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Shut up and Dance – Quatschen auf Milongas

Was mich als DJ und Tän­zer auf Milon­gas am meis­ten nervt, ist man­geln­der Respekt für die Musik bzw. den Tanz in Form von lau­tem Gequat­sche auf der Tanz­flä­che.

Im All­ge­mei­nen bin ich ja kein gro­ßer Freund all­zu vie­ler Regeln, aber wenn es um lau­tes Reden geht, wer­de ich schnell übellaunig.

Die Tan­go-Eti­ket­te ist eigent­lich eindeutig:

Reden wäh­rend des Tanzens

… soll­te man nur kurz und im Aus­nah­me­fall. Es stört die Kon­zen­tra­ti­on auf die Musik und den eige­nen Tanz, der ja durch das gegen­sei­ti­ge Erspü­ren erst funk­tio­niert und genuss­voll wird. Auch die ande­ren Paa­re füh­len sich mög­li­cher­wei­se beläs­tigt, wenn jemand wäh­rend des Tan­zens laut­stark sei­ne Urlaubs­er­leb­nis­se zum Bes­ten gibt. […] (Quel­le)

Bei man­chen Leu­ten fragt man sich ja schon, war­um sie eigent­lich auf eine Milon­ga gehen. Wegen des Tan­zens? Wegen der schö­nen Musik? Kaum, denn davon krie­gen sie ja oft so gut wie nichts mit. Hier ein paar typi­sche Exemplare: 

Der Pis­ten-Plap­pe­rer ist fast immer männ­lich und fest davon über­zeugt, dass sich sei­ne Tanz­part­ne­rin­nen bren­nend für sei­ne drö­gen Erleb­nis­se bzw. Ansich­ten inter­es­sie­ren, die er unüber­hör­bar zum Bes­ten gibt. Über sei­ne Wit­ze lacht er gleich mal sel­ber schep­pernd. Män­ner sind bekannt­lich im Mul­ti­tas­king nicht so gut und so lässt die tän­ze­ri­sche Umset­zung der Musik ent­spre­chend häu­fig zu wün­schen übrig.  Da kann es schon mal pas­sie­ren, dass er  beim Vals nicht mal mehr die „1“ trifft, aber das ist egal, weil er eh immer das sel­be Reper­toire abspult, egal wel­che Musik gera­de läuft.

Der Abra­zo-Ange­ber ist fest davon über­zeugt, dass sich vor allem sei­ne Tanz­part­ne­rin­nen bren­nend für sei­nen letz­ten Work­shop bei Maes­tro XY (natür­lich frisch aus Bue­nos Aires ein­ge­flo­gen) und sei­ne letz­ten, unver­gleich­li­chen Encuen­tro-/Ma­ra­thon-Erleb­nis­se interessieren. 

Der Lehr-Labe­rer ist tief in sei­nem Inne­ren ein ver­hin­der­ter Tan­go-Leh­rer, der sei­ner Part­ne­rin (mit Vor­lie­be wäh­rend eines roman­ti­schen Kla­vier & Cel­lo Stücks) in lang­at­mi­gen und laut­star­ken Aus­füh­run­gen erklärt, wie sie denn nun gefäl­ligst XY zu tan­zen habe.

Die Sei­ten-Schwät­ze­rin setzt sich am liebs­ten in unmit­tel­ba­re Nähe eines Laut­spre­chers. Da ist es schön laut, so dass sie ihre Beziehungs‑, Shopping‑, Schuh- und Tan­go­er­leb­nis­se mit umso grö­ße­rer Laut­stär­ke ihrer Freun­din erzäh­len kann.

