) fortgeschrittenem Niveau so sein, für den Anfangsunterricht bringt dieses Konzept m.E. gar nichts und verwirrt nur.
Klaus Wendel
Ich kann durchaus verstehen, dass man mit Metaphern wenig anfangen kann und konkrete Anleitungen braucht. Das kann man nur anhand eines Beispiels und wenn man einmal damit schriftlich anfängt, wird die Beschreibung so komplex, dass dabei meistens Missverständnisse entstehen. Tango schriftlich erklären wird dann ein unendliches Unterfangen. Ich glaube, dass im praktischen Unterricht viel konkretere Hinweise und Hilfen kommen. Wenn ich aber erkläre, dass die Führung zum Öffnen meisten über eine Drehung der Schultern erfolgt, ist die Bewegungsbeschreibung allein nicht hilfreich, weil sie immer im Kontext zur Bewegung der Partnerin sinnvoll ist. Eine Beschreibung der Gewichtsverlagerung nutzt auch nichts, weil man die Partnerin auch im gekreuzten Schrittsystem mit konträrer Gewichtsverlagerung führen kann. Also braucht man zur schriftlichen Beschreibung schon einige Parameter, die nur alle zusammengenommen Sinn ergeben. Kennst Du zum Beispiel alle Bewegungssysteme im Tango: z.B. das lineare oder konträre Richtungssystem, oder das parallele oder konträre Rotationssystem? oder alle wichtige Achsen? Alles strukturelle Beschreibungen. Ich will aber hier nicht dozieren, sondern nur auf die Schwierigkeit der Tango-Bewegungsanalyse hinweisen, denn nicht umsonst gibt es komplexe Notationen wie z.B. Laban oder die „Struktur des Tangos“ von Mauricio Castro. Das ist das was das Trio Naveira, Salas und Chicho, (bzw. Veron) als „Tango nuevo“ Mitte der 90er Jahre entwickelten. Deshalb ist die Forderung nach Erklärungen, die nicht Metaphern ähneln, sehr schwierig.
Zum Beispiel das Wort „Impulse“: Es gibt sehr viele Arten von Impulsen, aber trifft den als Bild den Nagel auf den Kopf.
Jochen Lüders
> Kennst Du zum Beispiel alle Bewegungssysteme im Tango
Nein, wozu auch? Mich interessiert auschließlich, wie ich einem Anfänger das Prinzip der Führung klarmachen kann. Dazu brauche ich auch keine „komplexen Notationen“.
> Ich glaube, dass im praktischen Unterricht viel konkretere Hinweise und Hilfen kommen.
Richtig, und nur die interessieren mich. Eine Metapher ist per definitionem „bildlich“ und nicht konkret.
> Tango schriftlich erklären wird dann ein unendliches Unterfangen.
Nö, was du konkret sagen kannst, kannst du auch schreiben. Dass das alleine nicht reicht und das Spüren / Fühlen dazukommen muss, ist ja eh klar.
cassiel
Ein langer Artikel; ich habe ihn gerne gelesen. Mein Tango entwickelt sich gerade komplett anders. Die Führung mittels irgendwelcher Impulse (aus welchem Arm auch immer) habe ich mir schon vor Jahren abgewöhnt und versuche immer mehr Kraft aus meinen Impulsen zu nehmen.
Bei Melina und Detlef habe ich vor etwa 10 Jahren das Konzept der gegenläufigen Oberkörperbewegung (Counterbody Movement) in meinen Tango importiert (gemeint ist, dass ich – wenn ich beispielsweise mit dem linken Fuß einen Vorwärtsschritt machen möchte – die linke Schulter leicht zurück nehme. Vielleicht kann man es am besten nachvollziehen, wenn man ohne Benutzung eines Geländers eine Treppe freihändig hinaufgeht. Da ist die gegenläufige Oberkörperbewegung schon aus Balancegründen sehr ausgeprägt.
Bei Celine und Alexis wandelt sich dieses Konzept nun. Sie propagieren eine Kommunikation im Paar, die aus der Dreiecksachse heraus entsteht. Die Eckpunkte dieses Dreiecks sind die beiden Füße und der Schwerpunkt des eigenen Körpers. Verknüpft mit der Verwurzelung im Boden entstehen Impulse, die transportabel sind (besser kann ich es in der Kürze dieser Bemerkung nicht beschreiben).
Beide Konzepte verzichten total auf die Arme (sowohl für Push als auch für Pull). Detlef hatte einmal die Devise ausgegeben: Arme die umarmen arbeiten nicht. Den Gedanken finde ich unmittelbar einleuchtend.
