Die Schülerinnen und Schüler verfügen über fundierte Kenntnisse zu grundlegenden geographischen, historischen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten sowie zu aktuellen Entwicklungen im UK, in den USA sowie in weiteren englischsprachigen Ländern. (LehrplanPLUS bei E11 2)
Und weil „fundierte Kenntnisse“ in unserer heutigen WISSENsgesellschaft so wichtig sind, darf man in Bayern in Oberstufenklausuren keinerlei (Hintergrund-) Wissen mehr abprüfen.
Zwar gilt schon seit dem KMS vom 05.08.2011: „In der Qualifikationsphase sind große Leistungserhebungen als Vorbereitung auf die Abiturprüfung zu sehen. Sie orientieren sich daher stark an den in der schriftlichen Abiturprüfung gegebenen Prüfungsformaten.“ (S. 6) Aber zumindest an einigen Schulen gab es noch einen gewissen Spielraum, denn wenn sich Aufgaben am Abitur „stark orientieren“ sollen, heißt das ja noch nicht, dass man gar nichts mehr anderes abprüfen darf. Und so war es oft noch möglich eine 10 (oder sogar 20) BE Frage zu im Unterricht behandelten Inhalten zu stellen. In letzter Zeit wurde jedoch auf Fortbildungen für Fachbetreuer unmissverständlich klar gemacht, dass nur noch die Abiturformate (Listening Comprehension, Questions on the Text, Composition, Cartoon und Mediation) drankommen dürfen und jede Form von (Hintergrund-) Wissen nicht mehr geprüft werden darf.
Lernen wird als kumulativer Prozess verstanden, der die Schülerinnen und Schüler zunehmend in die Lage versetzt, vorhandenes Wissen und erworbene Fertigkeiten zur Bewältigung neuer Herausforderungen zu nutzen. Dabei wird auf vorhandene Kenntnisse zurückgegriffen, es wird neues Wissen beschafft und angemessene Lösungswege zur Bewältigung der gestellten Herausforderungen werden entwickelt. (Quelle S. 5)
Konkret bedeutet dies, dass ein Schüler der in Englisch das schriftliche Abitur macht (im Folgenden „Schriftling“) in der gesamten Oberstufe nicht mehr schriftlich über (Hintergrund-) Wissen geprüft wird. Theoretisch könnte er zwar in einer Stegreifaufgabe eine Wissensfrage gestellt bekommen, aber normalerweise sind diese (falls sie überhaupt noch geschrieben werden) auf schnelle Korrektur hin konzipiert und kaum jemand wird zum Beispiel Checks and Balances in einer Ex abfragen.
Mit viel gutem Willen kann man auch noch das dritte Aufsatzthema im Abitur als „Wissensthema“ betrachten, denn da muss man zum Beispiel „a literary work by an English-speaking author“ (Abitur 2015 I) kennen um etwas Sinnvolles schreiben zu können. Aber in den 30 Jahren, die ich jetzt unterrichte, hat noch nie ein Schüler dieses dritte Thema genommen. Wozu auch, wenn man stattdessen zum Beispiel über die Abschaffung des Muttertags (Abitur 2014 I) schreiben kann.
Kompetenzorientiertes Unterrichten verknüpft Wissen mit Anwenden […] (S. 5)
Man fragt sich also woher die „fundierten Kenntnisse“ kommen sollen und wie „neues Wissen beschafft“ werden soll (wohlgemerkt WISSEN und nicht nur Informationen!). Einem Schriftling kann völlig egal sein um welche Inhalte es im Unterricht eigentlich geht, er weiß, dass nichts von alldem jemals „drankommt“ – wozu soll er also irgendwas lernen? Die einzige Gefahr droht von Rechenschaftsablagen (= mündliches Ausfragen), aber viele Kollegen fragen ja in der Oberstufe nicht mehr aus („nicht oberstufengerecht“). Für gute UB (= Unterrichtsbeitrags) Noten muss man nur selten wirklich etwas lernen/wissen, da reicht es normalerweise in der Vorstunde aufgepasst zu haben.
An dieser Stelle könnte man jetzt resigniert aufhören und beklagen, dass Bayern halt auch dem grassierenden Kompetenz-Wahn (pdf) verfallen ist und dass Inhalte und Wissen (entgegen anderslautender Beteuerungen) keine Rolle mehr spielen. Es wird zwar munter von Qualitätsmanagement, Kompetenzzentren und Exzellenzinitiativen schwadroniert, in Wirklichkeit sind immer mehr Studienanfänger „nicht mehr studierfähig“.
