Eine der lächerlichsten Behauptungen über das (bayerische) G8 ist, dass das Niveau – trotz gekürzter Stundenzahl und jüngerer Schüler – nicht nur gehalten, sondern (dank „Exzellenzinitiativen“, „quality management“ etc.) sogar gehoben wurde bzw. immer noch wird. Dass das (zumindest in Bezug auf Englisch) schlichtweg Unfug ist, kann man schön an der Rolle der Stilmittel im schriftlichen Abitur erkennen.
Ältere Kollegen erinnern sich noch daran, dass früher praktisch in jedem LK Abitur und auch in vielen gk Aufgaben eine Frage zu „stylistic devices“ dran kam, meistens mit der Formulierung „Choose three stylistic devices and comment on their function / explain how they work.“ (vgl. z.B. LK 2002‑I Frage 7. „Analyse three stylistic devices which reveal …“). Die Schüler mussten zumindest die wichtigsten Stilmittel (er)kennen und halbwegs sinnvoll funktionalisieren können.
Seit ca. zehn Jahren werden Stilmittel nicht mehr explizit verlangt, es wird vielmehr nach „use of language“ bzw. manchmal auch „tone and language“ gefragt. Der entsprechende Subtext dazu lautet: „Lieber Schüler, in dem Text sind eine Reihe von interessanten und ergiebigen Stilmitteln enthalten, aber für den Fall, dass du sie nicht findest bzw. nicht benennen kannst, darfst du auch schreiben, dass der Autor „difficult words“ verwendet (auch wenn sich im ganzen Text nur drei Stück finden lassen) oder dass er eine „complex syntax“ hat (nur weil er auch mal ein paar längere Nebensätze benutzt).“ Wie auch in anderen Bereichen musste der Schüler nichts mehr richtig gelernt haben und wissen, ein bisschen Draufloslabern reichte meistens.
Den Tiefpunkt dieser Entwicklung markiert das diesjährige Abitur. Nach der Prüfung fragten mich meine Schüler ganz verunsichert, ob sie irgendwas übersehen hätten, aber sie hätten in Text I beim besten Willen keine Stilmittel außer vielleicht „sort of prison“ (42), „battle suit“ (43) [komisches Bild, passt gar nicht zu „benign infrastructure“ 39] und „machine for living in“ (62) gefunden. Ich konnte sie beruhigen, mehr gibt’s einfach nicht (und die Maschinenmetapher ist ja eh merkwürdig unklar). Meine Schüler konnten zu Recht kaum glauben, dass sie für 20 BE einfach nur Ausdrücke wie „mass of anonymous buildings“ (38–39) oder „grey and boring“ (41) zitieren sollten. Was soll man denn bitteschön aus dem (in der Musterlösung vorgeschlagenen) „A home.“ (39) machen? Ist eine Ellipse, na und? Was „unterstreicht“ die? In seiner Verzweiflung schreibt der Schüler dann z.B.: „The author quotes a lot to underline the educational purpose (39–46) oder macht aus „live in leafy suburbs“ (60) eine „makes the reader think“ Alliteration. Läppischer geht’s kaum noch.
In Text II hätte man ja ein paar nette Stilmitteln gehabt: „comforting and confusing“ (2), „The kids would pile back“ (9), „cultural car crash, collision“ (40), „splashed across the newspapers“ (53), „throes of famine and pestilence“ (60–61). Hat man sich aber vermutlich nicht zu fragen getraut, weil kaum ein Schüler mehr diese Sachen beherrscht, stattdessen lieber diese banale „food“ Frage.
Vermutich gehören Stilmittel inzwischen zu dem überflüssigen Faktenballast, der „entrümpelt“ gehört und wenn wir Schülern z.B. noch die Alliteration nahebringen, müssen wir die „Vermittlungstiefe reduzieren“ (entsprechend werden Schüler dann ihre Lern- und Verständnistiefe reduzieren). Wenn ein Lehrer in Zukunft noch Stilmittel unterrichtet (pdf) und abprüft, muss er sich den (berechtigten) Vorwurf gefallen lassen, dass seine Klausuren schwerer sind als das Abitur.