Wenn man diese Ideen mit einem alternativen Verständnis von Führen und Folgen kombiniert (Vor beinahe 15 Jahren hat das ein Australischer Tanguero in der Mailingliste TANGO‑L einmal so beschrieben: • The man & the woman need to be able to dance independently in order to achieve true connection. • The woman needs to help the man just as much as he helps her (for example, in turns). • If the woman is going to relax in the dance, she needs to feel secure. • To achieve connection in tango, the man & the woman need to dance as equals. • In tango, the man proposes, the woman responds, then he follows her.), kann man sehr entspannt und ohne Kraftausübung über Stunden wunderschön tanzen.
Klaus Wendel
Lieber cassiel,
die Beschreibung des australischen Tänzers „…In tango, the man proposes, the woman responds, then he follows her…“ erklärt auch meinen Satz > Die Bewegungen des Mannes sind dann immer nur Reaktion darauf – auf Ihre Aktion- am besten. Danke für diese wunderbare Erklärung.
Allerdings ist die Formel „Arme die umarmen arbeiten nicht“ zwar wahr, aber eine Umarmung kann auch entspannt, ohne Aktion, Bewegungen blockieren oder öffnen. Allein schon wenn sich die Körper an einer Stelle berühren, kann dieser Berührungspunkt beide dazu verführen, ihn zum permanenten Referenzpunkt der Umarmung mit sehr eingeschränkter Bewegungsfreiheit zu machen. Ein vielfach beobachtetes Phänomen bei „Engtänzern“.
Jochen Lüders
> mehr Kraft / Arme die umarmen arbeiten nicht / ohne Kraftausübung
Nur zur Klarstellung: An keiner Stelle schreibe ich irgendwas von „Kraft“ oder „arbeiten“. Natürlich assozieren wir „Druck“ mit „Kraft“ (z.B. eine Tür aufdrücken), aber wenn du – wie ich hoffe – die beiden Video angesehen hast, hast du gesehen, dass da keine „Kraft“ angewandt wird.
Natürlich wenden Anfänger zu Beginn zu viel Kraft auf, einfach weil die Bewegung noch zu grob und nicht differenziert genug ist. Aber das ist bei jeder neuen Bewegung so, egal ob du Baggern im Volleyball oder einen Drehimpuls im Disco Fox lernen willst.
> Die Führung mittels irgendwelcher Impulse […] habe ich mir schon vor Jahren abgewöhnt. / entstehen Impulse, die transportabel sind
Tut mir leid, aber nach den üblichen Regeln der Logik ergibt das keinen Sinn. Entweder es gibt irgendwelche (magischen) Impulse oder es gibt keine.
Und wenn du z.B. deine „linke Schulter leicht zurücknimmst“, dann ist genau das der Impuls, auf den deine Partnerin reagiert. Dann geht deine rechte Schulter leicht nach vorne und deine Partnerin spürt in ihrer linken Hand einen leichten / sanften / subtilen / minimalen „Druck“ (keine „Kraft“!) und in ihrer rechten Hand den entsprechenden „Zug“ und wird sich mitdrehen. Und schon hast du einen Impuls „transportiert“. 😉
Jochen Lüders
> The man & the woman need to be able to dance independently in order to achieve true connection.
Das sind so Sprüche / „Weisheiten“, die ohne nähere Erklärung meiner Meinung nach völlig sinnlos / nichtssagend sind. Das entscheidende Wort ist hier „independently“ (unabhängig voneinander). Was ist damit gemeint?
Jeder soll in seiner Achse stehen und sich nicht am anderen festhalten bzw. sich an ihn lehnen? Einverstanden.
Der Mann soll so wenig wie möglich führen, damit die Frau „unabhängig“ / „selbständig“ den Tanz selber gestalten kann? Nö, nicht einverstanden, das ist genau das Gegenteil von „true connection“ (vgl. https://jochenlueders.de/?p=15907)
Helge Schütt
Drei Daumen hoch. Genauso funktioniert Führung.
Jochen Lüders
Jetzt wäre es hilfreich zu wissen, was genau du meinst. Ich vermute mal, du meinst die Riedlsche Tunix-Philosophie. Also, die beste Führung ist die, die gar nicht stattfindet. WAS bringst du dann eigentlich deinen Männern bei?
Helge Schütt
Ich meine genau das hier:
„Beide Konzepte verzichten total auf die Arme (sowohl für Push als auch für Pull).“
Meinen Führenden bringe ich genau das bei, was ich in meinem Blog Beitrag beschrieben habe: Geführt wird ausschließlich über Körperspannung und Bewegungen des Oberkörpers. Nicht über die Arme und nicht über die Beine. Und das ist eine ziemlich anspruchsvolle Arbeit, die nicht das Geringste mit einer „Tunix-Philosophie“ zu tun hat.
