Der fol­gen­de Arti­kel ist eine Über­set­zung von Why tan­go often feels like the­ra­py von Vero­ni­ca Toumanova. 

Wegen der bes­se­ren Les­bar­keit (und aus ande­ren Grün­den) ver­wen­de ich oft das gene­ri­sche Mas­ku­li­num (Leh­rer, Schü­ler, Tän­zer) und kein Gender*sternchen. Außer­dem über­set­ze ich „lea­der“ meis­tens mit ‚Mann‘ und „fol­lower“ mit ‚Frau‘, in dem Bewusst­sein, dass auch Frau­en „Füh­ren­de“ sein können. 

Wei­te­re Über­set­zun­gen von Vero­ni­cas Essays fin­dest du hier.

Ein­mal haben mir an einem ein­zi­gen Tag zwei ver­schie­de­ne Schü­ler gesagt: „Ich habe eine psy­cho­lo­gi­sche Blo­cka­de, wenn ich den Giro nach rechts begin­ne.“ Stell dir mein Gesicht als „ver­wirr­tes“ Emo­ji vor. Eine ande­re Schü­le­rin bemerk­te, nach­dem ich ihr gesagt hat­te, sie sol­le sich nicht so sehr um ihren Part­ner in der Umar­mung küm­mern, betrübt: „Das ist ein Pro­blem in all mei­nen Bezie­hun­gen. Ich pas­se mich so sehr an mei­nen Part­ner an, dass ich mich selbst völ­lig ver­lie­re.“ Und als ich einem ande­ren Mann sag­te, er sol­le nicht vor sei­ner Part­ne­rin davon­lau­fen, mein­te er: „Das ist die Geschich­te mei­nes Lebens! Erst davon­lau­fen, dann denken!“

Es scheint, als ob irgend­wann eine gro­ße Anzahl von Men­schen erkannt hat, dass es „im Tan­go wie im Leben ist“, d.h. dass unse­re Psy­cho­lo­gie einen enor­men Ein­fluss dar­auf hat, wie wir tan­zen. Und des­halb müs­sen sich Ver­än­de­run­gen in unse­rer Psy­che unwei­ger­lich in unse­rem Tanz wider­spie­geln. Und ist es nicht ver­lo­ckend, sich vor­zu­stel­len, dass wir bes­ser tan­zen kön­nen, wenn wir etwas ande­res tun, als zu üben?

Ich erin­ne­re mich an eine jun­ge Frau, die zu einer Pri­vat­stun­de kam. Sie war eine Anfän­ge­rin, die sich schnell in den Tan­go ver­lieb­te und unbe­dingt gut tan­zen woll­te. Sie war schüch­tern und wort­karg und ihre Ein­stel­lung war, kei­ne Auf­merk­sam­keit zu erre­gen. Ich zeig­te ihr eini­ge Übun­gen, um ihren Brust­korb zu öff­nen, ihre Schul­tern zu ent­span­nen und eine auf­rech­te, stol­ze „Hier bin ich“-Haltung ein­zu­neh­men. „Sehen Sie, wie schön Sie aus­se­hen.“ Sie betrach­te­te sich im Spie­gel und wand­te sich schnell ab, wobei sie sofort in sich zusam­men­sack­te und anfing zu wei­nen. „Oh, ich könn­te mich nie­mals so hal­ten“, sag­te sie. „Das wäre so, als ob ich schön wäre … und das bin ich nicht.“

Tan­go scheint die­se unheim­li­che Fähig­keit zu haben, uns mit unse­ren Unsi­cher­hei­ten zu kon­fron­tie­ren und tief ver­gra­be­ne Glau­bens­sät­ze ans Tages­licht zu brin­gen. Oft ist Tan­go buch­stäb­lich das Ein­zi­ge, was dazu in der Lage ist, beson­ders wenn wir ein Leben füh­ren, das wir nicht mehr hin­ter­fra­gen. Die Leh­rer scher­zen dar­über, dass sich der Unter­richt eher wie eine The­ra­pie anfühlt, beson­ders bei Paa­ren. Auch Schü­ler erzäh­len mir, dass sich Tan­go zu ler­nen und zu tan­zen sich oft nach mehr anfühlt als nur Tanz. Tan­go bringt The­men zur Spra­che, die unser gan­zes Leben lang einer Lösung bedurft haben oder – Über­ra­schung! – von denen wir dach­ten, dass wir sie in ande­ren Lebens­be­rei­chen bereits gelöst hätten.

