Der folgende Artikel ist eine Übersetzung von Why tango often feels like therapy von Veronica Toumanova.
Wegen der besseren Lesbarkeit (und aus anderen Gründen) verwende ich oft das generische Maskulinum (Lehrer, Schüler, Tänzer) und kein Gender*sternchen. Außerdem übersetze ich „leader“ meistens mit ‚Mann‘ und „follower“ mit ‚Frau‘, in dem Bewusstsein, dass auch Frauen „Führende“ sein können.
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Einmal haben mir an einem einzigen Tag zwei verschiedene Schüler gesagt: „Ich habe eine psychologische Blockade, wenn ich den Giro nach rechts beginne.“ Stell dir mein Gesicht als „verwirrtes“ Emoji vor. Eine andere Schülerin bemerkte, nachdem ich ihr gesagt hatte, sie solle sich nicht so sehr um ihren Partner in der Umarmung kümmern, betrübt: „Das ist ein Problem in all meinen Beziehungen. Ich passe mich so sehr an meinen Partner an, dass ich mich selbst völlig verliere.“ Und als ich einem anderen Mann sagte, er solle nicht vor seiner Partnerin davonlaufen, meinte er: „Das ist die Geschichte meines Lebens! Erst davonlaufen, dann denken!“
Es scheint, als ob irgendwann eine große Anzahl von Menschen erkannt hat, dass es „im Tango wie im Leben ist“, d.h. dass unsere Psychologie einen enormen Einfluss darauf hat, wie wir tanzen. Und deshalb müssen sich Veränderungen in unserer Psyche unweigerlich in unserem Tanz widerspiegeln. Und ist es nicht verlockend, sich vorzustellen, dass wir besser tanzen können, wenn wir etwas anderes tun, als zu üben?
Ich erinnere mich an eine junge Frau, die zu einer Privatstunde kam. Sie war eine Anfängerin, die sich schnell in den Tango verliebte und unbedingt gut tanzen wollte. Sie war schüchtern und wortkarg und ihre Einstellung war, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich zeigte ihr einige Übungen, um ihren Brustkorb zu öffnen, ihre Schultern zu entspannen und eine aufrechte, stolze „Hier bin ich“-Haltung einzunehmen. „Sehen Sie, wie schön Sie aussehen.“ Sie betrachtete sich im Spiegel und wandte sich schnell ab, wobei sie sofort in sich zusammensackte und anfing zu weinen. „Oh, ich könnte mich niemals so halten“, sagte sie. „Das wäre so, als ob ich schön wäre … und das bin ich nicht.“
Tango scheint diese unheimliche Fähigkeit zu haben, uns mit unseren Unsicherheiten zu konfrontieren und tief vergrabene Glaubenssätze ans Tageslicht zu bringen. Oft ist Tango buchstäblich das Einzige, was dazu in der Lage ist, besonders wenn wir ein Leben führen, das wir nicht mehr hinterfragen. Die Lehrer scherzen darüber, dass sich der Unterricht eher wie eine Therapie anfühlt, besonders bei Paaren. Auch Schüler erzählen mir, dass sich Tango zu lernen und zu tanzen sich oft nach mehr anfühlt als nur Tanz. Tango bringt Themen zur Sprache, die unser ganzes Leben lang einer Lösung bedurft haben oder – Überraschung! – von denen wir dachten, dass wir sie in anderen Lebensbereichen bereits gelöst hätten.