Offenbar ist Dir dabei nicht klar, wie die Kommunikation im Paar über die Verbindung funktioniert. Das ist in der Tat hier im Forum schwer zu beschreiben. Am einfachsten wäre es wohl, wenn ich es dir bei einem persönlichen Treffen mal zeigen würde.
Klaus Wendel
Hallo Jochen,
Wir haben doch anfangs von Führung beim Tango im Allgemeinen gesprochen. Zumindest Dein Artikel handelt doch auch nicht von konkreten Führungssituationen, sondern von Führungsprinzipien. Diese beinhaltet viele unterschiedliche Beschreibungen, die auch in vielen unterschiedliche tänzerische Situationen jeweils völlig anders sind. Wenn Du das konträre Rotationsprinzip kennen würdest, wüsstest Du, dass die Schultern beider Tanzpartner in der Umarmung zueinander parallel oder konträr (das „aneinander rollen“-Prinzip) rotieren können. Beides sind völlig unterschiedliche Bewegungen, abhängig davon, ob die Partnerin vorwärts- oder rückwärts kreuzen möchte/soll. Allein schon deshalb, kann man keine allgemein-gültige, konkrete Anweisungen machen. Hier kann man also nur allgemeine Prinzipien der Führung anhand von Metaphern benutzen. Bei konkreten Situationen, z.B. : „wie führte man einen Vorwärts-Ocho auf der geschlossenen Seite?“, könnte man eine genaue, konkrete Beschreibung machen. (konträre Rotation der Schultern: also rechte Schulter zurücknehmen, die rechte Hand etwas lösen, viel Raum für ihren Schritt lassen, usw. ‑andere Tänzer machen es vielleicht anders, bei mir funktioniert es so)
Aber was Du mit Deinem Wunsch nach konkreten Beschreibungen für Führung im allgemeinen verlangst, ist uns also garnicht möglich.
Das ist so, als wenn Du eine Anleitung für das Autofahren allein auf Lenkbewegungen reduzieren würdest.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Wendel
Jochen Lüders
> Aber was Du mit Deinem Wunsch nach konkreten Beschreibungen für Führung im allgemeinen verlangst, ist uns also garnicht möglich.
Dann erklär doch mal, warum das Konzept in dem von mir verlinkten Video (https://www.youtube.com/watch?v=QY1wdFsO3hE) deiner Meinung nach falsch ist. Es ist „allgemein“, klar, einfach und es funktioniert:
„Adam Cornett was born and raised in Portland, Oregon. He began dancing in 2000 when he was 18 years old. After learning many dances Adam quit learning all the other dances so that he could focus specifically on Argentine Tango. Adam taught locally for 12 years in Portland with just a few traveling jobs in those years. In 2014 Adam moved to Boston to partner with Tilly Kimm, his first professional partner.
Adam and Tilly were invited to teach in many festivals and to teach workshops in many cities around the US and the World. Adam and Tilly won the US Salon Championship in 2016. In 2018 Adam partnered with world Champion Maria Ines Bogado for a short tour in the US and in 2018–2019 Adam partnered with world champion Jesica Arfenoni.
In 2019 Adam moved to China to teach tango in Beijing and taught at the prestigious Beijing Dance Academy. “ (Quelle: https://tangowithadam.com)
Das ist also kein Kaschperl, der keine Ahnung hat, wovon er redet.
Klaus Wendel
Weder habe ich mich irgendwann mal über dieses Video geäußert oder habe ich dieses Paar beurteilt oder disqualifiziert, noch habe ich irgendeine Beschreibung von Dir kritisiert.
Diese beschriebene Technik ist doch bekannt und wird doch auch oft umgesetzt.
(Es funktioniert aber auch anders, gibt also Alternativen.) Es gibt also nicht immer nur eine Technik, sondern mehrere. Man kann bei dieser Technik allerdings mit hoher Spannung oder aber auch ohne Spannung, also mit winzigen Impulsen. führen. Der Nachteil ist, dass in der Praxis die meisten Paare dabei eine hohe Daueranspannung aufrechterhalten, wie beim Armdrücken. Außerdem ist sie nicht so kompatibel, weil sie nicht alle kennen. Denn die Hände(Arme) funktionieren in diesem Fall wie „Telefone“ zur Verständigung, er gibt die Impulse, sie empfängt, ohne dieses häßliche Rudern mit den Armen (wie Du es auch beschreibst). Und ich arbeite damit auch schon sehr lange.