Eine mei­ner Schü­le­rin­nen neig­te dazu, sich in jeden Schritt mit so viel Elan zu stür­zen, dass sie häu­fig sowohl sich selbst als auch ihre Part­ner über­for­der­te. Ich schlug ihr vor, lang­sa­mer zu wer­den und jede Bewe­gung inner­halb der vor­ge­ge­be­nen musi­ka­li­schen Zeit zu voll­enden. Das ver­än­der­te sofort, wie sie sich in der Umar­mung fühl­te, aber auch, wie sie aus­sah. Anstatt ihre Mus­keln über­mä­ßig anzu­span­nen, war sie jetzt ruhig, anmu­tig und per­fekt im Takt. Es ver­bes­ser­te nicht nur ihre Tech­nik dra­ma­tisch, son­dern offen­bar­te auch eine ande­re Sei­te von ihr als Mensch. „Ich dach­te immer, dass ich als Mit­läu­fe­rin unter­wür­fig sein muss“, bemerk­te sie. „Ich soll­te mei­nem Part­ner zei­gen, wie begeis­tert ich bereit bin, das zu tun, was er will. Wenn ich mei­ne Bewe­gun­gen aus­füh­re, habe ich das Gefühl, ich tan­ze für mich selbst, nur um mich gut zu füh­len und schön aus­zu­se­hen. Aber in mir gibt es eine Stim­me, die sagt: So ego­is­tisch kannst du nicht sein!“

Tan­go hat die Fähig­keit, uns selbst mit einer fast uner­träg­li­chen Klar­heit zurück­zu­spie­geln. Ich erin­ne­re mich leb­haft an den Moment in mei­nem ers­ten Jahr, als ich eine über­füll­te Tanz­flä­che beob­ach­te­te und mir klar wur­de, dass ich jede ein­zel­ne Per­son in die­sem Raum genau so sah, wie sie im ech­ten Leben war. Es war, als könn­te ich buch­stäb­lich in ihre See­len sehen. Ich glau­be, dass die Impro­vi­sa­ti­on mit einem ande­ren Men­schen unse­re Auf­merk­sam­keit so voll­stän­dig in Anspruch nimmt, dass wir kei­ne Ener­gie mehr dafür haben, so zu tun, als wären wir jemand ande­res. Und weil wir uns beim Tan­go meist nach innen, in das Paar hin­ein, kon­zen­trie­ren, ach­ten wir nicht mehr dar­auf, wel­chen Ein­druck wir auf die Leu­te auf der Tanz­flä­che machen. Wenn wir ein­mal im „Flow“ sind, kön­nen wir nicht anders, als so zu sein, wie wir sind. Selbst wenn wir Tei­le von uns hin­ter einer Mas­ke ver­ste­cken, wer­den wir im Tan­go genau das sein: eine Per­son, die ver­sucht, sich hin­ter einer Mas­ke zu verstecken.

Im Tan­go wird unse­re inners­te Per­sön­lich­keit nackt für alle sicht­bar aus­ge­zo­gen. Oder zumin­dest für die­je­ni­gen, die wis­sen, wo sie hin­schau­en müs­sen. Dann wird es ver­lo­ckend, psy­cho­lo­gi­sche Erklä­run­gen für ver­schie­de­ne Pro­ble­me im Tanz zu suchen. Ich ken­ne Leu­te, die jedes Tanz­pro­blem über­psy­cho­lo­gi­sie­ren, so dass es eher mit ihren „Pro­ble­men“ als mit ihren Fähig­kei­ten zu tun hat. Sie sagen Din­ge wie: „Ich bin zu starr, weil ich mich nicht sicher genug füh­le, um mich aus­zu­drü­cken.“ Oder: „Ich ver­lie­re das Gleich­ge­wicht, weil ich im All­ge­mei­nen kein geer­de­ter Mensch bin.“ Sie beur­tei­len ande­re auf die glei­che Wei­se und sagen: „Er pro­biert stän­dig all die­se kom­pli­zier­ten Schrit­te aus, er muss sehr unsi­cher sein.“ Oder: „Ihre Umar­mung ist starr, weil sie nicht los­las­sen kann.“ Die zwei­fel­haf­te Aus­sa­ge „Jeder tanzt so, wie er Lie­be macht“ ist von ähn­li­cher Art.