Eine meiner Schülerinnen neigte dazu, sich in jeden Schritt mit so viel Elan zu stürzen, dass sie häufig sowohl sich selbst als auch ihre Partner überforderte. Ich schlug ihr vor, langsamer zu werden und jede Bewegung innerhalb der vorgegebenen musikalischen Zeit zu vollenden. Das veränderte sofort, wie sie sich in der Umarmung fühlte, aber auch, wie sie aussah. Anstatt ihre Muskeln übermäßig anzuspannen, war sie jetzt ruhig, anmutig und perfekt im Takt. Es verbesserte nicht nur ihre Technik dramatisch, sondern offenbarte auch eine andere Seite von ihr als Mensch. „Ich dachte immer, dass ich als Mitläuferin unterwürfig sein muss“, bemerkte sie. „Ich sollte meinem Partner zeigen, wie begeistert ich bereit bin, das zu tun, was er will. Wenn ich meine Bewegungen ausführe, habe ich das Gefühl, ich tanze für mich selbst, nur um mich gut zu fühlen und schön auszusehen. Aber in mir gibt es eine Stimme, die sagt: So egoistisch kannst du nicht sein!“
Tango hat die Fähigkeit, uns selbst mit einer fast unerträglichen Klarheit zurückzuspiegeln. Ich erinnere mich lebhaft an den Moment in meinem ersten Jahr, als ich eine überfüllte Tanzfläche beobachtete und mir klar wurde, dass ich jede einzelne Person in diesem Raum genau so sah, wie sie im echten Leben war. Es war, als könnte ich buchstäblich in ihre Seelen sehen. Ich glaube, dass die Improvisation mit einem anderen Menschen unsere Aufmerksamkeit so vollständig in Anspruch nimmt, dass wir keine Energie mehr dafür haben, so zu tun, als wären wir jemand anderes. Und weil wir uns beim Tango meist nach innen, in das Paar hinein, konzentrieren, achten wir nicht mehr darauf, welchen Eindruck wir auf die Leute auf der Tanzfläche machen. Wenn wir einmal im „Flow“ sind, können wir nicht anders, als so zu sein, wie wir sind. Selbst wenn wir Teile von uns hinter einer Maske verstecken, werden wir im Tango genau das sein: eine Person, die versucht, sich hinter einer Maske zu verstecken.
Im Tango wird unsere innerste Persönlichkeit nackt für alle sichtbar ausgezogen. Oder zumindest für diejenigen, die wissen, wo sie hinschauen müssen. Dann wird es verlockend, psychologische Erklärungen für verschiedene Probleme im Tanz zu suchen. Ich kenne Leute, die jedes Tanzproblem überpsychologisieren, so dass es eher mit ihren „Problemen“ als mit ihren Fähigkeiten zu tun hat. Sie sagen Dinge wie: „Ich bin zu starr, weil ich mich nicht sicher genug fühle, um mich auszudrücken.“ Oder: „Ich verliere das Gleichgewicht, weil ich im Allgemeinen kein geerdeter Mensch bin.“ Sie beurteilen andere auf die gleiche Weise und sagen: „Er probiert ständig all diese komplizierten Schritte aus, er muss sehr unsicher sein.“ Oder: „Ihre Umarmung ist starr, weil sie nicht loslassen kann.“ Die zweifelhafte Aussage „Jeder tanzt so, wie er Liebe macht“ ist von ähnlicher Art.
Psychologische Ideen klingen sehr tiefgründig und wahr, sind es aber nicht unbedingt und nicht immer. Täglich werden wir mit allerlei psychologischem und neurowissenschaftlichem Wissen bombardiert, manches davon fundiert, manches eklatant ungenau. LehrerInnen und TänzerInnen loben sich selbst dafür, dass sie die „wahren“ Probleme hinter dem Verhalten von jemandem kennen, aber die Realität ist selten so einfach. Und selbst TänzerInnen mit einem Hintergrund in Psychotherapie können sich irren. Wie hilft uns also das Verständnis unserer Psychologie dabei, besser zu tanzen? Um dies zu analysieren, müssen wir die Dinge in verschiedene Kategorien einteilen.
Bei der ersten geht es um EINBLICKE. Sie kommen blitzschnell und fühlen sich aufregend an, egal wie ernst und traurig ihre Natur zu sein scheint. Einsichten sind nie nur intellektuell, es ist immer ein starkes Gefühl über die Situation und sich selbst dabei. Wenn dir eine Idee durch den Kopf geht, aber keine Emotionen hervorruft, dann ist es wahrscheinlich keine Einsicht, sondern eine intelligente Vermutung. Oder vielleicht auch nicht so intelligent. Wenn die Erkenntnis „Ich kümmere mich immer zu sehr um Andere“ eine plötzliche Lawine von Gefühlen, Erinnerungen und Erkenntnissen über Lebenserfahrungen auslöst, dann können wir von einer Einsicht sprechen. Sie lässt dich innehalten und staunen. Es fühlt sich an, als würdest du plötzlich einige zuvor getrennte Informationen miteinander verbinden. Und, am wichtigsten, es fühlt sich an, als könntest du mit diesem neuen Verständnis etwas Konstruktives tun.