Die unterschiedlichen Umarmungen jedoch, zum Beispiel – eng oder offen – (wobei nicht die Nähe der Partner zueinander gemeint ist, sondern die Bewegungsfreiheit), verlangen auch andere Führungstechniken. Die Führungen von Chicho Frumboli oder Teté Rusconi sind, je nacht Tanzstil, völlig unterschiedlich. (obwohl Chicho beide beherrscht) Die Umarmung der Contest-Pista-Tänzer ist anders als die Tänzer des Milonguero-Tänzers, Canyengue anders als Tango de Salon.
Die Interessen der Tanzschüler in Beginnerkursen sind oft völlig unterschiedlich: Einige möchten viel Partnertausch, die andern nur „offen“ mit ihren eigenem Partnern viele Figuren tanzen.
Den Fehler, den viele Lehrer machen, ist der, dass sie alles auf ihren eigenen Tanzhorizont beschränken und damit zwischen falsch und richtig entscheiden.
Du sagst zum Beispiel, das beide Tanzpartner „zumindest in ihrer Gleichgewichtachse“ stehen sollten. (Stimme ich mit überein, weil sich die enge Haltung garnicht auf alle Paare allein schon wegen Größenunterschied übertragen läßt.) In B.A. ist das hingegen garnicht so eindeutig. Viele tanzen dort gegeneinander gelehnt.
Diese Technik im Video geht also von einer bestimmten Umarmung aus, damit sie funktioniert. Engtänzer, die ihre Schultern immer nur parallel zueinander ausrichten, könne damit nichts anfangen.
Also, die Vielfalt der Führungstechniken, auch der Umarmungen, der Interessen, verlangt unterschiedliche Führungstechniken, und nicht nur die EINE. Deshalb ist eine Diskussion darüber so schwierig, man müsste erst einmal die Kriterien festlegen.
Jochen Lüders
> Weder habe […] Dir kritisiert.
Habe ich auch gar nicht behauptet bzw. impliziert. 😉
> Diese beschriebene Technik ist doch bekannt und wird doch auch oft umgesetzt.
Mag sein, aber so klar und einfach erklärt und beschrieben wird sie meines Wissens NIE. Das sieht man ja schon an den bisherigen Kommentaren, wo die Leute immer gleich an „Kraft“, „arbeitende“ Arme usw. denken.
> Es funktioniert aber auch anders, gibt also Alternativen.
Auch das habe ich nie bezweifelt. Was mich (und dich ja wohl auch) interessiert: Was ist die für Anfänger beste Methode?
> Und ich arbeite damit auch schon sehr lange.
Wunderbar, dann sind wir uns ja einig.
> Der Nachteil ist, dass in der Praxis die meisten Paare dabei eine hohe Daueranspannung aufrechterhalten
Stimmt, aber das hat meistens viel tieferliegende Ursachen wie schlechte Haltung und daraus resultierende Verspannungen und Koordinationsprobleme. Das kriegt man nicht mit ein paar Lockerungsübungen weg.
> Viele tanzen dort gegeneinander gelehnt.
Wenn das den Leuten gefällt, sollen sie es gerne so machen. Ich würde es lediglich Anfängern NICHT so beibringen. Vor allem wegen der negativen Folgen fürs (entspannte) Gehen (siehe https://jochenlueders.de/?p=16147).
Ich bin ja eh dafür, dass die Leute auf fortgeschrittenem Niveau auch andere Stile kennenlernen und ausprobieren, bzw. dass man ihnen zumindest mal sagt, dass es auch andere Stile gibt.
> und damit zwischen falsch und richtig entscheiden.
Das wäre jetzt eine neue Diskussion. 😉
Wir sind uns doch einig, dass wir das Riedlsche „Im Tango gibt es kein richtig und falsch“ ablehnen. Natürlich IST es (unabhängig von irgendeinem Stil) falsch, wenn der Mann die Frau im Schraubstock hält, mit seiner rechten Hand an ihr rumzerrt, ihre rechte Hand abknickt und/oder verdreht bzw. wenn sie an ihm wie Sack hängt.
Aber ich denke, du meinst, dass man einen bestimmten Stil nicht von vorneherein ablehnen sollte und da stimme ich absolut zu.
> man müsste erst einmal die Kriterien festlegen.