Psy­cho­lo­gi­sche Ideen klin­gen sehr tief­grün­dig und wahr, sind es aber nicht unbe­dingt und nicht immer. Täg­lich wer­den wir mit aller­lei psy­cho­lo­gi­schem und neu­ro­wis­sen­schaft­li­chem Wis­sen bom­bar­diert, man­ches davon fun­diert, man­ches ekla­tant unge­nau. Leh­re­rIn­nen und Tän­ze­rIn­nen loben sich selbst dafür, dass sie die „wah­ren“ Pro­ble­me hin­ter dem Ver­hal­ten von jeman­dem ken­nen, aber die Rea­li­tät ist sel­ten so ein­fach. Und selbst Tän­ze­rIn­nen mit einem Hin­ter­grund in Psy­cho­the­ra­pie kön­nen sich irren. Wie hilft uns also das Ver­ständ­nis unse­rer Psy­cho­lo­gie dabei, bes­ser zu tan­zen? Um dies zu ana­ly­sie­ren, müs­sen wir die Din­ge in ver­schie­de­ne Kate­go­rien einteilen.

Bei der ers­ten geht es um EINBLICKE. Sie kom­men blitz­schnell und füh­len sich auf­re­gend an, egal wie ernst und trau­rig ihre Natur zu sein scheint. Ein­sich­ten sind nie nur intel­lek­tu­ell, es ist immer ein star­kes Gefühl über die Situa­ti­on und sich selbst dabei. Wenn dir eine Idee durch den Kopf geht, aber kei­ne Emo­tio­nen her­vor­ruft, dann ist es wahr­schein­lich kei­ne Ein­sicht, son­dern eine intel­li­gen­te Ver­mu­tung. Oder viel­leicht auch nicht so intel­li­gent. Wenn die Erkennt­nis „Ich küm­me­re mich immer zu sehr um Ande­re“ eine plötz­li­che Lawi­ne von Gefüh­len, Erin­ne­run­gen und Erkennt­nis­sen über Lebens­er­fah­run­gen aus­löst, dann kön­nen wir von einer Ein­sicht spre­chen. Sie lässt dich inne­hal­ten und stau­nen. Es fühlt sich an, als wür­dest du plötz­lich eini­ge zuvor getrenn­te Infor­ma­tio­nen mit­ein­an­der ver­bin­den. Und, am wich­tigs­ten, es fühlt sich an, als könn­test du mit die­sem neu­en Ver­ständ­nis etwas Kon­struk­ti­ves tun.

Eine Ein­sicht hilft dir, Ergeb­nis­se zu erzie­len. Egal, wie ernst es zunächst aus­sieht, eine Ein­sicht ist inspi­rie­rend, auch wenn du anfangs kei­ne Ahnung habst, was du tun sollst. Es ist immer etwas BESONDERES dabei. Als nächs­ten Schritt kannst du an dei­nem psy­chi­schen Wohl­be­fin­den arbei­ten und sehen, wie es sich in dei­nem Tanz wider­spie­gelt, und du kannst an dei­nem Tanz in Bezug auf Tech­nik, Bewe­gung und Musi­ka­li­tät arbei­ten und sehen, wie sich das in dei­ner Per­sön­lich­keit wider­spie­gelt. Letz­te­res ist oft viel einfacher!

