Einer der m.E. absurdesten Aspekte des derzeit angesagten Kompetenzen-Wahns ist, dass man plötzlich meint die „reine“ Kompetenz, völlig isoliert von anderen, prüfen und bewerten zu müssen. So sollen z.B. bei Hörverstehensübungen Rechtschreibfehler nur noch „geahndet“ werden, wenn sie „sinnentstellend“ sind (vgl. „Hinweise zur Korrektur und Bewertung“).
Nehmen wir als Beispiel das aktuelle Abitur und die Tatsache, dass Herr Karmani ein „youth counsellor“ ist. Der begegnet mir jetzt in den unterschiedlichsten Schreibweisen: councillor, counsilor, caunseler, usw. Dank meiner geradezu unerschöpflichen rezeptorischen Kompetenz erkenne ich in all diesen interessanten Variationen natürlich immer noch das ursprünglich gemeinte Wort und gebe den Punkt.
Was ich aber NICHT erkenne ist, ob der Schüler überhaupt verstanden hat, was er da zu Papier bringt oder ob er nur versucht irgendwas hinzuschreiben, was ungefähr den Regeln der englischen Rechtschreibung entspricht. Was wäre denn z.B. mit dem „kaunsella“? Ist das jetzt „sinnentstellend“ oder „meint“ der Schüler nicht doch „eigentlich“ das Richtige?
Bei der Aufgabe 5 soll es entsprechend einen ganzen Punkt für ‚edjucation‘, ‚edukation‘ etc. geben, dabei ist das ein Wort, das bereits in der 7. Klasse (!) gelernt wurde. Wir predigen unseren Schülern doch immer, dass man ein Wort nur wirklich kann, wenn man es richtig schreiben und aussprechen kann, wenn man seine Bedeutung(en) kennt und weiß wie man das Wort benutzt (Kollokationen, Konnotationen etc.). Warum soll dieser bewährte Grundsatz jetzt plötzlich bei bestimmten Aufgabenformen nicht mehr gelten?
Wenn man von der Musterlösung ausgeht (und Alternativen weglässt), muss der Schüler in diesem Teil des Abiturs (!) genau ZEHN Wörter schreiben. Warum kann ich dann – verdammt nochmal – nicht erwarten, dass diese Wörter auch richtig geschrieben werden? Wozu haben die Schüler eigentlich ihr zweisprachiges Lexikon? Warum überprüfe ich zusammen mit der Hör- nicht auch gleich die Lexikon-Benutzungskompetenz mit den Teilkompetenzen: Lexikon richtigherum in die Hand nehmen, an einer sinnvollen Stelle öffnen („nein, der Buchstabe ’s‘ beginnt nicht schon nach 20 Seiten“), zügiges Blättern, alphabetische Kompetenz und schließlich die Fähigkeit ein Wort aus dem Lexikon richtig abzuschreiben? Warum gehört zum „finalizing“ nicht auch dazu, ggf. ein paar Wörter nachzuschlagen um sicherzugehen, dass sie auch richtig geschrieben sind? Denn nur dann würde ich sehen, ob der Schüler auch wirklich kapiert hat, dass es halt ein „counsellor“ und kein „councillor“ ist. Auch bei Hörverstehensübungen sollten Rechtschreibfehler deshalb mit einem halben Punkt gewertet werden.
Aber noch stehen wir ja erst am Anfang der kompetenten Isolierung, da besteht noch erheblicher Reformbedarf. Es ist z.B. völlig unhaltbar, dass wir bei mündlichen Äußerungen auf Aussprache / Intonation, Wortschatz, Grammatik, Kohärenz und Inhalt gleichzeitig achten müssen, da können ja nur wenig aussagekräftige Ergebnisse herauskommen. In Zukunft redet der Schüler irgendwas und wir konzentrieren uns ausschließlich auf seine phonologisch-intonatorische Kompetenz. Ein anderes Mal geht es nur um seine lexikalische Kompetenz, ohne dass der Inhalt in die Bewertung eingehen darf. Long live splendid isolation …
Philipp
Ich gebe dir völlig recht, auch wenn ich diese seltsame Vorgehensweise beim HV sogar eher als kleineres Problem betrachte. Das sind halt Prüfungen, die nach irgendwelchen Testing-Kriterien erstellt sind. Was mich am Meisten stört, ist, dass die Fähigkeit fremdsprachige Vokabeln zu WISSEN, keine Kompetenz ist, sondern halt irgendwie stillschweigend vorausgesetzt wird oder als notwendiges Übel betrachtet wird???. Wörterbuchverwendung und Umschreibungsstrategien sind aber sehr wohl Kompetenzen. Das Problem: Ohne Wörterkenntnis keine Sprache. Dieser dämliche Hype mit den Kompetenzen ist ein hervorragendes Beispiel, wie eine eigentlich ganz gute Idee (natürlich sollen Oberstufenschüler vernünftig mit dem Wörterbuch umgehen können) völlig überzogen wird.