Eine Einsicht hilft dir, Ergebnisse zu erzielen. Egal, wie ernst es zunächst aussieht, eine Einsicht ist inspirierend, auch wenn du anfangs keine Ahnung habst, was du tun sollst. Es ist immer etwas BESONDERES dabei. Als nächsten Schritt kannst du an deinem psychischen Wohlbefinden arbeiten und sehen, wie es sich in deinem Tanz widerspiegelt, und du kannst an deinem Tanz in Bezug auf Technik, Bewegung und Musikalität arbeiten und sehen, wie sich das in deiner Persönlichkeit widerspiegelt. Letzteres ist oft viel einfacher!
Irgendwann in meinem Leben wurde mir klar, dass ich unbewusst der Meinung war, dass ich niemals wirklich gut im Tango sein könnte, weil ich, nun ja … keine Argentinierin bin. Keine Latina, um genau zu sein. Ich hatte weder das feurige Temperament noch die stolze Haltung oder die sinnlichen Kurven. Ich war eine dünne, blassgesichtige, ernst aussehende, russischstämmige Nordeuropäerin mit einem introvertierten Temperament und einer Liebe zum Ballett. Wo war ich und wo war der argentinische Tango? Und dann sagte ich mir: Es geht nicht darum, wer ich bin und wie ich aussehe. Es geht darum, wie ich mich bewege. Ich kann all das Feuer, die Freude, die Leidenschaft, den Kummer und die Tiefe meiner Seele in die Bewegung legen. Ich kann diese Musik so leben, wie ich sie fühle, und im Tanz kann ich eine Tanguera sein.
Ganz anders als Einsicht ist ein URTEIL. Egal, wie wahr es klingt, ein Urteil gibt dir immer ein schlechtes Gefühl über dich selbst. Wenn du ein Urteil über eine andere Person fällst, gibt das dir ein selbstgefälliges, überlegenes Gefühl, es besser zu wissen. Ein Urteil tarnt sich als Einsicht. Eine Einsicht inspiriert dich jedoch dazu, weiter zu suchen, während ein Urteil dich dazu bringt, deinen Kopf gegen die Wand zu schlagen. Es fühlt sich an, als könnte es leicht eine Depression auslösen. Es fühlt sich an, als ob etwas grundlegend falsch mit dir ist und schon immer war, du nur zu dumm warst, es zu erkennen. Die Erkenntnis, dass du einen einschränkenden Glaubenssatz hast, ist eine Einsicht. Sich selbst zu sagen: „Ich werde nie gut tanzen können, weil ich nicht aus Argentinien komme“, ist ein Urteil.
Ein EINBLICK in die Psychologie eines anderen Menschen lässt dich Mitgefühl für diese Person empfinden. Für den Bruchteil einer Sekunde schaust du von außen „hinein“ und die Wahrheit dessen, was du siehst, lässt dich das Leiden der anderen Person fühlen, als wäre es dein eigenes. Das Gleiche gilt, wenn du einen Einblick in deine eigenes Wesen bekommst. Du siehst dein eigenes Leiden, paradoxerweise so, als wärst du eine andere Person, die mit Mitgefühl und Verständnis darauf schaut. Ein URTEIL hingegen hebt dich von anderen Menschen ab. Sowohl als Richter als auch als derjenige, über den geurteilt wird. Leider entwickeln wir alle als Heranwachsende einen starken inneren Kritiker. Jedes Kompliment oder jede Ermutigung prallt an einer Mauer des Unglaubens ab: „So gut kann ich doch gar nicht sein!“ Wir leben unser Leben in der Überzeugung, dass alle anderen uns genauso hart beurteilen wie wir uns selbst. Der innere Druck, der sich dadurch aufbaut, kann so lähmend werden, dass das Tanzenlernen doppelt so lange dauert.
Ein Urteil ist immer ein Versuch, mit einfachen Worten zu erklären, was in Wirklichkeit sehr kompliziert ist. Es ist der Dunning-Kruger-Effekt in Aktion. Urteile, wenn sie von einem Lehrer abgegeben werden, können das Selbstwertgefühl eines Schülers buchstäblich zerstören. Urteile, die zwischen Tanzpartnern gefällt werden, können ihre Zusammenarbeit zerstören und die romantische Beziehung vergiften. Zu hart mit sich selbst zu sein, kann einen dazu bringen, sich zu verbessern, aber es wird auch dazu führen, dass man regelmäßig stagniert, anstatt Fortschritte zu machen. Ein Urteil führt nie zu einer Verbesserung, es erzeugt nur ein hohes Maß an Stress der schlechten Art, und blockiert folglich die Bewegung, manchmal im wahrsten Sinne des Wortes.
