Die Mediation / Sprachmittlung hat eine steile Karriere hinter sich. Als 2006 die Bayern-Ausgabe von New Context erschien, war das meines Wissens das erste Oberstufen-Lehrbuch in dem Sprachmittlung (vgl. S. 256–257) auftauchte. In fast allen Bundesländern ist sie inzwischen fest im Lehrplan verankert und in den meisten taucht sie auch im Abitur auf. Gebetsmühlenartig wird behauptet, bei der Mediation handele es sich um eine „hoch relevante Übungs- und Prüfungsform“. Stimmt das?
Wie kann es sein, dass etwas, was vor ein paar Jahren noch kein Mensch vermisst hat, inzwischen so wahnsinnig wichtig geworden ist, dass es in kürzester Zeit zu Abiturehren gekommen ist? Was hat sich im „wirklichen Leben“ da draußen so verändert, dass wir unsere Schüler unbedingt darauf vorbereiten müssen?
Zumindest in Bayern gab es das mündliche Dolmetschen (interpreting) ja schon seit ewigen Zeiten. Es fristete allerdings ein recht kümmerliches Dasein, immer mal wieder gab es die üblichen „Stell dir vor …“ Aufgaben, die keiner für so furchtbar wichtig hielt. Auch beim Dolmetschen muss(te) man sich auf das Wesentliche konzentrieren, unwichtige Details weglassen und „Adressaten-gerecht“ übertragen. Gibt es irgendeinen (wichtigen) Unterschied zwischen dem (ur-)alten Dolmetschen und mündlicher Sprachmittlung? Immer wenn ich diese Frage stelle, bekomme ich nur ausweichende Antworten und ein verlegenes Hüsteln. Ergo gibt es KEINEN.
Warum ist nun bitteschön das gute (?) alte Dolmetschen, das früher niemand interessierte, in wenigen Jahren nicht nur mündlich sondern jetzt sogar in schriftlicher Form so fürchterlich wichtig geworden? Auf der einen Seite erzählen wir unseren Schülern ständig, dass ohne die lingua franca Englisch in der modernen Welt gar nichts mehr geht, auf der anderen Seite bereiten wir sie auf eine Welt vor, in der sie angeblich ständig mit Menschen zu tun haben, die des Englischen nicht mächtig sind und deshalb schriftliche Zusammenfassungen von Texten benötigen.
Wann hast DU das letzte Mal (oder überhaupt jemals) SCHRIFTLICH etwas „sprachmitteln“ müssen? Ich kann mich an keine einzige Situation erinnern, auch meine Schüler können nicht erkennen, welche praktischen Sinn schriftliches „Übertragen“ haben soll. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse bzw. Studien legen überzeugend nahe, dass schriftliche Mediation diesen hohen Stellenwert verdient? Englische Texte auf englisch zusammenzufassen (summary) machen wir auch seit ewigen Zeiten. Warum jetzt plötzlich eine ENGLISCHE Zusammenfassung eines deutschen Textes produzieren?
Es wäre ja nun gar nichts gegen die Mediation zu sagen, wenn auf diese Art deutsch – englische Sprachkompetenz überprüft werden würde: Kann ein Schüler deutsche Inhalte präzise und mit angemessenem Wortschatz in Englisch wiedergeben? Dann wäre die Mediation eine Mischung aus summary und deutsch-englischer Übersetzung. Aber das soll sie ja gerade NICHT sein. Es geht nicht um inhaltliche Genauigkeit, sondern um „sinngemäßes Erfassen“ und es geht nicht um präzisen Ausdruck, sondern um ungenaues Paraphrasieren.
Fazit: Die beiden Bestandteile der Mediation (zusammenfassen und sinngemäß übersetzen) mögen nützliche Skills sein – schriftliche Mediation ist m.E. auf keinen Fall eine „hoch relevante“ Prüfungsform, da sie im wirklichen Leben so gut wie keine Rolle spielt.