Irgend­wann in mei­nem Leben wur­de mir klar, dass ich unbe­wusst der Mei­nung war, dass ich nie­mals wirk­lich gut im Tan­go sein könn­te, weil ich, nun ja … kei­ne Argen­ti­nie­rin bin. Kei­ne Lati­na, um genau zu sein. Ich hat­te weder das feu­ri­ge Tem­pe­ra­ment noch die stol­ze Hal­tung oder die sinn­li­chen Kur­ven. Ich war eine dün­ne, blass­ge­sich­ti­ge, ernst aus­se­hen­de, rus­sisch­stäm­mi­ge Nord­eu­ro­päe­rin mit einem intro­ver­tier­ten Tem­pe­ra­ment und einer Lie­be zum Bal­lett. Wo war ich und wo war der argen­ti­ni­sche Tan­go? Und dann sag­te ich mir: Es geht nicht dar­um, wer ich bin und wie ich aus­se­he. Es geht dar­um, wie ich mich bewe­ge. Ich kann all das Feu­er, die Freu­de, die Lei­den­schaft, den Kum­mer und die Tie­fe mei­ner See­le in die Bewe­gung legen. Ich kann die­se Musik so leben, wie ich sie füh­le, und im Tanz kann ich eine Tan­guera sein.

Ganz anders als Ein­sicht ist ein URTEIL. Egal, wie wahr es klingt, ein Urteil gibt dir immer ein schlech­tes Gefühl über dich selbst. Wenn du ein Urteil über eine ande­re Per­son fällst, gibt das dir ein selbst­ge­fäl­li­ges, über­le­ge­nes Gefühl, es bes­ser zu wis­sen. Ein Urteil tarnt sich als Ein­sicht. Eine Ein­sicht inspi­riert dich jedoch dazu, wei­ter zu suchen, wäh­rend ein Urteil dich dazu bringt, dei­nen Kopf gegen die Wand zu schla­gen. Es fühlt sich an, als könn­te es leicht eine Depres­si­on aus­lö­sen. Es fühlt sich an, als ob etwas grund­le­gend falsch mit dir ist und schon immer war, du nur zu dumm warst, es zu erken­nen. Die Erkennt­nis, dass du einen ein­schrän­ken­den Glau­bens­satz hast, ist eine Ein­sicht. Sich selbst zu sagen: „Ich wer­de nie gut tan­zen kön­nen, weil ich nicht aus Argen­ti­ni­en kom­me“, ist ein Urteil.

Ein EINBLICK in die Psy­cho­lo­gie eines ande­ren Men­schen lässt dich Mit­ge­fühl für die­se Per­son emp­fin­den. Für den Bruch­teil einer Sekun­de schaust du von außen „hin­ein“ und die Wahr­heit des­sen, was du siehst, lässt dich das Lei­den der ande­ren Per­son füh­len, als wäre es dein eige­nes. Das Glei­che gilt, wenn du einen Ein­blick in dei­ne eige­nes Wesen bekommst. Du siehst dein eige­nes Lei­den, para­do­xer­wei­se so, als wärst du eine ande­re Per­son, die mit Mit­ge­fühl und Ver­ständ­nis dar­auf schaut. Ein URTEIL hin­ge­gen hebt dich von ande­ren Men­schen ab. Sowohl als Rich­ter als auch als der­je­ni­ge, über den geur­teilt wird. Lei­der ent­wi­ckeln wir alle als Her­an­wach­sen­de einen star­ken inne­ren Kri­ti­ker. Jedes Kom­pli­ment oder jede Ermu­ti­gung prallt an einer Mau­er des Unglau­bens ab: „So gut kann ich doch gar nicht sein!“ Wir leben unser Leben in der Über­zeu­gung, dass alle ande­ren uns genau­so hart beur­tei­len wie wir uns selbst. Der inne­re Druck, der sich dadurch auf­baut, kann so läh­mend wer­den, dass das Tan­zen­ler­nen dop­pelt so lan­ge dauert.

Ein Urteil ist immer ein Ver­such, mit ein­fa­chen Wor­ten zu erklä­ren, was in Wirk­lich­keit sehr kom­pli­ziert ist. Es ist der Dun­ning-Kru­ger-Effekt in Akti­on. Urtei­le, wenn sie von einem Leh­rer abge­ge­ben wer­den, kön­nen das Selbst­wert­ge­fühl eines Schü­lers buch­stäb­lich zer­stö­ren. Urtei­le, die zwi­schen Tanz­part­nern gefällt wer­den, kön­nen ihre Zusam­men­ar­beit zer­stö­ren und die roman­ti­sche Bezie­hung ver­gif­ten. Zu hart mit sich selbst zu sein, kann einen dazu brin­gen, sich zu ver­bes­sern, aber es wird auch dazu füh­ren, dass man regel­mä­ßig sta­gniert, anstatt Fort­schrit­te zu machen. Ein Urteil führt nie zu einer Ver­bes­se­rung, es erzeugt nur ein hohes Maß an Stress der schlech­ten Art, und blo­ckiert folg­lich die Bewe­gung, manch­mal im wahrs­ten Sin­ne des Wortes.

