Der folgende Text ist eine Übersetzung von „Why leaders get bored with themselves and what to do about it“ von Veronica Toumanova.
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Hinweis: Im Originaltext geht es um “leader” und “follower”. Da mir “der Führende” und “die Folgende” zu holprig ist, verwende ich im Folgenden “Mann” und “Frau” in dem Bewusstsein, dass auch Frauen führen und Männer folgen können. Der besseren Lesbarkeit zuliebe verwende ich ausschließlich männliche Formen.
Ich höre oft, dass Männer sich beschweren: “Wenn ich tanze, langweilt mich mein eigenes Tanzen. Irgendwann habe ich bereits alle Kombinationen getanzt, alle Variationen ausprobiert und mir fällt einfach nichts mehr ein. Es ist ein furchtbares Gefühl, denn wenn ich von mir selbst gelangweilt bin, vermute ich, dass sich auch die Frau tödlich langweilen muss.” Manchmal sagen Männer: “Tut mir leid, aber ich fordere dich nur auf, wenn ich in Höchstform bin. Sonst habe ich Angst, dass du dich langweilst.” Auch meine Schüler sagen manchmal: “Egal, wie oft ich Unterricht nehme, ich vergesse immer die coolen neuen Sachen, die ich gelernt habe und tanze immer die alten, langweiligen, sich ständig wiederholenden Schrittkombinationen.“
Diese Aussagen betreffen sowohl Anfänger als auch Fortgeschrittene. Es spielt keine Rolle, wie groß dein Schrittrepertoire als Mann ist, das Gefühl langweilig zu tanzen kommt trotzdem immer mal wieder. Warum passiert das? Und stimmt es, dass sich auch die Frau langweilt, wenn der Mann “langweilig” tanzt?
Es gibt einen Mythos (meistens bei Männern), dass man ein erhebliches Repertoire an Schritten beherrschen muss, damit die Frau den Tanz genießt. Aber die meiste Zeit weiß die Frau nicht, was passieren wird, sie kann nicht wissen, was in seinem Kopf vor sich geht und sie ist viel zu beschäftigt, das zu tanzen, wozu sie eingeladen wird. Ständig öffnen sich neue Türen, die zu neuen Orten und neuen Landschaften führen. Sie führt nicht Buch, welche Schritte der Mann bereits getanzt hat, das ist ausschließlich seine Angelegenheit. Deshalb ist die Frau normalerweise nicht gelangweilt, auch wenn der Mann es ist. Außerdem ist es nicht das Schrittvokabular, das die Frau an einem guten Mann fasziniert, sondern die Anmut ihrer eigenen Bewegung als Antwort auf seine (hoffentlich hilfreiche) Führung. Zuwenig Schrittkombinationen sind niemals ein Grund, warum die Frau sich langweilt, es ist vielmehr der MANGEL AN VERBINDUNG, der bewirkt, dass sie sich “ausklinkt”. Dies könnte daran liegen, dass der Mann automatisch, unbewusst und ohne Gefühl tanzt, oder weil er zu sehr mit seinen eigenen Schritten beschäftigt ist und sie vergisst. Eine Frau möchte nicht gerne als Instrument benutzt werden. Du kannst eine Tango-Enzyklopädie sein und die Frau zu Tode langweilen oder nur ein paar simple Elemente in deinem Vokabular haben und sie in deinen Armen schmelzen lassen. Quantität ist niemals ein Wert an sich.
Es existiert ebenfalls ein Mythos (meistens unter Frauen), dass Frauen keine komplexen Sequenzen mögen. Es stimmt zwar, dass einem komplexen Tangovokabular zu folgen stressig ist und solide Technik und große Sensibilität erfordert. Aber ist stimmt einfach nicht, dass Frauen kein anspruchsvolles Vokabular mögen. Frauen LIEBEN es, wenn es gut getanzt wird. Komplexe Bewegungen lassen die Frau ihre Grenzen erforschen, sie sind aufregend, dynamisch und machen Spaß. Wenn eine Frau sich allerdings zwischen gut getanzten einfachen Schritten und schlecht getanzten schwierigen Schritten entscheiden soll, wird sie immer erstere bevorzugen.
