Modernen Tango lernen & tanzen

„newclassic“??? – Wie wurde früher wirklich getanzt?

Einer der lächer­lichs­ten Tan­go-Begrif­fe, der mir in letz­ter Zeit häu­fi­ger begeg­net, ist der „new­clas­sic“ (bzw. „neo-klas­si­sche“) Tanzstil.

Als „musi­ka­li­sche Strö­mung, die klas­si­sche Tan­go-Orches­ter­tra­di­tio­nen in einem moder­nen Kon­text neu inter­pre­tiert“ gibt es den Begriff schon län­ger, dar­um soll es im Fol­gen­den aber nicht gehen. 

Bevor wir uns mit dem Tanz­stil beschäf­ti­gen, schau­en wir uns erst­mal den Begriff etwas genau­er an. „New“ bzw. „Neo“ evo­ziert grund­sätz­lich bei den meis­ten Men­schen Posi­ti­ves: „Neu­es“ ist bes­ser, auf­re­gen­der und inter­es­san­ter als „Altes“. Mit „Klas­sik“ bzw. „klas­sisch“ asso­zi­iert man im Deut­schen musi­ka­li­sche Hoch­kul­tur und denkt an Mozart, Beet­ho­ven und Haydn. „Neo-Klas­sik“ (bzw. „Neo­klas­si­zis­mus“) bezeich­ne­te ursprüng­lich die anspruchs­vol­le Musik von z.B. Stra­win­sky, Hin­de­mith und Pro­kof­jew, heu­te ist aller­dings meis­tens die Musik von Kom­po­nis­ten wie Ludo­vico Ein­au­di oder Nils Frahm gemeint. Auch die­se Musik wird aber inzwi­schen weit­ge­hend als „kul­tu­rell hoch­ste­hend“ akzep­tiert. „New­clas­sic“ klingt also nach etwas Wert­vol­lem und „Edlem“.

Sehen wir uns als nächs­tes an, wel­cher Tanz­stil mit die­sem Begriff beschrie­ben wird. Soweit ich weiß, wur­de „new­clas­sic“ durch die­sen Bei­trag von Amo­ry Vio­let („Vio“) bekannt: „New­clas­sic aims to be so for­mal and ele­gant that it may seem rigid and limi­t­ed. The music seems to be all the same. We also see a con­for­mi­ty and limi­ta­ti­on about sizes of steps and moti­on of the body. Loo­king across the dance flo­or, we don’t see a lot of diver­si­ty; most of the cou­ples are using a fixed embrace who­se distance doesn’t chan­ge, most are moving in simi­lar ways and doing simi­lar move­ments. Their bodies use very litt­le ran­ge of moti­on so that it seems the only move­ment is below the kne­es, and the emo­tio­nal expres­si­on is uni­form and unchan­ging. The feet don’t go far from the flo­or, the spi­ne is kept moti­on­less, and smi­ling is much more res­trai­ned. The faces and mood could even be descri­bed as hea­vy and humor­less at times.“ So zu tan­zen bezeich­net die Autorin als „devo­lu­ti­on“ (Rück­ent­wick­lung).

Lei­der ver­linkt der Arti­kel kei­ne Vide­os, bei dem man sich die­sen „Stil“ kon­kret anse­hen könn­te. Mich erin­nert die Beschrei­bung z.B. an die­ses „Tan­zen“. „Ele­gant“ kann ich nir­gends ent­de­cken, dafür viel „con­for­mi­ty and limi­ta­ti­on“. „Most are moving in simi­lar ways and doing simi­lar move­ments“, in ers­ter Linie dre­hen sie an der Stel­le, ganz ver­ein­zelt sieht man mal einen fuz­ze­lig klei­nen Ocho cor­ta­do oder die Andeu­tung einer Molinete.