Irgendwann machte ich eine interessante Beobachtung: Menschen, die sich bewusst oder unbewusst für hässlich hielten, tun sich schwer, sich geschmeidig zu bewegen. Ihre Bewegungen haben die Tendenz, ruckartig zu sein. Der Glaube, hässlich zu sein, schafft einen permanenten leichtem Stress, der zu Verspannungen führte, die wiederum den Flow töten. Das bedeutet nicht, dass alle Menschen, die sich ruckartig bewegen, davon überzeugt sind, dass sie hässlich sind. Es kann andere Gründe geben. Aber die Menschen, die davon überzeugt sind, dass sie nicht schön sind, haben es sehr schwer, einen entspannten Flow in ihre Bewegungen zu bringen.
Um im Flow zu sein, musst du dich in deinem Körper wohl fühlen. Sinnliches Vergnügen daran zu haben, sich einfach zur Musik zu bewegen. Um nicht übermäßig selbstbewusst zu sein. Das Gefühl zu haben, dass es dir erlaubt ist, zu existieren, zu tanzen, herumzuspielen, Raum einzunehmen, dich zum Narren zu machen. Das innere Urteil gibt dir jedoch das Gefühl, all dessen nicht würdig zu sein. Es bringt dich dazu, jede Bewegung zu überprüfen und zu versuchen, sie zu kontrollieren, und Kontrolle ist das Gegenteil von Flow. Kontrolle ist auch das Gegenteil von Beherrschung. Beherrschung gibt dir Freiheit, Kontrolle nimmt sie dir.
Neben Einsichten und Urteilen gibt es noch AUSREDEN. Sie geben sich verräterisch als Erkenntnisse aus und klingen sehr überzeugend, bringen aber überhaupt nichts. Im ersten Moment bringt eine Ausrede eine Art Erleichterung, aber Aufregung folgt nie. Sie dienen im Grunde dazu, das Urteil abzuwehren, das eigene, aber vor allem das der anderen. Eine schal gewordene Einsicht kann zu einer Ausrede werden. Man trägt sie wie eine weiße Fahne und ist froh, jedem erklären zu können, warum man nicht in der Lage ist, dieses und jenes zu tun. Es gibt ein trauriges, beruhigendes Gefühl bei einer Ausrede. Wie Urteile neigen auch Ausreden dazu, sehr allgemein zu sein. Sowohl Urteile als auch Ausreden klingen so, als ob mit deinem ganzen Leben etwas nicht stimmt, während eine Einsicht auf etwas Bestimmtes in einer Situation hinweist.
Schauen wir uns einige der Beispiele am Anfang des Artikels an. Beide Führende, die behaupteten, eine „psychologische Blockade“ zu haben, hatten in Wahrheit nichts dergleichen, ihnen fehlte einfach das kleine bisschen Geschick, das es ihnen erlaubt hätte, die Drehung nach rechts einzuleiten. Wir haben das in fünf Minuten behoben. Diese fehlende Fähigkeit fühlte sich für sie wie Stress, Unsicherheit, ein Makel an. Sie beurteilten sich selbst als unfähig und suchten die Erklärung eher in ihrer Psychologie als in ihren Fähigkeiten. Es war also ein Urteil, keine Einsicht, und manchmal diente es als Ausrede, die Rechtsdrehung gar nicht erst zu versuchen.