Die sind doch im Anfängerbereich ganz einfach: Die Leute sollen schnell Erfolgserlebnisse und Spaß am Tanzen haben / bekommen. Der Mann soll möglichst schnell stressfrei das Kreuz, den Ocho (oder was auch immer) führen und die Frau soll ihn möglichst schnell stressfrei „verstehen“ können und sich vor allem wohl fühlen.
Klaus Wendel
Hallo Jochen,
[…]Wir sind uns doch einig, dass wir das Riedlsche „Im Tango gibt es kein richtig und falsch“ ablehnen. Natürlich IST es (unabhängig von irgendeinem Stil) falsch, wenn der Mann die Frau im Schraubstock hält, mit seiner rechten Hand an ihr rumzerrt, ihre rechte Hand abknickt und/oder verdreht bzw. wenn sie an ihm wie Sack hängt.[…]
Ich unterscheide da eher zwischen „bequem und unbequem“, häßlich und elegant“, „effektiv und ineffektiv“. Manche Führung ist unbequem, aber effektiv und erfüllt damit seinen Zweck (aber nicht, wenn man seine Partnerin länger genießen möchte. 😀 ).
Ich kenne viele Tänzer, die nicht elegant führen, aber sehr beliebt sind. Für Salontänzer ist unelegant aber falsch. Wer entscheidet jetzt was falsch oder richtig ist? Die Partnerinnen oder die Zuschauer?
Natürlich erkläre ich im Unterricht, wie es sein sollte, die Schüler verstehen es dann als richtig.
Aber ich erkläre auch viele Dinge, die in der Community nicht gut gemacht werden, ja sogar „falsch“, aber ich muss den Schülern erklären, wie sie damit klar kommen, denn ich kann die Allgemeinheit da draußen ja nicht ändern. Man muss also notgedrungen Dinge akzeptieren, weil man keinen Einfluss darauf hat. (zum Beispiel dieses entsetzliche Kopfdrücken, welches ich strikt zum „no go“ erkläre.) Es gibt eben Dinge, die kann ich auch nicht ausstehen, aber sie werden praktiziert. damit muss man sich abfinden. Im Grunde müsste ich viele Fehler unterrichten, damit sie da draußen kompatibel tanzen können. Mache ich aber nicht.
Wenn ich Anfängern aber nur erklären müsste, wie man in einem „encuentro“ tanzt, brauchte ich nur ¾ Jahr, weil das gebräuchliche Figurenrepertoire ja nur aus cortes und ocho cortados zu bestehen scheint. Den Rest machen die Schüler dann über eigene Erfahrungen. (da sehe ich schon die Tomaten fliegen). Kann ich aber beweisen.
Gerhard Riedl
Ich will mich ja nicht weiter einmischen, fände es aber fair, angebliche Zitate von mir korrekt zu verwenden: „Im Tango gibt es kein richtig und falsch“ gibt meine Ansichten entstellt wieder. Mir geht es darum, diese Vokabeln im Tangounterricht zu vermeiden, weil das die Lernenden nur verspannt.
Und Tango ist mit Sicherheit keine exakte Wissenschaft.
Jochen Lüders
> Mir geht es darum, diese Vokabeln im Tangounterricht zu vermeiden, weil das die Lernenden nur verspannt.
Ein originelles pädagogisches Konzept (besonders von einem ehemaligen Lehrer)! Der Mann zerquetscht mir die rechte Hand und die Frau hängt an mir wie ein Mehlsack und ich soll das nicht korrigieren und sie weiterwurschteln lassen, weil sie sich „verspannen“ könnten. Der Mann IST bereits „verspannt“ und die Frau bräuchte im Gegenteil etwas KörperSPANNUNG.
Im Chemieunterricht war ich auch immer „verspannt“, weil ich diese dusseligen Formeln nicht kapiert habe.
Gerhard Riedl
Offenbar muss ich das nun büßen…
Eine leichte Körperspannung ist etwas anderes als eine Verkrampfung, weil man fürchtet, das der Herr Tangolehrer einem gleich wieder ein „Falsch“ überzieht.
Natürlich muss man unggeignete Dinge auch im Tango korrigeren. Aber bitte als freundliche Anregung und nicht in einer Weise, die auch im Schulunterricht nicht mehr als Mittel der Wahl gilt!
Jochen Lüders
> zum Beispiel dieses entsetzliche Kopfdrücken
Was meinst du?
Ich kann es nicht ausstehen, wenn die Frau ihren Kopf nach rechts dreht und ich dann ihre harte Stirn irgendwo im Gesicht habe. Ich verstehe, dass Frauen auf diese Art leichter nach unten auf seine Füße schauen können und visuell interpretieren, was als Nächstes kommen könnte. Aber trotzdem ist das eine sehr unangenehme Haltung.