Irgend­wann mach­te ich eine inter­es­san­te Beob­ach­tung: Men­schen, die sich bewusst oder unbe­wusst für häss­lich hiel­ten, tun sich schwer, sich geschmei­dig zu bewe­gen. Ihre Bewe­gun­gen haben die Ten­denz, ruck­ar­tig zu sein. Der Glau­be, häss­lich zu sein, schafft einen per­ma­nen­ten leich­tem Stress, der zu Ver­span­nun­gen führ­te, die wie­der­um den Flow töten. Das bedeu­tet nicht, dass alle Men­schen, die sich ruck­ar­tig bewe­gen, davon über­zeugt sind, dass sie häss­lich sind. Es kann ande­re Grün­de geben. Aber die Men­schen, die davon über­zeugt sind, dass sie nicht schön sind, haben es sehr schwer, einen ent­spann­ten Flow in ihre Bewe­gun­gen zu bringen.

Um im Flow zu sein, musst du dich in dei­nem Kör­per wohl füh­len. Sinn­li­ches Ver­gnü­gen dar­an zu haben, sich ein­fach zur Musik zu bewe­gen. Um nicht über­mä­ßig selbst­be­wusst zu sein. Das Gefühl zu haben, dass es dir erlaubt ist, zu exis­tie­ren, zu tan­zen, her­um­zu­spie­len, Raum ein­zu­neh­men, dich zum Nar­ren zu machen. Das inne­re Urteil gibt dir jedoch das Gefühl, all des­sen nicht wür­dig zu sein. Es bringt dich dazu, jede Bewe­gung zu über­prü­fen und zu ver­su­chen, sie zu kon­trol­lie­ren, und Kon­trol­le ist das Gegen­teil von Flow. Kon­trol­le ist auch das Gegen­teil von Beherr­schung. Beherr­schung gibt dir Frei­heit, Kon­trol­le nimmt sie dir.

Neben Ein­sich­ten und Urtei­len gibt es noch AUSREDEN. Sie geben sich ver­rä­te­risch als Erkennt­nis­se aus und klin­gen sehr über­zeu­gend, brin­gen aber über­haupt nichts. Im ers­ten Moment bringt eine Aus­re­de eine Art Erleich­te­rung, aber Auf­re­gung folgt nie. Sie die­nen im Grun­de dazu, das Urteil abzu­weh­ren, das eige­ne, aber vor allem das der ande­ren. Eine schal gewor­de­ne Ein­sicht kann zu einer Aus­re­de wer­den. Man trägt sie wie eine wei­ße Fah­ne und ist froh, jedem erklä­ren zu kön­nen, war­um man nicht in der Lage ist, die­ses und jenes zu tun. Es gibt ein trau­ri­ges, beru­hi­gen­des Gefühl bei einer Aus­re­de. Wie Urtei­le nei­gen auch Aus­re­den dazu, sehr all­ge­mein zu sein. Sowohl Urtei­le als auch Aus­re­den klin­gen so, als ob mit dei­nem gan­zen Leben etwas nicht stimmt, wäh­rend eine Ein­sicht auf etwas Bestimm­tes in einer Situa­ti­on hinweist.

Schau­en wir uns eini­ge der Bei­spie­le am Anfang des Arti­kels an. Bei­de Füh­ren­de, die behaup­te­ten, eine „psy­cho­lo­gi­sche Blo­cka­de“ zu haben, hat­ten in Wahr­heit nichts der­glei­chen, ihnen fehl­te ein­fach das klei­ne biss­chen Geschick, das es ihnen erlaubt hät­te, die Dre­hung nach rechts ein­zu­lei­ten. Wir haben das in fünf Minu­ten beho­ben. Die­se feh­len­de Fähig­keit fühl­te sich für sie wie Stress, Unsi­cher­heit, ein Makel an. Sie beur­teil­ten sich selbst als unfä­hig und such­ten die Erklä­rung eher in ihrer Psy­cho­lo­gie als in ihren Fähig­kei­ten. Es war also ein Urteil, kei­ne Ein­sicht, und manch­mal dien­te es als Aus­re­de, die Rechts­dre­hung gar nicht erst zu versuchen.

