Aktuelle Texte gelten gemeinhin als Synonym für guten und interessanten Unterricht. Im Folgenden möchte ich mal ein bisschen an diesem Mythos kratzen.
Zunächst möchte ich beschreiben, welche Funktion aktuelle Texte beimir haben. Bei mir „garnieren“ 2–3 aktuelle Texte ein Thema, das wir auf der Basis des Buchs erarbeitet haben. Zu diesen Texten gibt es eine study Hausaufgabe und in der nächsten Stunde sprechen wir darüber. Ich erstelle also keinen aufwändigen Aufgabenapparat (mit Musterlösung), alles geht entsprechend flott und ist nicht viel Arbeit. Leider wird dieses Verfahren mit jedem neuen Oberstufenbuch immer schwieriger, denn auch die leiden an grassierendem „Aktualismus“. Früher hatte man längere, „zeitlose“ Texte, die eine gute Grundlage für ein Thema boten. Heute hat man immer mehr kurze, „aktuelle“ Texte, die schon nach wenigen Jahren unbrauchbar geworden sind.
Ganz anders sieht es aus, wenn völlig ohne Buch gearbeitet wird und ein ganzes Thema mit Kopien bzw. Handouts abgedeckt wird. Es soll ja Kollegen geben, denen selbst die jeweils neueste Lehrbuchgeneration nicht „gut“ bzw. „aktuell“ genug ist. Das Buch wird zwar oft am Anfang des Schuljahres ausgeteilt, später aber kaum mehr benutzt. Stattdessen fegt ein Sturm an Kopien und Handouts über die Schüler hinweg (etwas bizarr wirkt es dann, wenn ausgerechnet diese Kollegen darüber jammern, dass die Kids keine Bücher mehr lesen). Unermüdlich wird downgeloaded, gepastet und gecopied, ausgeschnitten, kopiert und geklebt und sprachlich bzw. inhaltlich gekürzt und mit Fragen bzw. Aufgaben versehen. Kurz vor Unterrichtsbeginn sieht man den Kollegen noch schnell zum Kopierer sausen, weil er sich gestern Abend ganz aktuell was runtergeladen hat, das er heute unbedingt seinem Kurs präsentieren muss.
Den Großteil dieses Wustes kann man genau EINMAL brauchen, spätestens nach zwei Jahren ist das Meiste davon unbrauchbar (weil nicht mehr aktuell) und das Ganze geht wieder von vorne los. Schon aus Gründen der Arbeitsökonomie käme mir dieses Verfahren nie in den Sinn. Einer meiner wichtigsten Grundsätze ist, Arbeit und Zeit nur in Dinge zu stecken, die ich WIEDERVERWENDEN kann. Nur dann lohnt es sich auch Materialien ständig zu überarbeiten und zu verbessern. Für alles, von dem ich schon vorher weiß, dass ich es voraussichtlich nur genau einmal brauchen kann, verwende ich nur möglichst wenig Energie.
Dieses m.E. einleuchtende Prinzip wird z.B. im Referendariat nach meiner Erfahrung leider überhaupt nicht vermittelt. Da werden unwahrscheinlich aufwändige Unterrichtsreihen mit einem enormen Materialaufwand (laminierte Arbeitskarten, Farbfolien etc.) durchgeführt, die man so nie wieder verwenden kann.
Das grundlegende Missverständis scheint mir bei vielen „Aktualisten“ zu sein, dass „(tages-) aktuell“ automatisch mit „motivierend“ gleichgesetzt wird. Die Annahme bzw. Hoffnung lautet ungefähr so: „Alles – oder zumindest das Meiste – was in der Gegenwart passiert, interessiert meine Schüler und deshalb wird ihnen mein Unterricht besser gefallen, wenn ich ihnen möglichst viele aktuelle Texte biete.“ Man braucht sich nur mal die deprimierenden Statistiken über die (Zeitungs-) Lektüregewohnheiten von Jugendlichen zu Gemüte zu führen, um sich klarzumachen, wie absurd diese Annahme ist. Abhängig davon, wie „bildungsnah“ die Herkunft unserer „Klienten“ ist, gibt es hier sicher große Unterschiede, aber ich bin schon froh wenn zumindest ein Drittel meiner Klassen bzw. Kurse zuhause eine (Tages-) Zeitung hat. Damit ist natürlich noch lange nicht gesagt, dass sie auch tatsächlich mehr als den Sportteil lesen. An aktuellem (welt-) politischem Geschehen sind nach meinen Erfahrungen nur die allerwenigsten Schüler interessiert.