Erstaun­lich ist, dass gera­de glü­hen­de EdOis­ten offen­bar kein Pro­blem damit haben, dass man ihre wun­der­ba­re Musik vor lau­ter Lärm oft kaum mehr hört. Herr­je, was wer­den da stän­dig die „fei­nen Phra­sie­run­gen“ und die „unnach­ahm­li­che Into­na­ti­on“ der alten Ori­gi­nal-Auf­nah­men gerühmt („Moder­ne Orches­ter kön­nen die­se Fein­hei­ten ja gar nicht mehr spie­len“). Oft wird dann auch noch ein erheb­li­cher tech­ni­scher Auf­wand betrie­ben, damit alles nur ja opti­mal klingt. Man möch­te mei­nen, die Tän­ze­rIn­nen und alle ande­ren Anwe­sen­den wür­den der Musik andäch­tig lau­schen – statt­des­sen hört man oft kaum etwas, weil die Leu­te so laut reden (der DJ quas­selt oft noch lau­ter als die Tän­zer). Viel­leicht imi­tie­ren sie aber auch nur die Sit­ten in Bue­nos Aires, wo es ja offen­bar üblich ist, am Anfang eines neu­en Stü­ckes erst­mal eine gehö­ri­ge Zahl von Tak­ten zu ver­quas­seln. Auf die­sem Encuen­tro quat­schen Paa­re z.T. deut­lich län­ger als eine Minu­te, bei einer Gesamt­län­ge von 2:56 ist das mehr als ein Drit­tel des Stü­ckes! Und die sel­ben Leu­te schwa­dro­nie­ren von der „ein­zig­ar­ti­gen“ Musik und dem „krea­tiv künst­le­ri­schen Pro­zess“ mit dem sie die­se Musik „inter­pre­tie­ren“.

Lei­det der hoch­sen­si­ble DJ denn nicht fürch­ter­lich, wenn die Leu­te sei­ne mit Herz­blut zusam­men­ge­stell­ten Tan­das nicht gou­tie­ren? Offen­bar nicht, denn sonst könn­te er ja mal die Milon­ga unter­bre­chen und um (mehr) Ruhe bit­ten. Wer mög­lichst wenig von der Musik behel­ligt wer­den möch­te, geht am bes­ten auf Milon­gas, bei denen es etwas zu essen gibt („Fin­ger­food“), da ist der Geräusch­pe­gel oft so laut, dass man von di Sar­li, D’A­ri­en­zo & Co nur noch Bruch­stü­cke mitkriegt.

Die Rück­sichts­lo­sig­keit der Leu­te macht ja oft sogar nicht mal vor Live-Musik halt. Ich habe schon Milon­gas erlebt, bei denen man am ande­ren Ende des (klei­nen!) Rau­mes nur noch Fet­zen der Musik gehört hat, weil so laut gesab­belt wur­de. Mal vom der­zeit so ange­sag­ten Acht­sam­keits-Gedöns abge­se­hen: Da zah­len Leu­te extra Ein­tritt und fah­ren oft grö­ße­re Stre­cken um Musi­ker live zu erle­ben und dann haben sie nicht mal den Anstand die Klap­pe zu hal­ten und die Musik zu wür­di­gen? Min­des­tens eben­so depri­mie­rend ist es, wenn dann nie­mand den Mumm hat, eine ent­spre­chen­de deut­li­che Ansa­ge zu machen (was natür­lich Auf­ga­be des Ver­an­stal­ters ist) und ggf. mit Platz- bzw. Pis­ten­ver­weis zu drohen.

Es ist ja ein völ­lig legi­ti­mes Bedürf­nis Freun­dIn­nen und Bekann­tIn­nen zu tref­fen und mit ihnen zu rat­schen. Bei den meis­ten Loca­ti­ons ist es ja eigent­lich gar kein Pro­blem, weil die Tanz­flä­che räum­lich klar vom Sitz­be­reich abge­trennt ist, so dass ganz klar ist bzw. wäre, wo man redet und wo man tanzt. Anders ist es, wenn die Stüh­le bzw. Tische direkt neben der Tanz­flä­che ste­hen. Dann soll­te man halt ein biss­chen rück­sichts­voll sein und sich ent­spre­chend gedämpft unter­hal­ten, so dass die Tän­ze­rIn­nen nicht gestört werden. 

Als DJ sitzt bzw. steht man natür­lich immer am län­ge­ren Hebel bzw. Schie­be­reg­ler und kann den Lärm der Leu­te mühe­los mit noch grö­ße­rer Laut­stär­ke über­tö­nen. Viel­leicht ist das ja der Grund, war­um die Musik auf vie­len Neo­lon­gas so gräß­lich laut ist. Ich hal­te von die­sem sur­vi­val of the lou­dest über­haupt nichts, zu gro­ße Laut­stär­ke tötet selbst die schöns­te Musik.