Philipp
Ich glaube, dass man (endlich?!) erkannt hat, dass wörtliches Übersetzen, sei es von oder in die Fremdsprache in keinster Weise eine kommunikative Situation ist. Dies ist etwas für Spezialisten, die dafür eine spezielle Ausbildung absolviert haben. An der Schule ist eine m.E. ziemlich verstaubte Tradition, die die modernen Fremdsprachen dem Lateinunterricht zu verdanken haben. Mediation kann durchaus an ihre Stelle treten. Es ist freilich fraglich, bei welcher Art von Mediation man tatsächlich eine einigermaßen realitätsnahe Situation hat…
Ich stimme dir völlig zu, dass die englische Zusammenfassung deutscher Texte die wohl mit Abstand sinnvollste Variante der Mediation ist, da man sich als Situation schon vorstellen kann, dass man mit jemand zu tun hat, der kein Deutsch kann, so dass man ihm etwas auf Englsich zusammenfassen muss. Als Standard-Prüfungsform muss man sich halt vielleicht noch daran gewöhnen. Ich finde es aber im Prinzip gut, vor allem an Stelle einer Übersetzung (die ich zum Beispiel für Vokabelabfragen oder zur Grammatikkontrastierung nach wie vor unverzichtbar finde, aber eben nicht in Schulaufgaben).
Max
Meinetwegen nennt mich verbohrt, wenn ich sage: Die Sprachrüttelung bringt keinerlei Fortschritt gegenüber der Version (E‑D). Das Neue ist der Feind des Guten!
Sabine
Wann habe ich zuletzt gedolmetscht? In der Fremdenführersituation natürlich! Im September hatten wir sehr liebe und verfressene New Yorker zu Gast, die wir durch die einschlägigen Münchner Lokale geschleift haben. Erst wenn der Gastgeber die exotische Speisekarte des Fraunhofer ohne Zögern in der Fremdsprache herunterrattern kann („Saures Lüngerl!“ „Böfflamott!“), ist die Mediation geglückt. Das Vokabular würde ich aber eher spezialisiert nennen.
Im Ernst. Die Version ist als Übungsform toll, als Prüfungsaufgabe eigentlich nicht so arg geeignet. Das Zusammenfassen von einem deutschen Text und Wiedergeben in englischer Sprache ist da schon sinnvoller, allerdings finde ich die Bewertung sehr schwierig, weil es ja viel auch um die Strategie geht – wie schlau ist etwas weggelassen?
Die Übersetzung der NYTimes, des Guardian oder gar des Slate Magazine für die Oma erübrigt sich ohnehin, weil die SZ derart in deren Texten wildert, dass es mit vier-oder fünftägiger Verspätung ohnehin auf deutsch erscheint.
rip
Ich habe auf der FMF-Tagung (oh, pardon: GMF bzw. E&M in Regensburg (Okt. 2008) einen sehr guten Vortrag von Elisabeth Kolb gehört. Wenn ich sie richtig verstanden habe, ist eines der wichtigsten Merkmale von Mediation, dass der Sprachmittler *umdenken* muss: Er muss Wörter, die er nicht kennt, umschreiben; er muss andere syntaktische Muster verwenden, als sie im Ursprungstext vorkommen. Bei Aufgaben, die einen solchen Umbau nicht erfordern, handle es sich nicht um Sprachmittlung im eigentlichen (gewünschten) Sinn.
Man muss also logisch denken können, man muss Sprachgefühl für die Muttersprache wie für die Zielsprache beweisen. Das scheint mir zwar alles bei der Version (E‑D) auch schon gefordert gewesen zu sein, aber ich gebe – ungern – zu, dass die Sprachmittlung einen Kontext mitbringt, der der Realität näher ist als die Version. In diesem Sinne: Nur her mit der Sprachmittlung, wenn es denn dem Fremdsprachenerwerb dient.
Wenn sich aber einige Englischlehrer, die nicht Deutsch als Zweitfach haben, darauf gefreut haben sollten, dass die Version ins Deutsche endlich wegfällt, dann wird sich diese Freude angesichts der geplanten Aufgabenformen zur Sprachmittlung doch rasch gelegt haben. Die Textzusammenfassungen in englischer Sprache (beispielsweise eines politischen Artikels aus der ZEIT) sind mit Sicherheit noch weniger schön zu korrigieren als eine Version. SCNR.
christiane
Ihr sprecht mir aus dem Herzen!!!! Mediation als Aufgabenform hat wohl schon eine gewisse Berechtigung, als Prüfungsform finde ich sie aber verkrampft. Außerdem nimmt das Üben relativ viel Zeit in Anspruch– angesichts der Stundenkürzungen ein echtes Problem, wie ich finde!!
Annegret
Aus meiner Sicht ist mediation ein key skill, der besonders im bilingualen Unterricht ein Rolle spielt, wo auch deutsche Texte vorgelegt werden können, die dann in englischer Sprache bearbeitet werden.