Warum sollte dann also, könntest du jetzt fragen, ein Mann komplizierte Schrittsequenzen lernen, wenn die Frau auch mit weniger zufrieden ist? Anders gesagt, wieviele Schritte muss ein Mann beherrschen, um ein begehrter Partner zu sein? Wenn ich von “Schritten” spreche, meine ich die Vielfalt an Kombinationen aus den drei Grundelementen des Tango: Schritt, Drehung und Gewichtswechsel. In diesem Sinn lernt der Mann niemals etwas Neues, sondern immer nur mit den selben Grundelementen auf immer komplexere Weise zu improvisieren.
Die Frage “Wieviele Schritte sollte ich als Mann beherrschen, um einen befriedigenden Tanz zu erschaffen?” ist wie die Frage “Wieviel Geld brauche ich, um glücklich zu sein?”. Die Antwort lautet: Geld ist für dein Glück völlig unwichtig. Geld ist ein Mittel, um Dinge zu erwerben, die dir Freude und Befriedigung bringen, aber dein Glück entstammt einer anderen Quelle, nämlich deinem eigenen Wesen. Auf dieselbe Art können Schritte, wie Geld, dir helfen, bei dem was du tust, mehr Spaß und größere Freiheit zu haben. Du brauchst eine “Grundmenge” an Schritten, um überhaupt tanzen zu können. Wie komplex dein Vokabular darüberhinaus sein sollte, hängt vollständig davon ab, was du tun möchtest und worauf du Wert legst. Am Ende läuft es darauf hinaus, was du magst und was du am Tango genießt. Ein großer Schritte-Wortschatz soll in erster Linie dir als Führendem Vergnügen bereiten.
Ich persönlich denke, dass Männer immer wieder neue Variationen erforschen sollten, weil das einfach in der Natur ihrer Rolle liegt. Die Schönheit des Tango liegt darin, dass er zwei Energien vereinigt: Die Energie des Tuns und die des Seins. Die Rolle des Mannes besteht darin, etwas zu schaffen, zu konstruieren, zu dekonstruieren und neue Möglichkeiten zu entdecken. Es steckt viel Wahrheit darin, einem Mann zu sagen: “Vergiss komplizierte Schritte, gehe einfach zur Musik, umarme die Frau schön und sie wird glücklich sein.” Aber es ist auch, als wenn man einem kleinen Jungen sagen würde: “Hier hast du ein paar farbige Bausteine. Du darfst sie berühren und bewundern, aber nichts mit ihnen bauen. Das ist zu kompliziert.”
Früher war das Tango-Vokabular sehr begrenzt, aber im Laufe der Zeit hat sich eine fast unendliche Menge an Möglichkeiten entwickelt. Wir können den Reichtum des Tango ignorieren unter der Annahme, dass die Menschen früher beim Tango tiefere menschliche Verbindungen eingegangen sind, ohne “all diese Schritte”. Aber ein reiches Tango-Vokabular gibt es nicht ohne Grund, es bleibt eine Tatsache des Lebens und hat seine eigenen Vorteile. Man kann diese Vielfalt genießen, vorausgesetzt, man ist nicht nur an der Quantität, sondern auch an der Qualität interessiert. Tango ist immer viel mehr als die Schritte, die man macht, aber es ist auch nichts falsch an Schritten.
Männer finden sich langweilig aus dem selben Grund, warum wir jede Aktitvität, egal wie komplex sie ist, langweilig finden: Es hat mit dem Gefühl der ROUTINE zu tun. Routine setzt ein, nicht nur weil man dieselben Dinge ständig wiederholt, sondern auch, weil man wiederholt, WIE man sie immer wieder macht. Routine bedeutet, dass man für sich selber vorhersehbar wird, dass die eigene Wirklichkeit für einen selber nicht mehr überraschend und wunderbar ist, als ob man auf Autopilot laufen würde. Wie soll man als Mann am besten mit der eigenen Langweile umgehen?