Um den fachlichen, intellektuellen, moralischen Ansprüchen gewachsen zu sein, mit denen die in stetem Wandel begriffene Gegenwart aufwartet, muss auch ein ihr entsprechendes Wissen und Können erlernt werden […]. (S. 7)
Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht, denn es gibt ja immer noch das Kolloquium, in dem der Schüler (im Folgenden „Kolloquiant“) zu normalerweise SIEBEN verschiedenen Themenbereichen (Schwerpunktthema + 2 Semester mit jeweils 3 Themen) etwas WISSEN muss. Ein typisches Themengebiet ist US Politics und da heißt es häufig: „Describe the system of checks and balances and give one example of each ‚direction‘ “. Im Kolloquium ist das eine ganz normale Frage, denn ein bayerischer Abiturient sollte das natürlich wissen. In einer schriftlichen Klausur geht aber genau die selbe Frage gar nicht, da ist sie nur „reproduktiv“ und so bäh, dass man sie explizit verbieten muss. Es ist völlig egal, um welche Inhalte es geht, wenn Wissen (im Kolloquium) MÜNDLICH präsentiert wird, ist es positiv und erstrebenswert, wenn genau das selbe Wissen aber SCHRIFTLICH geprüft wird, ist es negativ, „reproduktiv“ und muss deshalb verboten werden.
Kern des [LehrplanPLUS] Lehrplans ist die Kompetenzorientierung verbunden mit einer nachhaltigen Wissensvermittlung. Kompetenzerwerb ohne Wissen und Inhalte ist unmöglich. (Quelle bei Charakteristika)
Der Schriftling muss nichts wissen und darf auch über nichts schriftlich geprüft werden, der Kolloquiant darf zwar auch über nichts schriftlich geprüft werden, soll aber dann im Abitur eine 30-minütige Prüfung über sieben Themengebiete ablegen. Wie wird dieser Blödsinn offiziell begründet?
Die einzige „Begründung“, die ich bislang gehört habe, lautet, dass Klausuren die Schüler „optimal auf das Abitur vorbereiten“ sollen. Das klingt so, als ob wir im Abitur wahnsinnig anspruchsvolle Dinge verlangen, die man so intensiv üben muss, dass man nebenher nichts anderes mehr machen/prüfen kann. Wer noch im G9 unterrichtet hat, weiß natürlich, dass das Quatsch ist, da haben wir unsere Schüler auch aufs Abitur vorbereitet und haben trotzdem natürlich noch Inhalte und Wissen abgeprüft.
Aus unerfindlichen Gründen hält sich ja hartnäckig das Gerücht, dass das bayerische Abitur besonders schwer sei. Das stimmt für Englisch eindeutig NICHT. Das heißt jetzt natürlich nicht, dass ich auch in Bayern gerne verpflichtende „Sternchenthemen“ wie in BaWü (S. 5–6) hätte. Zwar würde ich ein paar Sachen ändern, aber alles in allem ist es schon ok, dass das bayerische Englisch-Abitur so leicht schülerfreundlich kompetenzorientiert ist. Ich halte es nur für einen Skandal, dass wir Lehrer einen umfangreichen, gar nicht zu bewältigenden Lehrplan abarbeiten sollen und zumindest die Schriftlinge sich das alles ganz entspannt anschauen können, weil sie nichts davon jemals brauchen werden.
Das bayerische Gymnasium hat seine Aufgabe ja schon immer darin gesehen seine Schüler auf Studium und Universität vorzubereiten, dafür gibt es ja z.B. das „Wissenschaftspropädeutische Seminar“. Lernen an der Universität bedeutet heutzutage in vielen Fällen „Bulimie-Lernen […], ödes Pauken, keine Wissensvertiefung“. Und auf dieses (oftmals stupide) Auswendiglernen bereiten wir unsere Schüler vor, indem wir verbieten, dass sie irgendein Wissen schriftlich präsentieren reproduzieren müssen. Auf so etwas muss man erstmal kommen.