Vielleicht gehen ja gerade ältere Lehrer zu sehr von ihren eigenen „steinzeitlichen“ Vor-Internet Erfahrungen aus. Wer (wie ich) mit „Learning English“ groß geworden ist, war für jeden TIME bzw. Newsweek Artikel dankbar und der entsprechende Lehrer hatte schon mal automatisch einen Bonus. Wer sich heute (auch ohne Zeitung) aktuell informieren möchte, kann das problemlos am PC bzw. Handy, niemand braucht dafür mehr den (Englisch-) Lehrer. Aktuelle Texte sind deswegen heute nicht mehr automatisch „motivierend“.
Abgesehen vom geringen bzw. fehlenden Motivationspotential haben aktuelle Texte, aber auch noch andere Eigenheiten, die eine didaktische Analyse dringend erfordern. Merkwürdigerweise werden Lehrbuchtexte oft (über-) kritisch seziert, während viele Kollegen aktuellen Texten gegenüber jegliche kritische Distanz vermissen lassen. Allein die Tatsache, dass es um irgendwas geht, das vor ein paar Tagen, Wochen oder Monaten irgendwo passiert ist, scheint schon Grund genug zu sein, Schüler damit zu behelligen. Dabei sind gerade „News“ Artikel häufig mit Fakten überladen, die die tieferliegenden Probleme eher verdecken als erhellen: „Yesterday Senator Greatbore said at a conference about illegal immgrants in Dulltown, Illinois that … By contrast Senator Waffleman pointed out in a speech in Smalltown, Arkansas that …“. Worum es bei der ganzen Diskussion über illegal immigrants eigentlich geht, verschwindet oft unter unzähligen Namen, Daten und Fakten. Den meisten Schülern fehlt komplett das notwendige (Hintergrund-)Wissen um den Text sinnvoll einordnen zu können.
Auch stilistisch sind diese Texte oft eher dürftig. Wie sollen Schüler z.B. paragraph writing lernen, wenn man ihnen ständig Texte vorlegt, die in kurzen one sentence paragraphs verfasst sind? Auch in punkto sprachlicher Eleganz, effektiver Verwendung von Stilmitteln etc. sind aktuelle Texte oft dürftig.
Seitdem ich selber bei Oberstufen-Lehrbüchern mitarbeite, ist mein Respekt vor Lehrbuchautoren noch einmal erheblich gewachsen. Mir ist klar geworden, welch ungeheure Arbeit dahinter steckt, bis man geeignete Texte gefunden hat, die die verschiedenen Aspekte eines Themas abdecken, zum didaktischen Konzept eines Lehrbuchs passen und auch noch (hoffentlich) die Schüler motivieren.
Fazit: Ein Text muss nicht nur ein bisschen, sondern ERHEBLICH besser sein als das, was ich im Buch bzw. in den begleitenden Materialien (wie dem Lehrerhandbuch) bereits habe, damit ich mir diese ganze Arbeit mache. Aktuelle Oberstufenlehrbücher sind m.E. so gut und umfassend, dass „Aktualismus“ in den meisten Fällen unökonomisch und kontraproduktiv ist.
Mat
Absolute Zustimmung! Leider sieht es im Referendariat so aus, dass man eine Bemerkung bekommt a la „Er greift leider zu oft auf vorgefertigtes Material zurück“! Für Beurteiler soll man noch immer das Rad neu erfinden…
Grüße M.
Stehl-Hofer, Sonja
Ich arbeite an einer Realschule und da ist es durchaus angebracht, den Schülern beizubringen und von den Referendaren zu verlangen, dass sie auch mal selbst intersantes Material zu den aktuell besprochenen Themen recherchieren. Das setzt voraus, dass ich selbst mit gutem Beispiel vorangehe.
Häufig greife ich übrigens auf den Aktualitätendienst von Cornelsen zurück, so z.B. gerade zum Thema Child Labour auf entsprechende Links zum BBC News Service. Das kommt bei den Schülern durchaus gut an. Sie erhalten den Haupttext und recherchieren von dort aus weiter.
Grundsätzlich gilt aber auch für mich: das Ganze muss im Rahmen bleiben und sollte auch meiner Entlastung dienen.