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Warum das Wichtigste beim Tango nichts mit Tango zu tun hat

Der fol­gen­de Text ist eine Über­set­zung von “Why the most important thing in tan­go is not a tan­go thing” von Vero­ni­ca Tou­ma­no­va.

Hin­weis: Der bes­se­ren Les­bar­keit zulie­be, ver­wen­de ich nur männ­li­che For­men (“dein Lehrer”).

Wei­te­re Über­set­zun­gen von Vero­ni­cas Essays fin­dest du hier.

Was ist das Wich­tigs­te beim Tan­go? Ver­schie­de­ne Leu­te sagen viel­leicht es ist die Musik oder die Ver­bin­dung, die Umar­mung, die Freu­de, die sozia­le Inter­ak­ti­on, die Ent­wick­lung der eige­nen Fähig­kei­ten usw. Zum Glück haben wir alle ver­schie­de­ne Prio­ri­tä­ten und Vor­lie­ben. Aber das Wich­tigs­te beim Tan­go ist nichts von alle­dem. Und den­noch ist es so wich­tig und so all­um­fas­send, dass wir es alle ger­ne über­se­hen. Das Wich­tigs­te beim Tan­go hat nichts mit Tan­go zu tun und den­noch bestimmt es dei­ne Tan­go-Erfah­rung in jedem nur denk­ba­ren Sinn.

Das Wich­tigs­te beim Tan­go ist dein “Fokus des Bewusstseins”.

Ich woll­te es ursprüng­lich “Bewusst­seins­stu­fe” nen­nen, aber “Stu­fe” ist zu hier­ar­chisch und Bewusst­sein ist nicht etwas Ver­ti­ka­les, von unten nach oben. Es geht viel­mehr dar­um, sein Bewusst­sein gleich­zei­tig in ver­schie­de­ne Rich­tun­gen zu erwei­tern. Es ist extrem schwie­rig zu beschrei­ben, was pas­siert, wenn sich der Fokus des Bewusst­seins ver­schiebt (ich bezwei­fe­le, dass wir jemals wis­sen kön­nen, was da eigent­lich pas­siert, es ist und bleibt ein Geheim­nis), aber ich kann es mit Bei­spie­len veranschaulichen.

Den­ke zurück an die Zeit, als du ein blu­ti­ger Anfän­ger warst und gera­de mit Tan­go ange­fan­gen hast. Erin­ne­re dich, wie du dich gefühlt hast, was du über Tan­go gewusst und gedacht hast. Puglie­se hat in sei­nen dra­ma­ti­schen Momen­ten wahr­schein­lich dei­ne See­le berührt. Einen hohen Voleo aus­zu­füh­ren (oder ihn zu füh­ren) erschien dir wahr­schein­lich als die ulti­ma­ti­ve Tan­go-Selig­keit, die du jemals erfah­ren wür­dest. Mit jenem Mann oder jener Frau zu tan­zen erschien dir so uner­reich­bar wie ein Film­star zu wer­den. Und den­ke dar­über nach wo du dich in dei­ner Ent­wick­lung GERADE JETZT befin­dest. Viel­leicht hast du dich zuerst zu Gotan Pro­ject intui­tiv bewegt und genießt jetzt ruhi­ges Gehen zu Fir­po. Viel­leicht hast du inzwi­schen gelernt einen Voleo aus­zu­füh­ren, aber kannst nach all den Jah­ren immer noch nicht rich­tig dre­hen. Genau das bedeu­tet den Fokus des Bewusst­seins zu ver­schie­ben: Eine ande­re Per­son wer­den, und trotz­dem man sel­ber bleiben.