Auch im richtigen Leben spielt die Fähigkeit, Informationen in einer Sprache adressaten- und aufgabengerecht in einer anderen Sprache wiederzugeben eine Rolle:
Journalisten/Wissenschaftler, die ausländische Presseerzeugnisse zur Recherche auswerten Anwälte, die an internationalen Fällen arbeiten, Mitarbeiter internationaler Unternehmen, die ständig Informationen sprachmitteln (?) müssen (z. B. mein Mann, der als Deutscher in einem internationalem französischen Unternehmen tätig ist, in dem die offizielle Sprache Englisch ist und viele indische Leiharbeiter aus Bangalore tätig sind) die Reihe könnte ich lange fortsetzen.
Es wird in diesen Situationen nicht übersetzt. Und ich kann aus eigener Erfahrung als Lehrerin in bilingualen Sachfächern sagen, dass es äußerst schwierig ist, Informationen, die in englischer Sprache vorliegen, in korrektem + dem Register usw. adäqatem Deutsch wiederzugeben – vom umgekehrten Fall ganz zu schweigen. Dazu gehört übrigens auch viel interkulturelle Kompetenz.
rip
@Annegret:
> key skill […]
> äußerst schwierig
Beiden Aspekten kann ich zustimmen. – Vor allem angesichts der Schwierigkeit ist es erstaunlich, wie wenig adäquate Literatur und Übungsmaterial bisher dazu existieren. Kennt jemand empfehlenswerte Bücher oder Internetadressen?
Jochen
> ist es erstaunlich, wie wenig adäquate Literatur und Übungsmaterial bisher dazu existieren.
Im Computerbereich nennt man das „bananaware“, das Produkt reift beim Kunden. Dasselbe Prinzip scheint inzwischen bei uns in Bayern zu herrschen. Wir führen einfach mal etwas Neues ein (verlangen es auch gleich in Jahrgangsstufentests) und schauen mal, was die Lehrer so draus machen.
Philipp
Für Beispiele kann man auf die neue ISB-Handreichung zu den Aufgabenformen in den modernen Fremdsprachen hoffen. Soll wohl im Sommer/Herbst diesen Jahres erscheinen, wie man mir sagte. Es heißt, es gebe sowohl Aufgabenbeispiele als auch Bewertungshinweise. Bewertungshinweise finden sich auch auf der Linkebene des Lehrplans. Ist aber freilich recht dürftig. Die Aufgabe im bayerischen Musterabitur ist ziemlich happig.
Jochen
> Bewertungshinweise finden sich auch auf der Linkebene des Lehrplans.
Solche abstrakten Hinweise sind für die Katz. Was wir brauchen sind Musterkorrekturen, anhand derer die Kritierien konkretisiert werden und die entsprechende Note nachvollziehbar gemacht wird. Und sowas werden wir NIEMALS bekommen.
Matthias Heil
Vielleicht verwendbar: http://share.xmind.net/matthiasheil/mediation‑1/
Jochen
Jetzt weiß ich wieder, warum ich Mind Maps nicht leiden kann 😉 Inhaltlich finde ich deine Übersicht hervorragend, aber die Tatsache, dass man das / die (?) Map auch in der vergrößerten Ansicht ständig hin- und herziehen muss um alles lesen zu können, finde ich nervig.
Carsten
Vom Englischen ins Deutsche wirkt in der Tat aufgesetzt.
Vom Deutsche ins Englische, im Sinne von „Du hast einen amerikanischen Freund, der kein Deutsch versteht…“ macht eine Mediation absolut Sinn.
Jochen
> Vom Deutsche ins Englische, […] macht eine Mediation absolut Sinn.
Mündlich absolut, aber schriftlich? Wie oft hast DU das schon in deinem Leben gemacht? Ich noch nie 😉
Uli
Hallo Jochen,
hier bei uns in Niedersachsen erleben wir zur Zeit auch einen „Mediationsboom“. Ab kommendem Jahr soll es diese Aufgaben auch im Abitur geben. Als Kollege einer berufsbildenden Schule (mit beruflichem Gymnasium) kenne ich diese Aufgaben schon länger aus dem Berufsschulbereich. Dort machen Mediationsaufgaben, gerade beim Thema Handelskorrespondenz, durchaus Sinn. Sie tragen hier nicht nur zum Spracherwerb bei, sondern fördern in besonderem Maße die Problemlösekompetenzen bei den Auszubildenden. Ich gebe aber allen Vorrednern recht: In der Oberstufe wirken diese Aufgaben eher konstruiert und unnatürlich.
Gruß aus Niedersachsen
Uli