Herr Rau
Testtheoretisch verstehe ich den Gedanken bei der Trennung gut. Praktisch führt das dazu, dass noch weniger übergreifend gearbeitet wird. Was man in Deutsch in einer Phase gelernt hat, darf man danach gleich wieder vergessen; in anderen Fächern spielt das ohnehin keine Rolle. Transfer zwischen Fächern findet nicht statt, auch innerhalb von Fächern zu wenig.
Susann
Ich finde das Ganze insofern absurd, als die Rechtschreibung AUCH eine Visitenkarte ist – wir verbringen Jahre damit, den Schülern zu sagen, dass der erste Eindruck zählt, in ihren Bewerbungsschreiben und auch sonst wo – und dass richtige Rechtschreibung zu einem guten ersten Eindruck beiträgt.
Aber beim Abi ist das plötzlich alles egal. Die Schüler sind ja nicht blöd, in der Regel sind die durchaus in der Lage, zu lernen, wie man „education“ schreibt. Aber ihnen zu vermitteln, dass die Rechtschreibung eh egal ist, setzt einen falschen Anreiz. Abgesehen davon, dass der Punkt nun vom subjektiven Good will des Lehrers abhängt („…kounsilla – Okay, kann mir vorstellen, was er meint, 1 BE.“) und nicht von einem objektiven Kriterium (kounsilla =/= counsellor = 0 BE) – was ist mit der immer geforderten Objektivität und Transparenz?
Jochen (der andere)
Ich kann dem nur zustimmen, möchte aber noch zwei Gedanken anfügen:
Gerade bei einer Sprache als Schulfach ist es absolut kontraproduktiv, diese in ihre Einzelkompetenzen zu zerlegen, um dann diese bruchstückhaften Teilwissensbereiche isoliert voneinander abzuprüfen. Sprache ist immer ein Gesamtkunstwerk, dass man zwar nach verschiedenen Kriterien, letztlich aber als Gesamtheit bewerten muss.
Entscheidend ist, dass ein native speaker einen gesprochenen und geschriebenen Text eindeutig versteht. Wenn also ein Schüler im LC Test Wörter falsch schreibt, ist sie dieses Verständnis beeinträchtigt. Daher ist ein Punktabzug nicht nur möglich, sondern geradezu unvermeidlich.
Ich ärgere mich auch schon seit langem über die zunehmend sinkenden Anforderungen an die Leistungen unserer Schüler in den Sprachen, insbesondere im Englischen. Letztlich dient das alles dazu, dass sich ein Kultusminister vor die Öffentlichkeit stellen und verkünden kann, dass G8 sei für die Schüler nicht schwerer zu bewältigen als das G9 vorher. Beweis: die (notfalls auch durch nachträgliche Abmilderung des Korrekturschlüssels von oben, wie beim letzten Matheabitur) mindestens gleich guten, wenn nicht gar besseren Abinoten der Schüler.
Da bleibt uns Englischlehrern nur, den pädagogischen Freiraum, den wir haben, nach Kräften dazu zu nutzen, unseren Schülern trotz alledem noch ein gescheites Englisch beizubringen und selbiges auch in unseren Kursen abzufordern. An meiner Schule (Gymnasium Trostberg) besteht jedenfalls kein Zwang, in Oberstufentests ausschließlich die neuen Abiturprüfungsformen anzuwenden. Und wenn dann die Abinote besser als die Kursnote ist, überlasse ich getrost den Schülern das Urteil darüber, ob das diesjährige Englischabitur ihren wirklichen Leistungs- und Kenntnisstand widerspiegelt.
Michael Kammer
> Beweis: die (notfalls auch durch nachträgliche Abmilderung des Korrekturschlüssels von oben, wie beim letzten Matheabitur) mindestens gleich guten, wenn nicht gar besseren Abinoten der Schüler.
Ist zwar nicht Englisch, und ich bin auch erst Referendar, aber ich dachte, die Noten selbst wurden 2011 nicht verändert, sondern, dass man in Mathe, Deutsch und Fremdsprache statt 2 Mal 5 Punkte nur noch 1 Mal 5 Punkte und 1 Mal 4 Punkte braucht um zu bestehen. Oder hab ich was verpasst?
max
Und das kommt „hinten“ raus …
>Medienkompetenz sehr gut, deutsche Sprache mangelhaft
>Studie fördert bestürzende Lücken bei Studienanfängern zutage
>Deutsche Studienanfänger weisen massive Lücken in Rechtschreibung und
>Grammatik auf und zeigen zudem eine mangelnde Lesekompetenz. Zu diesem
>Schluss kommt eine bislang unveröffentlichte Studie unter den Philosophischen
>Fakultäten an deutschen Universitäten.
http://tinyurl.com/brozr2k