Die Schü­le­rin, die erkann­te, dass sie die Ten­denz hat­te, zu het­zen, hat­te eine Ein­sicht. Ihre Augen leuch­te­ten auf, als sie es erkann­te, und als sie ver­such­te, die Din­ge anders zu machen, brach­te es ihr ein direk­tes Ergeb­nis und einen „Aha“-Moment. Sie konn­te die­se Ein­sicht auch leicht auf eine nor­ma­le Lebens­si­tua­ti­on über­tra­gen, z. B. dar­auf, dass man war­tet, bis eine Per­son einen Satz been­det hat, bevor man eine Schluss­fol­ge­rung zieht. Wenn du nichts aus einer Ein­sicht machst, könn­test du in Zukunft ver­sucht sein, sie sowohl als Aus­re­de als auch als Selbst­ver­ur­tei­lung zu benut­zen. „Yep, die Geschich­te mei­nes Lebens! Ich ren­ne immer vor dem Zug her. Ich Dummerchen.“

Der Fall der schüch­ter­nen Anfän­ge­rin ist kom­pli­zier­ter. Sie war unfrei­wil­lig über eine tief ver­wur­zel­te Über­zeu­gung über sich selbst gestol­pert, die eine rie­si­ge Wel­le von Emo­tio­nen aus­lös­te. Was ihr die Trä­nen in die Augen trieb, war das plötz­li­che Mit­ge­fühl, das sie für sich selbst emp­fand, als sie die Ein­sicht hat­te. Es ließ sie ihren Schmerz wie ein sanf­ter Beob­ach­ter spü­ren. Doch die Ein­sicht betraf etwas so Grund­sätz­li­ches, etwas, das sich so schwer ändern ließ, dass es sie trau­rig mach­te. Gleich­zei­tig ver­ur­teil­te sie sich selbst hart für alles auf ein­mal, dafür, dass sie sich häss­lich fühl­te, dafür, dass sie dach­te, sie könn­te irgend­wie schön sein UND dafür, dass sie dach­te, sie sei häss­lich, dafür, dass sie vor der Leh­re­rin wein­te, dafür, dass sie erkann­te, dass sie das schon ihr gan­zes Leben in sich trug, dafür, dass sie nicht in der Lage war, sofort etwas dage­gen zu tun.

Neh­men wir ein ande­res, sehr häu­fi­ges Bei­spiel. Vie­le Frau­en sagen ihren Leh­rern im ers­ten Jahr des Tan­gos, dass sie nicht fol­gen kön­nen. „Nö, nada, ich doch nicht“. Im täg­li­chen Leben sind sie star­ke, unab­hän­gi­ge Frau­en, die für sich selbst Ent­schei­dun­gen tref­fen! Und im Tan­go sol­len sie sich unter­ord­nen? Also rebel­lie­ren sie oder ver­su­chen krampfhaft„weiblicher“ zu wer­den. Der Kampf scheint nur all­zu real zu sein, die Erklä­rung scheint Sinn zu machen. In den meis­ten Fäl­len wird das Kon­zept des Fol­gens jedoch nicht rich­tig erklärt und auch zutiefst miss­ver­stan­den. Men­schen asso­zi­ie­ren das Wort „fol­gen“ mit „pas­siv gehor­chen“. Sobald sie die rich­ti­ge Vor­stel­lung haben und es in ihrem Kör­per spü­ren, stel­len sie fest, dass es nicht nur tat­säch­lich nicht gegen ihre Natur geht, son­dern dass sie jeden Tag ihres Lebens in vie­len ver­schie­de­nen Situa­tio­nen „fol­gen“, genau­so wie sie in ande­ren „füh­ren“. Doch sich anfangs zu sagen „Ich bin nicht der Typ, der folgt“, scheint die Ver­wir­rung so wie jede Art von Ärger zu beseitigen.