Die jungen Leute sollen am Gymnasium Studierfähigkeit, vertiefte Allgemeinbildung, Reflexionsfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein erwerben – die Qualität muss stimmen. (Minister Spaenle, Quelle)
Ein Nebeneffekt ist natürlich, dass es eigentlich keinen „Stoff“ für Klausuren mehr gibt und (vor allem schlechtere Schüler) auch gar nichts mehr lernen können. Für Hörverstehen kann man zur Vorbereitung gezielt gar nichts machen. Auf Fragen zu einem unbekannten Text kann man sich auch nicht vorbereiten, man muss lediglich bestimmte Techniken (wie Belegen, korrektes Zitieren, Paraphrasieren etc.) beherrschen. Selbst wenn man über Hintergrundwissen verfügt, hilft einem das normalerweise gar nichts, denn die Fragen dürfen sich (wie im Abitur) ja ausschließlich auf den vorliegenden Text beziehen. Hintergrundwissen kann bei der Interpretation eines Cartoons unter Umständen nützlich sein, meistens geht es aber auch ohne (die Cartoons im Abitur erfordern überhaupt kein Wissen). Auf eine Mediation kann man sich auch überhaupt nicht vorbereiten. Lediglich bei einem Aufsatz kann der Lehrer falls gewünscht, das Thema so stellen, dass wenigstens ein bisschen Wissen „untergebracht“ werden muss. Aber auch wenn man nur wenig weiß, ist das nicht weiter tragisch, denn für Inhalt gibt es ja insgesamt lediglich 4 BE bzw. maximal 5 BE und man bekommt vielleicht einen halben oder maximal einen ganzen Inhaltspunkt weniger. Das ist gar nichts im Vergleich zu einer 20 BE Frage/Aufgabe. Sprachlich kann sich der Schüler ja eh nicht vorbereiten, der beliebte Lehrertipp doch „viel zu lesen“ ist zwar grundsätzlich richtig, aber kurz vor einer Klausur einfach nur lächerlich.
Fazit: Mit dem Verbot von Wissensfragen in Klausuren wird dafür gesorgt, dass zumindest Schriftlinge für Klausuren NICHTS MEHR LERNEN. Und auch der Kolloquiant wird bis kurz vor dem Abitur nichts lernen, als Vorbereitung fürs Kolloquium reichen normalerweise ein paar Tage. Und genau das ist doch mit „konsequenter Qualitätsentwicklung eines leistungsfähigen Gymnasiums“ gemeint.
Katrin
Dieser Zusatz ‚work done in class‘ ist auch eher Gelaber, dadurch, dass die inhaltlichen Vorgaben so dermaßen dünn sind, dass man da nichts Übergreifendes/ allgemein Gültiges in den Erwartungshorizont geben kann, ist ja so gut wie nichts vorgegeben („American Dream: myths and realities“ heißt so eine. Ob man da jetzt Black American Dream und Ferguson etc. oder eben immigration/ Latin American Dream macht.…? gehubst wie gesprungen…)
In NRW ist Englisch ein Laberfach: man muss geeignete Textformen produzieren und hierfür ein paar Techniken (zusammenfassen, belegen, etc) und ein wenig analysieren können; seitdem mediation bzw. listening dazu gekommen sind, fallen die Klausuren noch besser aus, weil Analyse und Kommentar in der Gewichtung zurück gehen; die Schüler müssen Englisch können und ein bisschen zwischen den Zeilen lesen können, vielleicht ein paar rhetorical devices.
Viele Schüler könnten sich die Q‑Phase auch sparen, sich eines der Abitrainingsbücher der Verlage durchlesen und dann das Abi schreiben und gut bestehen. Wir haben ja nicht mal automatisch eine mündliche Prüfung, lediglich als Abweichungs- oder Bestehensprüfung oder eben wenn Englisch im Grundkurs das vierte Abifach ist.
Ja, sie brauchen ein paar Kompetenzen. Wissen müssen sie so gut wie nichts. =(
Jochen
> Dieser Zusatz ‚work done in class‘ ist auch eher Gelaber, […] gehubst wie gesprungen…)
Da habe ich von NRW Kollegen auch schon anderes gehört. Ich habe die entsprechende Passage gelöscht.
> Wir haben ja nicht mal automatisch eine mündliche Prüfung
Wir hatten eine (inzwischen wieder abgeschafft), aber da durfte explizit KEIN „Stoff“ abgeprüft werden, es ging ausschließlich um „kommunikative Kompetenzen“. Was da für ein Geschwafel rauskam, kannst du dir denken.