Referendare tun mir oft richtig leid. Oft genug lernen sie Methoden und Verfahren, die völlig unökonomisch und praxisuntauglich und müssen ihren Seminarlehrern zuliebe Dinge machen, von denen sie ganz genau wissen, dass sie das später nie wieder so machen werden. Vor kurzem fragte mich ein Referendar ganz verzweifelt, ob ich ihm nicht helfen könne. Er bekomme Besuch vom Seminarlehrer und er müsse in der Stunde das present perfect progressive einführen und zwar erstens streng induktiv und zweitens ausschließlich in der Fremdsprache. Ich konnte ihm nur den Tipp geben, die Stunde wie gewünscht durchzuziehen und in der nächsten Stunde (ohne Semiarlehrer) zu versuchen, das Durcheinander in den Köpfen der Schüler auf Deutsch ein bisschen zu klären.
Es verblüfft mich immer wieder, wie viele Seminarlehrer immer noch um das goldene Kalb der induktiven Grammatikeinführung herumtanzen. Die ganze Theorie („Wissen muss konstruiert werden“) mag ja durchaus richtig sein, nur gibt es halt auch noch ein paar andere Kriterien wie z.B. Unterrichtsökonomie und Effizienz. Allerorten werden Stunden gestrichen und die Lehrer klagen zu Recht darüber, dass sie in immer weniger Zeit immer bessere Qualität produzieren sollen. Auf der anderen Seite leisten sie sich völlig unreflektiert extrem unökonomische Methoden.
Induktive Grammatikeinführung verläuft meistens nach immer demselben Muster. Der Lehrer schreibt irgendeinen Satz an die Tafel (oder projeziert ihn) und gibt einen Impus in der Art von „What is unusual about this sentence?“, „What strikes you?“ usw. Die Schüler kennen das nun folgende Spielchen natürlich und wissen, dass es jetzt zu erraten gilt, was der Lehrer hören möchte. Es beginnt ein munteres „Wir stochern im Grammtik-Nebel“ Spiel, bei dem alle möglichen Begriffe in den Raum gerufen werden. Anhand verbaler und non-verbaler Signale (Lehrer verzieht gequält das Gesicht) erkennen die Schüler, ob sie auf der richtigen Fährte sind. Meistens sind sie es nicht, weshalb der Lehrer nun versucht sie mit „Have a closer look at …“ in die richtige Richtung zu schubsen. Falls auch das nichts hilft, werden die Fragen so lange umformuliert, bis ein cleverer Schüler aus der Frage einen Aussagesatz macht und den Lehrer aus seiner Not befreit. Das Stundenziel ist erreicht, die Schüler haben sich die Regel selbständig „erarbeitet“, der Lehrer fasst nochmal kurz zusammen und dann geht’s weiter.
In Wirklichkeit haben die meisten Schüler natürlich überhaupt nichts verstanden. Verständlicherweise schalten die meisten sowieso nach ein paar Minuten ab, was bringt es auch diesem Durcheinander zuzuhören? Aktiv beteiligen am Grammatikquiz können sich ja auch nur wenige, weil sie die englischen Fachbegriffe gar nicht kennen. Genau die gleichen Lehrer, die verlangen, dass Grammatik induktiv und in der Fremdsprache eingeführt werden muss, sind normalerweise strikt dagegen, dass Schüler die englische Fachbegriffe „pauken“. Das ist ja schließlich nutzloses „deklaratives“ Wissen und überhaupt machen wir ja keinen herkömmlichen Grammatikunterricht. Gleichzeitig jammern diese Lehrer darüber, dass die Schüler überhaupt keine Grammtik beherrschen und schon im Deutschen nicht wissen, was ein Adverb, geschweige denn ein konsekutiver Nebensatz oder ein intransitives Verb ist. Fassen wir bisher zusammen: Die Schüler beherrschen schon elementare deutsche Grammatik nicht, sollen die englische Fachbegriffe nicht lernen, sollen sie dann aber präzise benutzen können um unbekannte Grammatikphänomene analysieren und Regeln selbständig formulieren zu können.
Steigern kann man diesen Quatsch noch, indem man von Referendaren verlangt, Grammatikphänomene auf Englisch einzuführen, die schon auf Deutsch kaum jemand versteht. Es gibt nun mal kein dem present perfect progressive vergleichbares mentales Konzept im Deutschen. Es ist schon schwierig genug auf Deutsch eine Vorstellung davon zu vermitteln, was damit gemeint ist und wann man es verwendet. Wenn man das unter o.a. Bedingungen auf Englisch versucht, kann man nur scheitern.
