Der folgende Text ist eine Übersetzung von Why we are often confused about what it means to be “social” von Veronica Toumanova.
Um die Lesbarkeit des Textes zu erhöhen, verwende ich oft lediglich die männliche Form (Anfänger, Tänzer, etc.), auch wenn Frauen stets mitgemeint sind.
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Tango ist ein „sozialer“ Tanz und besteht als solches aus zwei Komponenten: „sozial“ und „Tanz“. Wir alle haben eine mehr oder weniger klare Vorstellung der „Tanz“ Komponente. Wir wissen alle, wie ein geschickter Tänzer aussieht, YouTube ist voll von ihnen, und auf einer Milonga identifizieren wir fast augenblicklich die „guten“. Wir schauen ihnen gerne zu und möchten wie sie sein, denn einen Tanz zu beherrschen ist etwas sehr Schönes.
Aber wie schaut es mit der „sozialen“ Komponente aus? Was für eine Fertigkeit ist das? Was bedeutet es im Tango „sozial“ zu sein?
Auf der ersten und elementarsten Ebene bedeutet sozial die gemeinsamen Regeln und Gewohnheiten eines bestimmten Tango Kontexts zu respektieren. Manchmal sind sie sehr demokratisch und manchmal sehr streng, von den nach Geschlechtern getrennten Sitzbereich auf den traditionellen Milongas von Buenos Aires bis hin zu der völliger freien sozialen Interaktion auf einem Tango-Marathon. Wenn man an einen Ort kommt, wo jeder einen bestimmten Dresscode beachtet (z.B. einen großen Ball an einem Samstag Abend bei einem großen Festival) und man ist angezogen, als ob man gerade mit dem Hund spazierengegangen wäre, sendet man die Botschaft: „Macht nur weiter, ich gehöre nicht dazu.“ Man wird wahrscheinlich die meiste Zeit herumsitzen und von den meisten Leuten ignoriert werden, nicht weil sie böse sind, sondern weil man für sie in diesem Moment NICHT TEIL DES SPIELS ist. Wenn man nicht die bewährten Gewohnheiten eines Ortes respektiert, darf man sich nicht darüber beschweren, dass einen die Leute nicht so akzeptieren „wie man nun mal ist“. Das funktioniert nicht im Tango, genausowenig wie es irgendwo sonst funktioniert.
Auf der zweiten Ebene bedeutet sozial die anderen TänzerInnen sowohl auf als auch neben der Tanzfläche zu respektieren. Ein Großteil davon ist das Verhalten auf der Tanzfläche, der andere ist die Dynamik des Aufforderns, des Aufgefordert-Werdens und allgemeine soziale Interaktion. Belästigendes, aufdringliches oder aggressives Auffordern, in eine vertrauliche Unterhaltung reinplatzen, jemand verfolgen, beleidigt sein, wenn man zurückgewiesen wurde, sich jemand aufdrängen anstatt taktvollere Methoden der Annäherung anzuwenden: All dies sind Beispiele von nicht sehr sozialem Verhalten. Respekt bedeutet auch mitzuhelfen eine freundliche und entspannte Atmosphäre zu erhalten. Säuerliche Miene, laute Kritik, laute Ablenkung, Trunkenheit, öffentlicher Streit mit Freunden oder Partnern, Ausbrüche von Eifersucht, andere Leute mit Bemerkungen verärgern, den DJ mit musikalischen Wünschen nerven, sich bei den Organisatoren beschweren, während sie beschäftigt sind: All dies ist störendes Verhalten, das sich negativ auf die Atmosphäre auswirkt. Auch in schlechter Stimmung zu einer Milonga zu kommen und zu erwarten, dass die anderen einen aufheitern, ist ein Beispiel unsozialen Verhaltens, wenn auch ein subtileres.
Die dritte Eben sozialen Verhaltens ist der Respekt gegenüber deinen Tanzpartnern, den Menschen, mit denen du am engsten interagierst, also der „menschliche Faktor“ beim Tanzen. Er beinhaltet alles von angenehmen Duft und Höflichkeit zwischen den Tänzen bis hin zu einer authentischen menschlichen Verbindung im Tanz selber. Es geht darum zugänglich und sensibel für die Absichten des Partners zu sein, flexibel zu sein und nicht zu manipulieren oder sonstwie physisch zu stören. Für mich bedeutet beim Tango sozial zu sein, den Kontext, die anderen TänzerInnen und den eigenen Tanzpartner zu respektieren. Was du mit deiner Zeit innerhalb dieser Parameter machst, ist völlig deine Angelegenheit, genauso wie es du entscheidest mit wem du die Zeit verbringen möchtest.