Die Schülerin, die erkannte, dass sie die Tendenz hatte, zu hetzen, hatte eine Einsicht. Ihre Augen leuchteten auf, als sie es erkannte, und als sie versuchte, die Dinge anders zu machen, brachte es ihr ein direktes Ergebnis und einen „Aha“-Moment. Sie konnte diese Einsicht auch leicht auf eine normale Lebenssituation übertragen, z. B. darauf, dass man wartet, bis eine Person einen Satz beendet hat, bevor man eine Schlussfolgerung zieht. Wenn du nichts aus einer Einsicht machst, könntest du in Zukunft versucht sein, sie sowohl als Ausrede als auch als Selbstverurteilung zu benutzen. „Yep, die Geschichte meines Lebens! Ich renne immer vor dem Zug her. Ich Dummerchen.“
Der Fall der schüchternen Anfängerin ist komplizierter. Sie war unfreiwillig über eine tief verwurzelte Überzeugung über sich selbst gestolpert, die eine riesige Welle von Emotionen auslöste. Was ihr die Tränen in die Augen trieb, war das plötzliche Mitgefühl, das sie für sich selbst empfand, als sie die Einsicht hatte. Es ließ sie ihren Schmerz wie ein sanfter Beobachter spüren. Doch die Einsicht betraf etwas so Grundsätzliches, etwas, das sich so schwer ändern ließ, dass es sie traurig machte. Gleichzeitig verurteilte sie sich selbst hart für alles auf einmal, dafür, dass sie sich hässlich fühlte, dafür, dass sie dachte, sie könnte irgendwie schön sein UND dafür, dass sie dachte, sie sei hässlich, dafür, dass sie vor der Lehrerin weinte, dafür, dass sie erkannte, dass sie das schon ihr ganzes Leben in sich trug, dafür, dass sie nicht in der Lage war, sofort etwas dagegen zu tun.
Nehmen wir ein anderes, sehr häufiges Beispiel. Viele Frauen sagen ihren Lehrern im ersten Jahr des Tangos, dass sie nicht folgen können. „Nö, nada, ich doch nicht“. Im täglichen Leben sind sie starke, unabhängige Frauen, die für sich selbst Entscheidungen treffen! Und im Tango sollen sie sich unterordnen? Also rebellieren sie oder versuchen krampfhaft„weiblicher“ zu werden. Der Kampf scheint nur allzu real zu sein, die Erklärung scheint Sinn zu machen. In den meisten Fällen wird das Konzept des Folgens jedoch nicht richtig erklärt und auch zutiefst missverstanden. Menschen assoziieren das Wort „folgen“ mit „passiv gehorchen“. Sobald sie die richtige Vorstellung haben und es in ihrem Körper spüren, stellen sie fest, dass es nicht nur tatsächlich nicht gegen ihre Natur geht, sondern dass sie jeden Tag ihres Lebens in vielen verschiedenen Situationen „folgen“, genauso wie sie in anderen „führen“. Doch sich anfangs zu sagen „Ich bin nicht der Typ, der folgt“, scheint die Verwirrung so wie jede Art von Ärger zu beseitigen.
Ich zeige gerne Frauen, die mit der „Passivität“ des Folgens kämpfen, wie sich echtes Folgen anfühlt, wenn sie in der Position der Führenden sind. Ich umarme sie sanft und bitte sie, vorwärts zu gehen, ohne auch nur zu versuchen, mich zu führen, während ich rückwärts gehend folge. Normalerweise bleiben sie nach ein paar Schritten stehen und sagen erstaunt: „Wow, das fühlt sich so … aktiv an! Aber gleichzeitig so verbunden!“ Denn selbst eine sehr unabhängige, sture und ungeduldige Person ist fähig, mit jemandem zu kommunizieren, wenn sie es will. Fähig, Harmonie zu schaffen, zusammen zu spielen, sich auf ein Gespräch einzulassen. Tango als ein Modell der Zusammenarbeit passt zu jeder Persönlichkeit. Alles, was man tun muss, ist zu lernen, wie man es macht, und das kommt durch das Verständnis von BEWEGUNG.
Von allen drei Kategorien sind nur Einsichten wirklich hilfreich. Ein wichtiger Aspekt einer Einsicht ist, dass du sie selbst aus erster Hand bekommst. Sie kann durch etwas ausgelöst werden, was dir gesagt wurde oder was du gelesen hast, aber die Einsicht selbst explodiert in deinem Kopf, wenn du bereit für sie bist. Wenn du unterrichtest, würde ich dich davor warnen, Einsichten für deine SchülerInnen zu formulieren. Das kannst du nicht. So funktioniert es nicht. Es ist wie der Versuch, jemanden dazu zu bringen, sich zu verlieben: Alles, was du tun kannst, ist, die richtigen Bedingungen zu schaffen und auf das Beste zu hoffen.