Da mache ich bei mei­ner eige­nen Neo­lon­ga lie­ber ab und zu eine ent­spre­chen­de Ansa­ge und bit­te dar­um, dass auf der Tanz­flä­che nicht laut gere­det wird (Flüs­tern stört ja nicht). Wenn das nicht hilft, ver­su­che ich rück­sichts­lo­se Quas­sel­strip­per und Ratsch­k­athln zuerst non-ver­bal (Fin­ger auf den Mund und „pssst“) und falls nötig ver­bal zu mäßi­gen. Wer sich dadurch unzu­läs­sig in sei­ner Rede­frei­heit ein­ge­schränkt fühlt, kann ger­ne wegbleiben. 

Mei­ne Unduld­sam­keit gegen­über Lärm­lin­gen und MusIknoran­ten hat natür­lich auch mit der Zeit und Arbeit zu tun, die ich in mei­ne Play­lis­ten inves­tie­re. Da möch­te z.B. eine treue Fan­in mei­ner Milon­ga zu „La For­za“ tan­zen. Oje, mit die­ser Art von (Opern-)Gesang ken­ne ich mich gar nicht aus. Was könn­te da dazu­pas­sen? Spon­tan fällt mir nur die „Haba­ne­ra“ von Maria Cal­las ein. Aber was neh­me ich als drit­tes Stück? Hat sich nicht kürz­lich jemand „was Schö­nes“ von Anna Netreb­ko gewünscht? Muss ich mal reinhören …

Wie­der jemand ande­res wünscht sich „was Lus­ti­ges von Wil­ly Astor“. Ich schät­ze sei­ne wit­zi­gen Tex­te, aber kann man dazu tan­zen? Muss ich erst mal rein­hö­ren … XY hat bald Geburts­tag und möch­te zu „Sail“ tan­zen. Tol­les Stück, aber mit die­ser Art von Bom­bast-Rock habe ich es eigent­lich gar nicht. Da muss ich erst­mal rum­su­chen, wel­che Stü­cke ich noch für eine Tan­da neh­men könn­te. Und die­se Suche­rei kann ziem­lich lan­ge dau­ern. Aus die­sem Grund bin ich dann auch schnell per­sön­lich belei­digt, wenn mei­ne (müh­sam gefun­de­nen) musi­ka­li­schen Per­len nicht gewür­digt werden.

Tra­di-EdO Tan­das zusam­men­zu­stel­len ist im Ver­gleich gera­de­zu läp­pisch. Man braucht ledig­lich zu Spo­ti­fy oder Tan­da of the Week zu gehen – fertig.

Und was ist jetzt mit dem DJ als „Dienst­leis­ter“ und dem (zah­len­den) Kun­den als (quas­seln­dem) König? Nope, jede Milon­ga hat ihre eige­nen Regeln, an die man sich hal­ten soll­te. Wenn sie einem nicht gefal­len, kann man ver­su­chen, sie zu ver­än­dern oder man geht ein­fach nicht mehr hin. Wenn ich auf ein Encuen­tro gehe, muss ich akzep­tie­ren, dass ich stun­den­lang zu (O)EdO-Musik brav mit Mikro­schrit­ten im Kreis her­um­t­rot­ten muss und jede spon­ta­ne Äuße­rung von Lebens­freu­de stirn­run­zelnd miss­bil­ligt wird. Auf einer ande­ren Milon­ga muss ich hin­neh­men, dass der DJ solan­ge brül­lend lau­te Ban­jo-Musik spielt, bis auch der letz­te Dödel die Tanz­flä­che ver­las­sen hat („wie in Bue­nos Aires“). Und auf mei­ner Milon­ga muss man halt akzep­tie­ren, dass das Mot­to lautet:

Bildergebnis für tais toi et danse

Und wenn alles nichts hilft, dann spie­le ich als Cor­ti­na (natür­lich in ohren­be­täu­ben­der Laut­stär­ke) die­ses Lied. 😉

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  1. Das ist die Abkür­zung für „Epo­ca d’O­ro“, also das „gol­de­ne“ Zeit­al­ter der Tan­go­mu­sik von ca. 1930 – 1950.

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