Es gibt jedoch eine andere Vorstellung davon, was es bedeutet beim Tango sozial zu sein. Nach dieser Vorstellung ist man umso sozialer mit je mehr Leuten man tanzt. Und man gilt sogar als noch sozialer, wenn man mit vielen Leuten tanzt, mit denen man eigentlich gar nicht tanzen möchte, die aber mit einem oder nur überhaupt tanzen wollen. Der Kern dieser Vorstellung ist der Glaube, dass man sozial (oder altruistisch) ist, wenn man seine eigenen Bedürfnisse unterdrückt und die Bedürfnisse der anderen befriedigt. Nach dieser Definition kann jemand, der bestimmte Ansprüche an die Qualität des Tanzes stellt, niemals wirklich sozial sein und ist deshalb ein arroganer Snob. In diesem Sinne sind Anfänger am sozialsten und Könner sind totale Arschlöcher, außer sie bemühen sich bewusst mit Leuten zu tanzen, mit denen sie eigentlich gar nicht tanzen wollen. In diesem Fall gelten sie als sozial und bescheiden OBWOHL sie hervorragend tanzen. Hervorragend zu tanzen wird auf diese Art das Gegenteil von nett sein. Wie oft hast du die Bemerkung gehört „Er / Sie tanzt ausgezeichnet, aber er / sie ist trotzdem so nett und bescheiden“?
Woher kommt diese Vorstellung von sozialem Verhalten als Service? Von der Bedeutung, die wir der Großzügigkeit als sozialem Wert beimessen. Sie kommt von der oft wiederholten Feststellung, dass, als man Anfänger war, fortgeschrittene Tänzer mit einem getanzt haben, damit man sich willkommen fühlt, so dass man, wenn man selber fortgeschritten ist, anderen denselben Service bieten sollte. Ein verbreiteter Glaube besagt, dass man anderen etwas zurückgeben sollte, wenn man ein besserer Tänzer geworden ist und dass die die Fähigkeit ein erfüllendes Tanzerlebnis zu schaffen eine wertvolle Fähigkeit sei, die man großzügig jenen gewähren sollte, die diese Fähigkeit noch nicht besitzen. Es stimmt, dass sich Anfänger in vielen Fällen auf die „Freundlichkeit von Fremden“ verlassen, wenn sie zum Tango kommen, aber sie tanzen auch mit anderen Anfängern und ebenso mit Leuten, die es besonders mögen mit Anfängern zu tanzen (meistens Männer mit Anfänger-Frauen). Zu großzügig zu sein hat aber auch einen Nachteil. Oft bringt uns gerade das „Nicht-Mithalten-Können“ mit einem bestimmten begehrten Partner voran.
Es gibt Situationen, in denen man einem anderen Tänzer dankbar ist, dass er großzügig ist und mit einem tanzt: wenn man neu an einem Ort ist, wenn man ein totaler Anfänger ist, wenn man sich allein und verlassen fühlt. Wenn ein Tänzer diese Art von Großzügigkeit auf authentische Weise zeigt, sollte man sie wertschätzen, aber denk daran, dass es eine Wahl und keine Verpflichtung ist. Tango ist kein Dienst an der Gemeinschaft, sondern eine Leidenschaft. Leute tanzen in erster Linie um es zu genießen, nicht um zu schauen, ob sie jemand helfen können. Jedes Mal, wenn du dich dabei ertappst, dass du anderen Tänzern übelnimmst, dass sie dir gegenüber nicht großzügig genug sind, schlage ich vor, dass du dir folgende Frage stellst: Wem war ich gegenüber heute großzügig? Wenn du Großzügigkeit einforderst, fang bei dir selber an. Der einfachste Weg ist eine(n) TänzerIn zu finden, die du normalerweise zurückweisen würdest und mit ihm / ihr MIT DEM ECHTEN WUNSCH großzügig zu sein, zu tanzen. Nur wenn du etwas regelmäßig selber tust, darfst du dasselbe von anderen erwarten. Erwarte etwas, aber fordere es nicht.