Aber scheitern tun ja nur die Schüler. Der Lehrer hat ja seiner Meinung nach nichts falsch gemacht. Die Schüler haben sich die Regel wie gewünscht „erarbeitet“ und dann wird ein bisschen geübt. Was kann der Lehrer dafür, dass es in der Schulaufgabe fast keiner richtig kann? Sollen sie halt Nachhilfe nehmen …
Das soll natürlich nun nicht heißen, dass die induktive Methode nichts taugt. Natürlich kann ich „erarbeiten“ lassen, dass im Englischen das Adverb durch Anhängen von -ly ans Adjektiv gebildet wird. Und die Experten dürfen sich gerne streiten, ob das jetzt so viel besser und nachhaltiger ist, als wenn ich den Schülern SAGE, dass im Englischen … Aber die Methode wird unsinnig, wenn Schüler, die keinen blassen Schimmer von Grammatik haben, anfangen, die paar Begriffe, die ihnen geläufig sind, wahllos in den Raum zu werfen.
Und, ach ja, wenn ich möchte, dass ich mich mit den Schülern in der Fremdsprache über Grammatik unterhalten kann (und ich möchte es), dann müssen sie halt auch die entsprechenden Begriffe beherrschen. Ergo müssen meine Schüler z.B. die Liste der Grammatical Terms (in English G Bd. 4 Bayern auf S. 168–169) auswendig lernen. Natürlich nicht nur einmal, damit sie sie pro forma mal gelernt haben, sondern damit wir immer mal wieder z.B. am Stundenende Sätze beschreiben und analysieren können.
Zu jung um die Anspielung im Betreff zu verstehen? Guckst du hier.
Claudia Boerger
Ich stimme mit deiner Meinung vollkommen ueberein, Jochen. Wissenschaftlich gestuetzt wird diese Einschaetzung ja auch durch Wolfgang Butzkamms Aufsatz „Muttersprache als Sprachmutter“, den du ja an anderer Stelle in diesem Blog ebenfalls zitierst.
Diese (erzwungene?) Herumhampelei der Referendare vor und bei den Seminarleiterbesuchen geht mir als Beobachterin auch zunehmend auf die Nerven – zumal man tatsaechlich den Eindruck gewinnt, dass es im Grunde gar nicht mehr um die Verstehensprozesse der Schueler geht, sondern alleinig um den Referendar, der bei der „Auffuehrung Unterricht“ gut aussehen will und muss. Das ist ein uebler egozentrischer Fokus in der Lehrerausbildung und ich frage mich, wie leicht oder schwer man den danach aufgibt, um die Schueler in den Mittelpunkt der Unterrichtsplanung zu stellen.
rip
Sehr schöner Eintrag! Am gelungensten finde ich den dritten Absatz, in dem du beschreibst, wie eine „induktive Grammatikeinführung“ üblicherweise abläuft 🙂
Nordbär
Moinmoin aus Bremen,
ein schöner Blog, vielen Dank! Und ein lesenswerter Artikel – ich stimme voll zu. Im Studium las ich eine ebenso schöne Beschreibung in einem Buch von Grell und Grell – die Lehrer geben keine Hinweise, die Schüler raten und raten, und lernen tut ansich keiner was.
Schön, wie Du es ausdrückst: ansich kann man es den Schülern auch einfach SAGEN, was bei einer neuen Konstruktion zu lernen ist. Und dann übt man. Und gut! 🙂
Viele Grüße
Olaf
Sud92
Hallo,
also ich studiere Lehramt (Französisch/Spanisch) und möchte einmal meine Meinung zu deinem Artikel bezüglich der Induktion sagen:
so wie du die Induktion beschreibst, sollte sie auf keinen Fall betrieben werden. Wir haben gelernt, dass die Induktion in Einzel- oder Partnerarbeit durchgeführt werden sollte. Dazu erhalten die SuS einen Text und einige Aufgaben dazu, die sie anleiten. Dadurch schaffen es 95% aller SuS das Phänomen selbst zu erarbeiten.
Freilich bietet sich das nicht bei allen Themen an, abei bei vielen Themen ist es möglich.
EIn Englischlehrer
> Dadurch schaffen es 95% aller SuS das Phänomen selbst zu erarbeiten.
Das möchte ich sehen…