Wenn im Tan­go etwas als „klas­sisch“ bezeich­net wird, dann meint man die 1930er und 40er Jah­re, also das „gol­de­ne Zeit­al­ter“. Schau­en wir uns mal an, wie damals getanzt wur­de. Es geht zunächst um „the style danced in the north of Bue­nos Aires in the 1940s“ [Her­vor­he­bun­gen von mir]: „The shape drawn by the cou­ple on the flo­or as they dance tends to be long straight lines, punc­tua­ted with a sud­den, very com­pli­ca­ted move­ment. […] The arche­typ­al step in this style is a sal­i­da in which the lea­der takes just two steps to the four taken by the fol­lower, fol­lo­wed by wal­king in line with fre­quent weight changes.“

Über den „style of the south“ heißt es: „The inter­pre­ta­ti­on of the music invol­ves many pau­ses, and many rapid move­ments. This is the style whe­re gan­chos and bole­os were danced. The arche­typ­al step is one whe­re the lea­der takes the fol­lower off her axis, taking respon­si­bi­li­ty for her weight, and per­haps wal­king her around the foot she is stan­ding on.“ (Quel­le)

„Lan­ge, gera­de Lini­en“, „kom­pli­zier­te bzw. schnel­le Bewe­gun­gen“, „Gan­chos und Bole­os“ und Off-Axis Figu­ren – nichts davon sieht man auf den heu­te übli­chen „tra­di­tio­nel­len“ Milon­gas, Mara­thons und Encuen­tros [Auf Encuen­tros ist das meis­te davon ja eh ver­bo­ten.] An einer ande­ren Stel­le heißt es in o.a. Arti­kel: „Seve­ral clas­sic move­ments that have now all but dis­ap­peared from new­clas­sic tan­go are: bar­ri­da, sand­wi­chi­to, and the pivot para­da.“ Das ver­brei­te­te öde Rum­ste­hen bzw. ‑dre­hen an der Stel­le hat also abso­lut nichts mit „klas­si­schen“ Tan­go zu tun. Wenn man sich rich­tig alte Tan­go-Vide­os anschaut (wie z.B. die­ses), dann sieht man, dass die Leu­te wirk­lich „tan­zen“ und nicht nur mit klei­nen Fuz­zel­schrit­ten an der Stel­le krei­seln. (Dass auch die Musik viel abwechs­lungs­rei­cher war, als „Tra­di­tio­na­lis­ten“ uns heu­te weis­ma­chen wol­len, habe ich bereits in die­sem Bei­trag beschrieben.)

Woher kommt denn über­haupt die Vor­stel­lung, dass man Tan­go „umar­mungs­fo­kus­siert“ mit klei­nen Schritt­chen brav im Kreis tanzt? Gehen wir zurück in das Jahr 1983, dem Ende der Mili­tär­dik­ta­tur [Aus­las­sun­gen sind zum Zwe­cke bes­se­rer Les­bar­keit nicht mar­kiert, Her­vor­he­bun­gen sind von mir]:

„The fall of the mili­ta­ry jun­ta in Argen­ti­na in 1983 began a spec­ta­cu­lar Tan­go Renais­sance in Bue­nos Aires. The atmo­sphe­re was extra­or­di­na­ry. Sud­den­ly ever­yo­ne wan­ted to move. It was as though a phy­si­cal weight had been lifted from them. The ear­ly peri­od of the Tan­go Renais­sance was domi­na­ted by com­plex steps. The­re can be a tre­men­dous exci­te­ment to doing com­pli­ca­ted steps, espe­ci­al­ly if they are done with the tech­ni­que used by tho­se who lear­ned Tan­go in the tra­di­tio­nal way – nati­ve spea­k­ers of Tan­go, if you like. When done in this way, steps are part of the emo­tio­nal con­nec­tion that defi­nes the essence of Tan­go.

The next style to come into fashion was one based on the style of the geo­gra­phi­cal cent­re of Bue­nos Aires and the cent­re of the south of the city in the ear­ly 1950s. This is a style that is cho­reo­gra­phi­cal­ly rela­tively simp­le, rely­ing on the con­nec­tion bet­ween the dancers, and their con­nec­tion with the music. The gre­at attrac­tion of this style is in the con­nec­tion within the cou­ple which is neces­sa­ry to make it work, and which, when done well, is tre­men­dous­ly seduc­ti­ve. One of the most pro­mi­nent cham­pi­ons of this style, Susan­na Mil­ler, coin­ed for it the term „Esti­lo Milongue­ro“, milongue­ro style. The word milongue­ro, though it lite­ral­ly means someone who spends a lot of time in milon­gas, had come to be used to mean someone who had been a regu­lar Tan­go dancer during the Gol­den Age, befo­re the 1955 coup. While the choice of the term was obvious­ly inspi­red by the desi­re to distin­gu­ish this style from the steps domi­na­ted style danced on stage, the unfort­u­na­te and unfo­re­seeable con­se­quence was that it set up the idea in people’s minds that this was the only authen­tic social Tan­go style.