Ich zei­ge ger­ne Frau­en, die mit der „Pas­si­vi­tät“ des Fol­gens kämp­fen, wie sich ech­tes Fol­gen anfühlt, wenn sie in der Posi­ti­on der Füh­ren­den sind. Ich umar­me sie sanft und bit­te sie, vor­wärts zu gehen, ohne auch nur zu ver­su­chen, mich zu füh­ren, wäh­rend ich rück­wärts gehend fol­ge. Nor­ma­ler­wei­se blei­ben sie nach ein paar Schrit­ten ste­hen und sagen erstaunt: „Wow, das fühlt sich so … aktiv an! Aber gleich­zei­tig so ver­bun­den!“ Denn selbst eine sehr unab­hän­gi­ge, stu­re und unge­dul­di­ge Per­son ist fähig, mit jeman­dem zu kom­mu­ni­zie­ren, wenn sie es will. Fähig, Har­mo­nie zu schaf­fen, zusam­men zu spie­len, sich auf ein Gespräch ein­zu­las­sen. Tan­go als ein Modell der Zusam­men­ar­beit passt zu jeder Per­sön­lich­keit. Alles, was man tun muss, ist zu ler­nen, wie man es macht, und das kommt durch das Ver­ständ­nis von BEWEGUNG.

Von allen drei Kate­go­rien sind nur Ein­sich­ten wirk­lich hilf­reich. Ein wich­ti­ger Aspekt einer Ein­sicht ist, dass du sie selbst aus ers­ter Hand bekommst. Sie kann durch etwas aus­ge­löst wer­den, was dir gesagt wur­de oder was du gele­sen hast, aber die Ein­sicht selbst explo­diert in dei­nem Kopf, wenn du bereit für sie bist. Wenn du unter­rich­test, wür­de ich dich davor war­nen, Ein­sich­ten für dei­ne Schü­le­rIn­nen zu for­mu­lie­ren. Das kannst du nicht. So funk­tio­niert es nicht. Es ist wie der Ver­such, jeman­den dazu zu brin­gen, sich zu ver­lie­ben: Alles, was du tun kannst, ist, die rich­ti­gen Bedin­gun­gen zu schaf­fen und auf das Bes­te zu hoffen.

Leh­re­rIn­nen möch­te ich dar­an erin­nern, dass jedes unge­frag­te Urteil, selbst eine schlaue psy­cho­lo­gi­sche Beur­tei­lung, eine Grenz­ver­let­zung dar­stellt. Jeder unge­frag­te Rat­schlag ist eine Form von Gewalt, auch mit den bes­ten Absich­ten. Beson­ders mit den bes­ten Absich­ten, da es für die ande­re Per­son schwie­ri­ger wird, sich zu revan­chie­ren, ohne dei­ne Gefüh­le zu ver­let­zen. Du bist ein Tan­go­leh­rer, kein The­ra­peut, auch wenn du ein aus­ge­bil­de­ter The­ra­peut sind, aber gera­de in dei­ner Rol­le als Tan­go­leh­rer. Des­halb soll­test du sehr vor­sich­tig damit sein, psy­cho­lo­gi­sche Urtei­le über dei­ne Schü­le­rIn­nen zu fäl­len, beson­ders wenn du eine Auto­ri­täts­per­son für sie bist. Ich kann gar nicht sagen, wie vie­le Men­schen in mei­nen Unter­richt kom­men, deren Selbst­wert­ge­fühl durch ihre Leh­re­rIn­nen und Tanz­part­ne­rIn­nen beschä­digt wur­de. Wenn Schü­le­rIn­nen regel­mä­ßig depri­miert und beschämt aus dei­nem Unter­richt gehen, dann bist du kein Genie, das ihnen die Augen für die Wahr­heit geöff­net hat, son­dern ein Tyrann. Und du soll­test es bes­ser wissen.