Jochen Lüders
> Kann ich aber beweisen.
Was willst du denn da „beweisen“? Man braucht sich doch nur entsprechende Videos anzuschauen, wie dieses hier: https://www.youtube.com/watch?v=GVvj9Wc77‑M
Ich schätze ja Gerhard Riedls Humor, er nennt das sehr treffend „Schwof der Untoten“. Was da „getanzt“ wird, bringe ich jedem/r in ein paar Monaten bei. Aufs Gehen verzichten wir schon mal völlig, denn man kreiselt ja eh nur auf der Stelle rum. Molinete & Co braucht man auch nicht, man lässt die Frau einfach im Zeitlupentempo um sich rumlaufen. Ich bin immer wieder baff, dass Leute für so was einen Haufen Geld bezahlen und Gottweißwohin fahren.
Harald Bruster
Ja, es ist wahr: Beim Thema Führen und Folgen (F&F) wird unglaublich viel geschwurbelt! Das zeigt auch Diskussion in den Kommentaren. Und ich stimme Jochen zu: F&F hat viel mit Physik und wenig mit Metaphysik zu tun. Physik kann man erklären (Metaphysik allenfalls beschreiben).
F&F ist aber auch Kommunikation, nonverbale Kommunikation. Kommunikationsfehler lassen sich auf drei Ursachenquellen zurückführen: Auf den Sender, auf den Empfänger und auf die Übertragung. Die Ansagen im Unterricht adressieren nach meiner Wahrnehmung überwiegend den Führenden (Sender) und berücksichtigen zu wenig dieses dreipolige Kommunikationssystem mit seinen unterschiedlichen Fehlerquellen.
Die Kritik an der Vermittlungskompetenz bekannter (argentinischer) Tanzgrößen teile ich. Allerdings habe ich aus einem Seminar mit so einem sehr bekannten Tänzer einen Satz mitgenommen, an den ich immer wieder denke: „Follow your lead!“ Sehr verkürzt übersetzt: Führe und folge dann dem, was die Folgende verstanden hat.
Klaus Wendel
Hallo Harald,
„Follow the lead“ wurde ja bereits mit dem Satz „…In tango, the man proposes, the woman responds, then he follows her…“ eindeutig beschrieben.
Jochen Lüders
> „Follow your lead!“ […] Führe und folge dann dem, was die Folgende verstanden hat.
Das ist eine, vorsichtig formuliert, kühne „Übersetzung“ bzw. Interpretation. Mag sein, dass der „sehr bekannte Tänzer“ kein englischer Muttersprachler war und etwas anderes gemeint hat, aber der Satz heißt schlicht und ergreifend: „Folge dem Führenden / Mann.“
„lead“ (bzw. „follow“) sind „gender-neutrale“ Verkürzungen von „leader“ (bzw. „follower“). Siehe z.B. „To The Leads Who Feel I Should Follow Everything“ / „Most leads and follows resoundingly agreed with me“ / „However, not all leads took the story that way.“ (Quelle: https://danceplace.com/grapevine/to-the-leads-who-feel-i-should-follow-everything/)
„lead“ bedeutet hier also nicht „Führung“ (what you’ve led).
Das ganze Konzept „Mann folgt Frau“ bzw. „Führender folgt dem, was die Frau verstanden hat“ halte ich (zumindest für den Anfangsunterricht) für nicht sehr hilfreich. Meistens läuft es auf absolut Banales hinaus.
Im einen Fall ist damit gemeint: Wenn du z.B. einen Ocho einleitest, dann führe die Bewegung auch bis zum Ende (und bleib nicht plötzlich stehen oder mach was ganz Neues). Das ist so trivial wie: Wenn du jemand die Hand schütteln willst, nimm seine und zieh deine nicht im letzten Moment weg.
Im anderen Fall ist gemeint: Wenn deine Partnerin das mit dem Ocho nicht verstanden hat, brich die Bewegung ab und zerr sie nicht durch die Gegend.
Beides hat im „folgen“ im Tango-typischen Sinn nichts zu tun und verwirrt die Männer nur, wenn sie jetzt nicht nur „führen“ (was ja schon schwer genug ist), sondern auch noch „folgen“ sollen.
Jochen Lüders
Ich verwende „folgen“ für den Führenden/Mann ausschließlich für die Fälle, wo die Frau „selbständig“ etwas macht, was ich nicht geführt habe.