The dancing of the peo­p­le who were dancing in the Gol­den Age remain­ed unch­an­ged, and one could still go to milon­gas away from the cent­re of Bue­nos Aires and see peo­p­le doing the most fabu­lous­ly com­pli­ca­ted steps in a tru­ly authen­tic and com­ple­te­ly social way. But by 1995 the style various­ly known as “clo­se hold”, “short steps”, “Tan­go club” or “milongue­ro” had come to domi­na­te the dancing of the peo­p­le in Bue­nos Aires who were part of the Tan­go Renais­sance.“ (Quel­le)

Es ist also schlicht­weg Unsinn, wenn ein Wider­spruch zwi­schen „sozia­lem Tan­zen und „Schrit­te tan­zen“ kon­stru­iert wird. Und es ist eben­so his­to­risch falsch, wenn behaup­tet wird, dass der Tan­go im „gol­de­nen Zeit­al­ter“ aus­schließ­lich im Milongue­ro-Stil getanzt wurde.

Fazit: „New­clas­sic“ als Bezeich­nung für Rum­ste­hen ist (auf gut Bay­risch) ein „Schmarrn“. Weder ist irgend­was dar­an „neu“, noch hat es irgend­was mit „klas­si­schem“ Tan­go zu tun. Es ist unsin­nig, einen „Stil“, bei dem kaum noch (bzw. gar nicht mehr) „getanzt“ wird, mit einem sol­chen Begriff aufzuwerten.

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  1. Reinhard

    Sehr inter­es­sant – dan­ke! Es ist wirk­lich völ­lig absurd, was uns heu­te als „wah­rer“ / „authen­ti­scher“ Tan­go ver­kauft wird. 

    PS. Ich bewun­de­re dei­ne Geduld mit Leu­ten wie Wen­del. Wenn ICH mich mit so einem geschwol­le­nen Krampf wie „Bewe­gungs­or­ga­ni­sa­ti­on im Paar“ befas­sen müss­te, wäre mei­ne Reak­ti­on deut­lich unfreundlicher.

  2. > „Wenn sich da ein Wort ver­schluckt hat – geschenkt. Sol­che Din­ge pas­sie­ren, gera­de bei lan­gen Texten.“

    Ich habe nicht ein­fach irgend­ei­nen Satz aus einem „lan­gen Text“ zitiert, son­dern (fett for­ma­tiert!) eine Art Quint­essenz des Tan­go, so wie du ihn siehst. Da wäre es nicht schlecht, wenn man sich die­sen Satz noch­mal in Ruhe auf Ver­ständ­lich­keit durch­liest, bevor man auf „Ver­öf­fent­li­chen“ klickt. 

    Auf „außer­halb des eige­nen Stand­punk­tes“ bin ich freund­li­cher­wei­se gar nicht ein­ge­gan­gen. Ein „Stand­punkt“ ist nor­ma­ler­wei­se eine Mei­nung / Hal­tung zu irgend­was. Kann wohl nicht gemeint sein. Dann viel­leicht (im wört­li­chen Sinn) „der Punkt, wo man gera­de steht“? Dann wird also fast jeder Schritt nicht da gesetzt, wo man gera­de steht??? Nimm zur Kennt­nis, dass ich und eine Rei­he ande­rer Kom­men­ta­to­ren dei­ne Sät­ze und damit dei­ne „Inhal­te“ nicht versteht. 

    > „Du bleibst stark an der Wort- und Satzoberfläche“

    Wenn du damit meinst, dass ich Sät­ze erst­mal VERSTEHEN muss, hast du recht.

  3. Jochen, ich habe das in mei­ner Kapi­tel­über­schrift ja genau­so beschrie­ben wie du: „Aber auch Lan­ge­wei­le mit Neo-Clas­sic-Tan­go.“ Da ren­nen wir also in die­sel­be Rich­tung. Nur – bei dei­nem Text sind dir ein biss­chen die Pfer­de durch­ge­gan­gen. Du wet­terst gegen einen Begriff, der gar kei­ne Selbst­be­zeich­nung, son­dern schon Teil der Kri­tik war. „New­clas­sic“ beschreibt genau das, was dich auch stört: for­ma­le Erstar­rung, Bewe­gungs­ar­mut, fal­sches Ver­ständ­nis von „klas­sisch“.
    Kurz gesagt: Wir waren die gan­ze Zeit auf einer Linie – du hast nur auf den Begriff ein­ge­schla­gen, obwohl er dei­ne eige­ne Posi­ti­on mein­te. Wofür also der gan­ze Aufschrei?