Tan­go­leh­rer sind kei­ne The­ra­peu­ten und soll­ten nicht ver­su­chen, als sol­che zu agie­ren, unab­hän­gig von ihrer Aus­bil­dung, ihrem Hin­ter­grund, ihrer per­sön­li­chen Affi­ni­tät oder dem Ver­trau­en, das ihnen von ihren Schü­lern ent­ge­gen­ge­bracht wird. Das heißt aber nicht, dass du die psy­cho­lo­gi­schen Aspek­te des Wohl­be­fin­dens dei­ner Schü­ler (oder dein eige­nes) ver­nach­läs­si­gen soll­test. Kör­per und Geist, so wie wir sie ver­ste­hen, sind ein kom­ple­xes Sys­tem, in dem alles sich gegen­sei­tig beein­flusst. Es ist sehr gut für Tanz­leh­rer, sich in Psy­cho­lo­gie und ande­ren Kör­per-Geist-bezo­ge­nen Berei­chen aus­zu­ken­nen. Aber dei­ne Haupt­auf­ga­be ist es, Men­schen das Tan­zen bei­zu­brin­gen. Wenn du also das nächs­te Mal den Drang ver­spürst, dem strei­ten­den Paar in dei­nem Unter­richt zu sagen: „Wisst ihr, Tan­go bringt immer alle eure Bezie­hungs­pro­ble­me zur Spra­che!“, den­ke dar­an, dass du damit ein unnö­ti­ges Urteil über zwei Men­schen fällst, die ohne­hin schon Pro­ble­me haben, und ihnen kei­ner­lei Hil­fe gibst.

„Komm, Vero, sag ihnen, wie es ist!“, wirst du viel­leicht den­ken. Aber ich bin mir sicher, dass du genau­so beden­ken­los über ande­re Tän­zer geur­teilt hast. Du hast viel­leicht Schlüs­se über die Psy­cho­lo­gie von jeman­dem gezo­gen, indem du sei­ne Umar­mung gespürt oder ihn beim Tan­zen beob­ach­tet hast. Viel­leicht hast du manch­mal Recht und manch­mal Unrecht gehabt. Viel­leicht ter­ro­ri­sierst du dei­ne Tanz­part­ner, indem du jede ihrer Bewe­gun­gen beur­teilst, in der Über­zeu­gung, dass sie sich dadurch ver­bes­sern. Viel­leicht hat das jemand mit dir gemacht. Viel­leicht fühlst du dich nach zwei Jah­ren Tan­zen als „Alles­wis­ser“. Viel­leicht bist du davon über­zeugt, dass die meis­ten Tanz­pro­ble­me von Men­schen in Wirk­lich­keit Cha­rak­ter­feh­ler sind. Wir alle wer­den Opfer von ein­fa­chen Schluss­fol­ge­run­gen über kom­ple­xe Phä­no­me­ne. Es ist nicht immer unse­re Schuld. Auch die­ser Arti­kel ist nur ein Ver­such, etwas, das unend­lich viel kom­ple­xer ist, in ein­fa­chen Wor­ten zu beschreiben.

Tan­go hilft uns, wie eine The­ra­pie, Din­ge über uns selbst zu erken­nen, die zu einer posi­ti­ven Ver­än­de­rung füh­ren kön­nen. Wie eine The­ra­pie löst er inten­si­ve und oft unan­ge­neh­me Gefüh­le aus. Es geht dar­um, das Auf­kom­men­de zu ver­ar­bei­ten und sich in sei­ner per­sön­li­chen Ent­wick­lung wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. Tan­go bie­tet eine Spiel­wie­se für die­se inne­re Arbeit, gibt uns aber, anders als eine The­ra­pie, nicht die Werk­zeu­ge dafür an die Hand. Wir müs­sen sie selbst her­aus­fin­den oder um Hil­fe bit­ten. Leh­re­rIn­nen und erfah­re­ne Tän­ze­rIn­nen kön­nen uns durch die­se Trans­for­ma­tio­nen beglei­ten, indem sie eine Quel­le von Infor­ma­tio­nen und emo­tio­na­ler Unter­stüt­zung sind. Also, wenn sich Tan­go für dich wie eine The­ra­pie anfühlt, dann herz­li­chen Glück­wunsch! Er ist ein mäch­ti­ger Kata­ly­sa­tor für per­sön­li­ches Wachs­tum, denn manch­mal, im Tan­go wie im Leben, braucht es zwei, um sich selbst zu erkennen.