Es gibt einige praktische Lösungen. Du kannst neue Schritte lernen, aber denke daran, dass du sie erstmal üben und in dein bereits existierendes Vokabular integrieren musst, bevor du sie spontan in einer Milonga benutzen kannst. Aber selbst wenn du sie nicht auf einer Milonga reproduzieren kannst, verzweifele nicht: Etwas Neues im Unterricht zu lernen ist bereits eine sehr gute Übung für dein Gehirn und dein Tango wird davon profitieren. In diesem Sinne geht nichts was du lernst völlig verloren. Darüberhinaus kannst du anfangen, die Schrittkombinationen, die du bereits kennst, zu zerlegen und einen anderen Ausgang auszuprobieren, die Reihenfolge der Elemente oder das Timing zu verändern, das rechte statt das linke Bein zu nehmen (oder umgekehrt) usw. Allein das ist bereits eine auf- und anregende Übung und lässt dich als Tänzer wachsen und macht deine Muster weniger vorhersehbar. Schließlich kannst du daran arbeiten, deine Technik zu verbessern, denn je besser du die Grundlagen beherrscht, desto leichter wird alles fließen und dir (und der Frau) mehr Freude bereiten.
Es gibt darüberhinaus eine tiefere und wichtigere Ebene, auf der man sich mit Gefühl der Langeweile beschäftigen kann. Es geht darum den Fokus von dem WAS man tut zu verschieben hin zu dem WIE man es tut. Zu diesem Zweck kann man Musik als Hauptquelle der Inspiration spielen und die Schritte, die man bereits beherrscht, passend zur Energie, zum Rhythmus und zum Tempo der Musik tanzen. Das bedeutet z.B. langsamer zu werden, wenn die Musik es nahelegt, Pausen zu machen, zu beschleunigen und bestimmte Momente zu betonen. Wenn ein Mann wirklich zur Musik tanzt, wird der Tanz für die Frau wunderbar. Dann kann es passieren, dass du einen ganzen Tanz lang nur gehst und dich keinen einzigen Moment lang langweilst. Genau das meinen Lehrer, wenn sie einen ermahnen alles “schön einfach” zu halten. Es ist natürlich alles andere als “einfach”, denn es erfordert Sensibilität für die Musik und ungeteilte Aufmerksamkeit. Aber solange du zulässt, dass die Musik dich von innen bewegt, sind die Schritte nicht so wichtig und das Hauptaugenmerk liegt auf der Qualität der Bewegung. Noch einmal, Tango ist eine Unterhaltung: Wenn du weißt, was du sagen willst, werden die Worte schon kommen. Was wir im Tango sagen wollen, ist das, wozu uns die Musik inspiriert.
Wenn du dich demnächst wieder mal langweilst, richte deine ganze Aufmerksamkeit bewusst darauf, wie du dich genau in diesem Augenblick bewegst und versuche die Fülle der verschiedenen Empfindungen zu erfassen: Deine eigenen, die der Frau und der Umgebung. Deine Langeweile wird schlagartig aufhören in dem Moment, in dem du deine VOLLE Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment richtest. Denn Langeweile ist ein Nebenprodukt eines unkonzentrierten Geistes, der damit beschäftigt ist, die Gegenwart zu beurteilen und über die Zukunft zu spekulieren. Dein Kopf denkt, dass wahrer Tango aus coolen Schritten besteht, einer bestimmten Umarmung, einem bestimmten Partner oder der richtigen Musik. Aber wahrer Tango ist nichts von alldem, es ist der Moment des JETZT und nur er zählt, wie viele andere wichtige Dinge im Leben, wie z.B. Liebe, Freude und Glück.
Friederich
Sehr sehr gut. Vielen Dank an ihr beiden.
Melanie
Vielen Dank für diese schöne Darstellung. Ich kann mich darin voll wieder finden.