Wenn du zu einem Tan­go­leh­rer gehst, sagst du wahr­schein­lich: “Ich habe ein Pro­blem. Ich ver­lie­re stän­dig die Balan­ce und ich füh­le mich auch sehr unwohl, wenn ich die­ses und jenes mache.” Der Leh­rer wird mit dir tan­zen, dich beob­ach­ten, dich eini­ge Übun­gen machen las­sen, ein biss­chen Theo­rie erklä­ren und dann wer­den die Din­ge anfan­gen sich zu ver­än­dern. Als ers­tes wird dir, mit Hil­fe des Leh­rers, bewusst wer­den, wenn etwas nicht funk­tio­niert. Als nächs­tes wirst du ver­ste­hen, war­um es nicht funk­tio­niert. Der Leh­rer wird dir Rat­schlä­ge und Bil­der geben, um das, was du tust, zu KORRIGIEREN und ein ande­res Ergeb­nis zu bekom­men. Dir wird nun auch bewusst wer­den, wenn etwas funk­tio­niert. Am Ende des Unter­richts wirst du spü­ren, dass sich der Fokus dei­nes Bewusst­seins ver­scho­ben hat. Du weißt jetzt viel mehr über dein “Pro­blem” und wie du es lösen kannst. Aber du weißt es nicht nur in dei­nem Kopf. Dank einer gestei­ger­ten WAHRNEHMUNG und eines ver­fei­ner­ten GEFÜHLS hast du ein neu­es, umfas­sen­des, kör­per­li­ches Ver­ständ­nis davon, was eigent­lich pas­siert. Gera­de­zu magisch, wenn man dar­über nachdenkt.

Tan­go lernst du nicht nur im Unter­richt, das Ler­nen fin­det vor allem IN DIR statt. Es geschieht, indem du immer wie­der dei­nen Fokus des Bewusst­seins (FdB) ver­schiebst. Dein Leh­rer kann dir dabei hel­fen, aber er kann es nicht für dich tun. Du musst zulas­sen, dass es pas­siert. Dein Leh­rer kann dir Din­ge bei­brin­gen, weil er in die­sem Bereich einen ande­ren FdB hat. Er sieht und spürt Din­ge in dei­nem Tanz, derer du dir nur vage bewusst bist. Er sieht auch Bezie­hun­gen zwi­schen ver­schie­de­nen Pro­ble­men und erkennt, dass die Lösung viel­leicht nicht dort liegt, wo du nach ihr suchst. Er ver­steht auch dein psy­cho­lo­gi­sches Pro­fil und wählt einen per­sön­li­chen Ansatz: Was du bereit bist zu hören und was du noch nicht hören willst. Dein Leh­rer wird nicht ver­su­chen, dich SOFORT zu sei­nem FdB zu brin­gen, wenn der Abstand zwi­schen euch groß ist. Ein guter Leh­rer wird immer wie­der dei­nen FdB nur ein biss­chen anstup­sen, so dass du wie­der ein klei­nes Stück weiterkommst.

War­um ist der Fokus dei­nes Bewusst­seins so wich­tig? Ganz ein­fach, weil er all dei­ne Erfah­run­gen, dein gan­zes Ver­hal­ten, dei­ne Wahr­neh­mung, dei­ne Zie­le und Urtei­le bestimmt. Das Para­do­xon des Bewusst­seins besteht dar­in, dass du oft das Gefühl hast, dass dein momen­ta­ner FdB end­gül­tig sei. Bis etwas, was du liest, hörst, fühlst oder denkst, dir wie­der einen Stup­ser gibt. Bei den meis­ten Leu­ten ver­schiebt sich ihr Fokus stän­dig, denn wir wach­sen per­ma­nent, ler­nen etwas Neu­es, den­ken über Din­ge nach und ver­su­chen etwas auf eine neue Wei­se. Gro­ße und plötz­li­che Ver­schie­bun­gen nennt man Epi­pha­nie oder Offen­ba­rung. Das war es, was Bud­dha spür­te, als er unter dem Baum saß, und das spürst du viel­leicht, wenn du einem groß­ar­ti­gen Tän­zer auf der Büh­ne zuschaust. Ein plötz­li­ches Ver­schie­ben des FdB fühlt sich an, als ob man plötz­lich ein rie­si­ges Wis­sen erwor­ben hät­te, als ob man plötz­lich etwas ver­ste­hen wür­de und Din­ge frisch, ver­fei­nert und voll­stän­di­ger füh­len wür­de. Es ist uns immer bewusst, wenn sich unser FdB ver­schiebt. Es kann ein “Aha” Moment sein oder auch nur ein “Ah, ok, ver­ste­he”. Wenn es nicht gera­de die Erkennt­nis ist, dass es kei­nen Weih­nachts­mann gibt, ist es nor­ma­ler­wei­se eine ange­neh­me Erfahrung.