Siehe die letzten beiden Absätze von https://jochenlueders.de/?p=15907
Klaus Wendel
Hallo Jochen,
was die Übersetzung von „lead“ angeht, hast Du natürlich recht. Allerdings ist es bei Cassiel ja besser beschrieben: „In tango, the man proposes, the woman responds, then he follows her.“ – Übersetzung: „Beim Tango macht der Mann einen Vorschlag/Angebot, die Frau antwortet, dann folgt er ihr.“ (Das hört sich zwar zeitlich sehr schwerfällig an, aber in Realität ist es fast zeitgleich.)
Was auch in Daniel Trenner’s Artikel die „base“ sehr gut beschrieben wird, was ein guter Tänzer können sollte: nämlich, dass er vorrangig den „Schrittablauf der Partnerin“ antizipieren, Führen sollte, um dann jeweils mit unterschiedlichen Schritt- oder Bewegungs-Variationen folgen kann. Das beschreibt er so:
„1. Das Skelett des Tanzes ist das Gehen des Folgenden, das vom Führenden entworfen wird.
2. Der Führende schafft die nächste Stufe, indem er einen Schritt in die Räume des Bewegungsmusters setzt, das der Folgende selbstbewusst ausführt.
3. Beide dekorieren nun diese zwei verwobenen Schritte mit einer Schicht von Verzierungen.“
Ich schicke Dir den Artikel mal zu.
Ferner schreibst Du: […]„Das ganze Konzept „Mann folgt Frau“ bzw. „Führender folgt dem, was die Frau verstanden hat“ halte ich (zumindest für den Anfangsunterricht) für nicht sehr hilfreich. Meistens läuft es auf absolut Banales hinaus.“[…]
Das kannst Du nur schreiben, weil Du es noch nicht ausprobiert hast. Ich beschreibe das zwar nicht in den ersten Unterrichtsstunden, aber nach etwa 4 Wochen, wenn die Beginner das dann differenzieren können. Meine Erfahrung ist da sehr positiv, weil den Schülern das „gehen“ viel leichter fällt. Warum das so ist, beschreibt Mauricio Castro in seinem Buchkapitel („Die Struktur des Tangos“) : „Der Fusionspunkt“. Wobei im Tango der „Fusionspunkt“ nicht, wie im Artikel beschrieben, der Zielort des Leaders ist , sondern der räumliche und musikalische Schrittablauf der Partnerin.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Wendel
Jochen Lüders
> Das kannst Du nur schreiben, weil Du es noch nicht ausprobiert hast.
Stimmt! Ich habe fast ausschließlich Männer, die ihr ganzes Leben lang nicht getanzt haben, die sich nicht um ihren Körper gekümmert haben und die meistens unmusikalisch sind. Für die ein Wechselschritt / eine „Verdoppelung“ bereits eine Herausforderung darstellt, noch dazu, wenn sie gleichzeitig noch z.B. ein Kreuz führen sollen. Und denen soll ich jetzt mit „Fusionspunkten“ kommen? Echt jetzt? Alles, was sie wollen ist möglichst schnell auf Milongas zu gehen. Was ja völlig ok ist. Also bringen ich ihnen Gehen, Kreuz, Drehen, Ocho Cortado, Ochos und Molinete bei – fertig. Das reicht ihnen (eigentlich reicht ja noch viel weniger, siehe das Encuentro-Video).
Da will niemand einen „Schritt in die Räume des Bewegungsmusters“ setzen (was auch immer das bedeuten soll) und keiner wird jemals „verwobene Schritte“ (?) mit einer „Schicht von Verzierungen dekorieren“.
Schön, wenn deinen Schülern dadurch das Gehen leichter fällt. Ich verstehe zwar nicht warum, aber wenn deine Schüler „nach etwa 4 Wochen“ so etwas offenbar verstehen und umsetzen können, hast du entweder andere „Klienten“ oder unterrichtest einfach besser. 😉
Manuela Bößel
Lieber Jochen,
was mir gefällt, ist der Vorschlag, erstmal in offener Haltung bzw. Übungshaltung zu beginnen. Kennst du „Pinky-to-Pinky“? Da „hakt“ sich das Paar gegenüberstehend nur gegenseitig mit den kleinen Fingern unter. Das hält den Kontakt und die Form, verhindert aber das Gewichtabgeben an den Partner.
„Dass es sich beim Führen letztlich um simple Physik handelt…“ kann ich aus meiner Erfahrung heraus nicht bestätigen. Da spielen schon noch ein paar andere Abteilungen mit, wie ich hier ausführlich dargelegt habe 😉
https://www.tangofish.de/blog/tango-lernen-eine-psychosomatische-betrachtung/
Herzliche Grüße
Manuela
Jochen Lüders
> Kennst du „Pinky-to-Pinky“?