Hanjo
Seltsam ist diese Reduzierung vor allem, da die Stilmittel ja eigentlich aus dem Deutschunterricht bekannt sein sollten und die Benennungen im Englischen, wenn ich Deine Liste so durchsehe, nur in den wenigsten Fällen von der im Deutschen abweichen …
Jochen
Stimmt, mir ist auch völlig schleierhaft, warum sich Deutsch und Englisch so weit auseinander entwickeln. Da war doch mal was mit „fächerübergreifendem Lernen“ …
max
Auf Seiten der (meisten) Schüler gilt offenbar ein strenges Schweigegelübde, wenn es darum geht, was sie aus dem Deutschunterricht schon alles kennen müssten: „Don’t ask, don’t tell.“ 😉
max
Der derzeit NOCH gültige Lehrplan Englisch (11./12.) klingt im O‑Ton, als könne man von den Schülern einiges verlangen:
„Die Schüler vertiefen ihre Fertigkeiten im interpretierenden und produktionsorientierten Umgang mit unterschiedlichen Textarten aus verschiedenen Medien und arbeiten verstärkt auch sprachlich-stilistische und formal-strukturelle Gestaltungsmittel heraus.“
http://tinyurl.com/4xovmk
Aber im bayerischen G8 gilt offenbar mehr und mehr das Valentin-Axiom:
„Mögen täten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut.“ 🙂
http://tinyurl.com/bnljg5n
Chris Werth
bei aller skepsis gegenüber der der o.g. „entrümpelung“: habe es gerade korrigiert und möchte sagen: textkompetenz und literarisches verständnis bemessen sich bitte nicht daran, ob jemand entlang einer liste eine alliteration und ’nen chiasmus benennen kann – dass diemkids sie erlernt haben sollten steht außer frage. müssen sie deshalb zwangsläufig im abi auftauchen? ich meine nein. insbesondere der text „down bowmont hill“ genügte in anderer hinsicht hohen literarischen ansprüchen.
und ja, die schüler mussten tatsächlich die ein oder andere allegorie und metapher benennen, wenn man schon so viel wert auf stilmittel legt.
Jochen
> insbesondere der text “down bowmont hill” genügte in anderer hinsicht hohen literarischen ansprüchen.
In welcher Hinsicht? Was ist denn an diesem Text „literarisch“?
> und ja, die schüler mussten tatsächlich die ein oder andere allegorie und metapher benennen
Bei welcher Aufgabe? Und wo gibt’s in dem Text „die ein oder andere allegorie und metapher“?
max
@Chris: „dass diemkids sie erlernt haben sollten steht außer frage.“
Indem es nie abgeprüft wird (siehe oben) bzw. gar nicht abgeprüft werden darf (siehe https://www.jochenlueders.de/?p=8703), wird es durchaus in Frage gestellt. Nur 1 von 100 Schülern lernt etwas, das keine Rolle für seine Noten spielt!
Julian
Als Student kann ich nur sagen, dass Stilmittel auch im Studium abverlangt werden. Neulich hatte ich eine schriftliche Englischprüfung in der ein Großteil der zu vergebenen Punkte auf Textanalyse und das Erklären der im Text zu enthaltenen Stilmittel vergeben wurde.
Da bin ich dann doch froh gewesen eine gute Grundlage zu Stilmittel aus der Schulzeit mitgenommen zu haben.
Dennis
Abverlangt werden die im Studium auf jeden Fall!
Nur fällt dies gnadenlos auf, wenn man in der Schule hier nicht genügend Wissen erlangt hat.
War man sich in der Schule nicht sicher, welchen Effekt ein Stilmittel eventuell haben könnte, schrieb man einfach „makes the reader think“ und kassierte Punkte ab. Das geht in der Uni natürlich nicht.
Zwar gibt es Einführungskurse, jedoch muss jemand, der große Lücken hat, sehr viel in sehr kurze Zeit aufholen – das ist mitunter sehr schwierig.