Wie ver­bes­sert all dies nun dei­nen Tango?

Die Auf­ga­be eines Leh­rers besteht dar­in zu erken­nen, wo sei­ne Schü­ler in ihrem Bewusst­seins­pro­zess ste­hen und wie er sie einen Schritt wei­ter brin­gen kann. Die Auf­ga­be eines Schü­lern besteht dar­in zu ver­ste­hen, dass sein Fokus des Bewusst­seins sich stän­dig ver­än­dern muss, wenn er erfolg­reich ler­nen will. Man kann sei­nen FdB blo­ckie­ren oder sanft flie­ßen lassen.

Jede über­mä­ßig star­re Mei­nung über dich sel­ber und die Welt ver­hin­dert, dass sich dein FdB ver­än­dert. Wenn du denkst “Das wer­de ich eh nie­mals ler­nen, schon mei­ne Mut­ter hat mir immer gesagt, dass ich kein Rhyth­mus­ge­fühl habe” blo­ckierst du dei­nen FdB. Wenn du denkst “Wah­rer Tan­go ist nur so-und-so, bis in alle Ewig­keit, Amen” blo­ckierst du dei­ne Ent­wick­lung. Wenn du denkst “Gute Tän­zer sind Snobs, sie wol­len nur mit ande­ren guten Frau­en tan­zen” ver­hin­derst du, dass du sel­ber ein guter Tän­zer / eine gute Tän­ze­rin wirst. Du kannst nicht jemand ver­ach­ten und gleich­zei­tig danach stre­ben wie die­se Per­son zu wer­den – das ist ein­fach absurd. Wenn du denkst “ Tan­go ist nur etwas für jun­ge Frau­en mit lan­gen Bei­nen, die hohe Vole­os machen kön­nen” ver­hin­derst du, dass du her­aus­fin­dest, dass das nicht stimmt. Wenn du hin­ge­gen denkst “Ich kann das zwar im Moment noch nicht, wer­de es aber bald kön­nen” erlaubst du dei­nem FdB zu fließen.

In wel­chem Zustand lernt man am bes­ten? Im Zustand der “tabu­la rasa”, der lee­ren Tafel bzw. des unbe­schrie­be­nen Blat­tes. Wer­de wie ein Kind, das Gehen lernt. Ein Kind ver­flucht sich nie­mals dafür, dass es hin­ge­fal­len ist, es steht ein­fach auf und ver­sucht es noch­mal. Ler­ne in einem neu­gie­ri­gen und völ­lig neu­tra­len Zustand, frei von allen Urtei­len und alten Vor­stel­lun­gen über dich sel­ber. Leg dei­ne Pro­ble­me und dei­ne Wer­te ab und schau ein­fach wohin dein FdB als nächs­tes flie­ßen möchte.

Das Phä­no­men Tan­go hat auch einen kol­lek­ti­ven, sich stän­dig ver­än­dern­den Fokus des Bewusst­seins. Schau dir z.B. an, was wir vor zehn Jah­ren schön fan­den und was wir heu­te genie­ßen. Tan­go fließt und das soll­test du auch. Wenn du, nach­dem du das hier gele­sen hast, das Gefühl hast, ein neu­es Ver­ständ­nis gewon­nen zu haben, dann gra­tu­lie­re ich dir: Der Fokus dei­nes Bewusst­seins hat sich gera­de verschoben.

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  1. Olga Marchheim

    Das ist das bes­te Arti­kel über Tan­go, das ich je gele­sen habe ❤️❤️❤️🙏🙏🙏

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