Ja, kenn ich. Finde ich aber komisch. Ich habe lieber die Handflächen (auf Schulterhöhe) aneinander, oder (noch besser) mit einem imaginären „Luftkissen“ dazwischen (z.B. bei Ochos), damit wir zwar in Kontakt bleiben, aber die Frau komplett selber in ihrer Achse bleiben muss und kein Gewicht „abgeben“ kann.
> Da spielen schon noch ein paar andere Abteilungen mit [.…]
Ich habe deinen Beitrag gelesen – sehr interessant!
ABER: Meine Zielgruppe sind Anfänger-Männer, denen ich eine erste konkrete Vorstellung vermitteln möchte, wie Führung funktioniert. Dass da noch viel mehr auf der „Leib-und-Seele“ Ebene passiert, steht außer Frage, ist aber NICHT mein Thema.
Zweitens ist dein Beitrag schon sehr stark aus deiner Perspektive geschrieben. Du tanzt schon dein ganzes Leben lang und hast allein schon durch deinen Beruf ein ungewöhnlich gut entwickeltes Körpergefühl bzw ‑bewusstsein. D.h. du SPÜRST auch ohne verbalen Input, wenn irgendwas „nicht passt“ und bist in der Lage eine Bewegung zu verändern.
Ich habe es jedoch (wie geschrieben) mit Männern zu tun, die ihr ganzes Leben lang NICHT getanzt und praktisch KEIN Körpergefühl haben. Die denken dann vielleicht, dass ihre Hände locker sind, in Wirklichkeit quetschen sie meine rechte Hand zusammen und halten mich mit ihrer rechten im Schraubstock. Sie spüren das aber nicht. Deswegen funktioniert dein „Bewegung geschehen lassen“ in diesem Fall nicht, es würde sich nichts ändern. Deshalb muss das Großhirn ran und der Mann muss sich bewusst auf seine Hände konzentrieren / fokussieren. Und natürlich sollte Unterricht „vornehmlich aus Tangotanzen“ bestehen, aber die Leute einfach vor sich hin „tanzen“ zu lassen, bringt nichts. Im Gegenteil besteht die Gefahr, dass sich falsche Bewegungsmuster verfestigen (wie z.B. ständig nach unten zu schauen).
> „Geschieht“ eine Bewegung, wie es für den Körper am besten ist, nicht so, wie es das Großhirn meint, wird selbige automatisch entspannter, organischer und damit eleganter.
Das klingt so, als ob der Körper intuitiv wüsste, was richtig ist. Aufgrund von 35 Jahre Sportlehrer-Dasein kann ich sagen, dass das einfach nicht stimmt. Nehmen wir an du hast z.B. noch nie Tischtennis gespielt. Ich drücke dir ein Schläger in die Hand und lass dich einfach mal machen. Der „Unterricht“ besteht „vornehmlich aus Tischtennis-Spielen“. Mit großer Sicherheit wirst du den Schläger falsch halten, wirst falsch schlagen und dich falsch bewegen. Subjektiv fühlt es sich vielleicht „entspannt, organisch und elegant“ an, aber es ist trotzdem einfach falsch.
Manuela Bößel
Hey Jochen,
auch ich arbeite mit Menschen, deren Körpergefühl eher im suboptimalen Bereich dümpelt. Gerade für diese Leute ist es sehr lohnend – nicht nur im Tango – sich mit dem Körpergefühl zu beschäftigen.
Es ist ja nicht so, dass sie keines hätten. Als halbwegs Gesunder hat man das, sonst wäre schon Sitzen ein Problem. Es ist halt (noch) nicht adressierbar.
Mit ein wenig Sensomotorik, perzeptiver Rückmeldung oder z.B. Zürcher Ressourcen Modell geht schon was. Erst kürzlich habe ich wieder gesehen, dass ein kopfgesteuerter Ingenieur mit einem „Bild“, dass ich ihm geschwind geholfen habe zu entwickeln, in Sekunden sein Tanzen – vom Scheitel bis zur Sohle – sehr verbessern konnte.
Herzliche Grüße
Manuela
Jochen Lüders
> Als halbwegs Gesunder hat man das, sonst wäre schon Sitzen ein Problem.
Sitzen IST für viele / die meisten ein Problem. Zu viel, aber vor allem falsches Sitzen ist ein Hauptgrund für „unspezifische“ Rückenschmerzen. Das ist doch jetzt keine wirklich neue Erkenntnis.
Siehe z.B. https://www.youtube.com/watch?v=k1luKAS_Xcg