Es herrscht der Glaube, dass diese Einstellung des „sozial sein als Service für andere“ eher mithilft stabilere Gemeinschaften zu schaffen, wenn Tänzer sich untereinander mischen als wenn sie „Nischen“ bilden, die auf Verbundenheit basieren. Darin steckt viel Wahrheit, vor allem für kleine lokale Szenen mit wenig Einfluss von außen, die ihre Integrität und eine Atmosphäre, die frei bleibt von Resentiments bewahren wollen. Wenn eine Gemeinschaft jedoch ein höheres Tanzniveau kultivieren möchte, sollten fortgeschrittene TänzerInnen die Freiheit zu tanzen, mit wem sie wollen ohne beurteilt oder sonstwie unter Druck gesetzt zu werden, so dass sie andere dazu inspirieren können, selber Fortschritte zu machen.
Es gibt noch eine weitere wichtige Komponente dieser Idee des sozialen Verhaltens, nämlich der Druck „mit möglichst vielen Leuten zu tanzen“. Da Tango ein introvertierter Tanz ist, zieht er sehr viele introvertierte Menschen an. „Mit sovielen Leuten wie möglich zu tanzen“ ist aber keine sehr introvertierte Art Kontakte zu knüpfen. Es ist vielmehr eine extrovertierte Art sozial zu sein (wenn wir die entsprechenden Fähigkeiten für einen Moment beiseite lassen). Ein typischer introvertierter Mensch tanzt zwei bis drei intensive Tandas mit jemand, mit dem er / sie den ganzen Abend lang tanzen wollte und setzt sich dann still in eine Ecke und wartet darauf, dass die Gefühle sich beruhigen. Ein extrovertierter Mensch geht währenddessen vielleicht von einem Partner zum nächsten, mit kaum einer Cortina dazwischen. Ein introvertierter Mensch hat eine lang, persönliche Unterhaltung mit einem Freund, während ein extrovertierter den neuesten Klatsch aufschnappt, alle Anwesenden begrüßt, mit verschiedenen alten Freunden plaudert und ein paar neuen etwas trinkt. Als Gesellschaft haben wir eine sehr extrovertierte Vorstellung davon, was „sozial“ bedeutet, ganz einfach weil die Extrovertierten die Mehrheit bilden und richtige Partylöwen sind. Wenn wir dieses extrovertierte Verständnis von sozialem Verhalten beibehalten, sagen wir im Grunde, dass introvertierte Menschen niemals sozial sein können und das ist absurd.
Aufgrund dieser weitverbreiteten Vorstellung von sozialem Verhalten beim Tango haben wir einen ständigen Interessenskonflikt. Auf der einen Seite werden Tango-TänzerInnen dazu ermutigt zu lernen und ihren Tanz weiterzuentwickeln, nicht nur, weil ihre Lehrer dies gerne möchten, sondern weil das Weiterentwickeln der eigenen Fähigkeiten sehr große Freude bereitet und weil wir wie die TänzerInnen sein möchten, die wir bewundern. Auf der anderen Seite lastet die Vorstellung seinen sozialen Kredit zu verspielen schwer auf jedem, der ein besserer Tänzer werden und sich mit besseren Partnern verbinden möchte. TänzerInnen haben ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht mit möglichst vielen Leuten tanzen, weil sie anderen gegenüber nicht großzügig sind und ihre „wertvollen Fähigkeiten“ nicht mit anderen teilen. Dieser Druck basiert auf der Idee, dass Quantität entscheidend ist. In Wahrheit ist Quantität völlig irrelevant. Was zählt ist die QUALITÄT dessen, was du tust, die Energie, die du in etwas investierst.
Erst wenn wir akzeptieren, dass soziales Verhalten Respekt auf drei Ebenen bedeutet (Kontext, andere TänzerInnen und deine TanzpartnerInnen) und wir die Idee aufgeben, dass soziales Verhalten von der Anzahl der Tänze oder der Bereitschaft für andere da zu sein abhängt, und dass stattdessen die QUALITÄT zählt, die wir in unsere Interaktion investieren, erst dann, glaube ich, werden wir die richtigen sozialen Werte haben. Darüberhinaus kann man nur dann wahrhaft sozial sein, wenn man in Kontakt mit dem eigenen echten Selbst ist. Denn Tango ist zwar „sozial“ und „Tanz“, aber keines davon ist sein wahrer Zweck. Der wahre Zweck des Tango ist FREUDE und wir haben alle unsere eigene Vorstellung davon, was uns am meisten Freude bereitet. Für einige bedeutet es viel zu tanzen, für andere mit einer ganz besonderen Person gut zu tanzen. Für einige bedeutet es Kontakte mit Freunden zu haben, für andere großzügig gegenüber bedürftigen Leuten zu sein. Deshalb lasst uns sozial sein, lasst uns tanzen, lasst uns unterschiedlich sein, aber vor allem lasst uns Freude haben.
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