    • Ers­tens habe ich nicht die gerings­te Ahnung, war­um mein Arti­kel ein „Auf­schrei“ sein soll, war­um ich auf einen Begriff „ein­schla­ge“ (?) und war­um mir „ein biss­chen die Pfer­de durch­ge­gan­gen sind“. Inter­es­siert mich aber auch nicht, aber wenn das dein Ein­druck ist: bit­te­schön. Ich kri­ti­sie­re einen Begriff und begrün­de die­se Kri­tik mit einer (nach mei­nem Ein­druck) seriö­sen Quelle. 

      Und nein, wir „ren­nen nicht in die­sel­be Rich­tung“ (?), sind NICHT einer Mei­nung, denn du schreibst:

      „Der Tan­go wird jedoch gera­de des­halb schwie­rig, weil fast Schritt außer­halb des eige­nen Stand­punk­tes – nur sel­ten in Linie, jedoch auf der Stel­le in jede mög­li­che Rich­tung – die inner­halb eine Umar­mung mög­lich ist – gesetzt werden.“ 

      Wie so oft ist es müh­sam, über­haupt zu ver­ste­hen, was das bedeu­ten soll: „fast Schritt … gesetzt wer­den“ ist halt ein­fach kein Deutsch. Ich ver­mu­te mal, du meinst „fast jeder Schritt … gesetzt WIRD.“ 

      Mei­ne Quel­le beweist, dass „nur sel­ten in Linie“ ein­fach nicht stimmt (vgl „long straight lines“). Ob das dann gleich „rei­ne Fort­be­we­gung“ war/ist, zu der man dei­ner Mei­nung nach bes­ser „Marsch­mu­sik“ spie­len soll­te, sei dahingestellt. 

      Und du brauchst mich jetzt nicht dar­an zu erin­nern, dass man auf einer vol­len bzw. über­füll­ten Tanz­flä­che aber nicht vorwärtskommt!

      • Jochen, ich glau­be, du hast mei­nen Kom­men­tar in mehr­fa­cher Hin­sicht missverstanden.
        Ich ant­wor­te dir des­halb etwas ausführlicher:
        Zum Begriff „New­Clas­sic“:
        Ich habe den Begriff nie als fes­te Kate­go­rie ver­stan­den, son­dern beschrei­bend oder iro­nisch ver­wen­det – genau in dem Sin­ne, wie VIO ihn auch gebraucht hat: als Hin­weis auf for­ma­le Erstar­rung, Reduk­ti­on und Miss­ver­ständ­nis­se des­sen, was „klas­sisch“ hei­ßen soll. Ich wun­de­re mich also etwas, dass du ihn wie einen wis­sen­schaft­lich defi­nier­ten Begriff behandelst.
        Zum Satz, an dem du dich störst:
        Wenn sich da ein Wort ver­schluckt hat – geschenkt. Sol­che Din­ge pas­sie­ren, gera­de bei lan­gen Tex­ten. Aber das ändert nichts am Inhalt. Mein Gedan­ke war, dass Tan­go schwie­rig wird, weil Schrit­te in alle Rich­tun­gen inner­halb der Umar­mung mög­lich sind – also in Bezug auf Ach­se, Raum und Part­ner, nicht auf Schritt­mus­ter auf der Tanzfläche.
        Zur inhalt­li­chen Kritik:
        Dein Hin­weis auf „long straight lines“ ist sicher rich­tig – nur bezieht er sich auf einen ande­ren Kon­text. Ich spre­che von der Bewe­gungs­or­ga­ni­sa­ti­on im Paar, nicht von geo­me­tri­schen Lini­en über die Tanz­flä­che. Das sind zwei völ­lig ver­schie­de­ne Betrachtungsebenen.
        Zum Ton der Diskussion:
        Ich woll­te gar kei­nen „Auf­schrei“ pro­vo­zie­ren, son­dern nur deut­lich machen, dass wir inhalt­lich eigent­lich gar nicht so weit aus­ein­an­der­lie­gen. Mein Ein­druck ist nur: Du bleibst stark an der Wort- und Satz­ober­flä­che, wäh­rend es mir um die Bewe­gung dahin­ter geht.
        Ich fin­de, dar­über könn­te man ruhig ein­mal sach­li­cher spre­chen – ohne Rot­stift, son­dern mit Blick auf das, was gemeint ist.

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