Ich spreche hier übrigens vom NRW-Abitur.
Julian
> Zwar gibt es Einführungskurse, jedoch muss jemand, der große Lücken hat, sehr viel in sehr kurze Zeit aufholen – das ist mitunter sehr schwierig.
Gerade deshalb finde ich es ja besorgniserregend wenn Stilmittel nicht mehr im Abitur abgefragt werden. Hinterher muss man sie im Studium so oder so können.
Alex
> Gerade deshalb finde ich es ja besorgniserregend wenn Stilmittel nicht mehr im Abitur abgefragt werden. Hinterher muss man sie im Studium so oder so können.
Nee, es sollen dorch nur noch Natur- und Ingenieurswissenschaften studiert werden, da braucht man keine Stilmittel.
Chris Werth
dem ist sicher so, dass man als e/os-lehrer ordentlich & fundiert im sinne der universitätspropädeutik arbeiten sollte. nur: typen von „imagery“ zu erkennen, zu benennen und logisch zu durchdringen, ist auch teil einer jeden vernünftigen literarischen analyse und ist – mit verlaub – anspruchsvoller als das erkennen einer assonanz oder eines enjambements.
Jochen
Stimmt, nur musste nichts von alldem im diesjährigen Abitur gemacht werden; „chocolate drops“ sind ja wohl noch keine „imagery“, die logisch „durchdrungen“ werden muss.
Nina
Hallo,
wie finde ich passende Tabellen für die Bewertung der Version? Das heißt 40 BE aufgeteilt auf die Fehlerschritte 3/ 3,5/ 4 / 4,5?
Jochen
Hier: http://dl.dropbox.com/u/36046201/Abitur_2012.zip
Susann
Zum Niveau der Abiturienten – ich habe die ungeliebte „Quarantäneaufsicht“ gehalten, in der die (leid)geprüften Abiturienten warten müssen, bis der nächste Abiturient mit dem selben Thema in den Vorbereitungsraum geht.
Ich hatte vier Abiturienten, die reinkamen und fragten: „Was wollte der [Lehrer] eigentlich mit dem Evangelisten?“ – Schulterzucken allerseits. Es stellte sich heraus, dass sie das Wort „evangelicals“ allesamt mit „Evangelist“ übersetzt hatten und naturgemäß verwirrt waren, als der Lehrer nach dem bekanntesten amerikanischen „Evangelical“ fragte. Als ich verwundert fragte, warum sie denn das Wort nicht kannten, denn das wäre ja wohl eins der Oberstufenstandardthemen, meinten sie, ja, sie könnten sich jetzt wohl wieder dunkel erinnern, aber sie hatten keine Lust, „genau die Namen der religiösen Gruppen zu lernen“. Dann packten sie ein Men’s Health aus und fingen an, merklich interessierter die Sextipps durchzulesen. 🙂
Soviel zu „Blüte der bayerischen Jugend“.
Haha.
Jochen
> und fingen an, merklich interessierter die Sextipps durchzulesen
Was willst du denn? Sie sind halt ziel‑, kompetenz- und handlungsorientiert 😉
Susann
Zu meiner Erleichterung waren sie im Quarantäneraum diesbezüglich wenigstens nicht handlungsorientiert.
Georg
Wie viele Schüler können bei euch eine Gruppe mit demselben Thema bilden? Bei uns maximal vier, was bedeutet, dass man nur zwei in Quarantäne schicken kann. Folge: erheblicher Mehraufwand bei der Prüfungsvorbereitung.
Susann
Ich hatte im Laufe des Nachmittags 5 Leute in Quarantäne, mit dem letzten Prüfling sind das also 6 Leute mit dem selben Prüfungsthema. Keine Ahnung, wie das bei uns geregelt wird. Richtiger Mehraufwand entsteht eigentlich nicht, es muss halt jemand die Quarantäneaufsicht übernehmen, ich bekam sie wohl als ausgleichende Gerechtigkeit für den Wegfall meiner Q12-Stunden. Es soll Schlimmeres geben.