LehrerInnen möchte ich daran erinnern, dass jedes ungefragte Urteil, selbst eine schlaue psychologische Beurteilung, eine Grenzverletzung darstellt. Jeder ungefragte Ratschlag ist eine Form von Gewalt, auch mit den besten Absichten. Besonders mit den besten Absichten, da es für die andere Person schwieriger wird, sich zu revanchieren, ohne deine Gefühle zu verletzen. Du bist ein Tangolehrer, kein Therapeut, auch wenn du ein ausgebildeter Therapeut sind, aber gerade in deiner Rolle als Tangolehrer. Deshalb solltest du sehr vorsichtig damit sein, psychologische Urteile über deine SchülerInnen zu fällen, besonders wenn du eine Autoritätsperson für sie bist. Ich kann gar nicht sagen, wie viele Menschen in meinen Unterricht kommen, deren Selbstwertgefühl durch ihre LehrerInnen und TanzpartnerInnen beschädigt wurde. Wenn SchülerInnen regelmäßig deprimiert und beschämt aus deinem Unterricht gehen, dann bist du kein Genie, das ihnen die Augen für die Wahrheit geöffnet hat, sondern ein Tyrann. Und du solltest es besser wissen.
Tangolehrer sind keine Therapeuten und sollten nicht versuchen, als solche zu agieren, unabhängig von ihrer Ausbildung, ihrem Hintergrund, ihrer persönlichen Affinität oder dem Vertrauen, das ihnen von ihren Schülern entgegengebracht wird. Das heißt aber nicht, dass du die psychologischen Aspekte des Wohlbefindens deiner Schüler (oder dein eigenes) vernachlässigen solltest. Körper und Geist, so wie wir sie verstehen, sind ein komplexes System, in dem alles sich gegenseitig beeinflusst. Es ist sehr gut für Tanzlehrer, sich in Psychologie und anderen Körper-Geist-bezogenen Bereichen auszukennen. Aber deine Hauptaufgabe ist es, Menschen das Tanzen beizubringen. Wenn du also das nächste Mal den Drang verspürst, dem streitenden Paar in deinem Unterricht zu sagen: „Wisst ihr, Tango bringt immer alle eure Beziehungsprobleme zur Sprache!“, denke daran, dass du damit ein unnötiges Urteil über zwei Menschen fällst, die ohnehin schon Probleme haben, und ihnen keinerlei Hilfe gibst.
„Komm, Vero, sag ihnen, wie es ist!“, wirst du vielleicht denken. Aber ich bin mir sicher, dass du genauso bedenkenlos über andere Tänzer geurteilt hast. Du hast vielleicht Schlüsse über die Psychologie von jemandem gezogen, indem du seine Umarmung gespürt oder ihn beim Tanzen beobachtet hast. Vielleicht hast du manchmal Recht und manchmal Unrecht gehabt. Vielleicht terrorisierst du deine Tanzpartner, indem du jede ihrer Bewegungen beurteilst, in der Überzeugung, dass sie sich dadurch verbessern. Vielleicht hat das jemand mit dir gemacht. Vielleicht fühlst du dich nach zwei Jahren Tanzen als „Alleswisser“. Vielleicht bist du davon überzeugt, dass die meisten Tanzprobleme von Menschen in Wirklichkeit Charakterfehler sind. Wir alle werden Opfer von einfachen Schlussfolgerungen über komplexe Phänomene. Es ist nicht immer unsere Schuld. Auch dieser Artikel ist nur ein Versuch, etwas, das unendlich viel komplexer ist, in einfachen Worten zu beschreiben.
Tango hilft uns, wie eine Therapie, Dinge über uns selbst zu erkennen, die zu einer positiven Veränderung führen können. Wie eine Therapie löst er intensive und oft unangenehme Gefühle aus. Es geht darum, das Aufkommende zu verarbeiten und sich in seiner persönlichen Entwicklung weiterzuentwickeln. Tango bietet eine Spielwiese für diese innere Arbeit, gibt uns aber, anders als eine Therapie, nicht die Werkzeuge dafür an die Hand. Wir müssen sie selbst herausfinden oder um Hilfe bitten. LehrerInnen und erfahrene TänzerInnen können uns durch diese Transformationen begleiten, indem sie eine Quelle von Informationen und emotionaler Unterstützung sind. Also, wenn sich Tango für dich wie eine Therapie anfühlt, dann herzlichen Glückwunsch! Er ist ein mächtiger Katalysator für persönliches Wachstum, denn manchmal, im Tango wie im Leben, braucht es zwei, um sich selbst zu erkennen.
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