Vor kurzem fragte mich eine Kollegin, die zum ersten Mal in der Oberstufe unterrichtet, ganz verzweifelt, wie sie eigentlich um Himmels willen, den Lehrplan erfüllen solle. Ich habe ihr geantwortet, dass sie sich keine Sorge machen solle, denn kein Mensch könne den (bayerischen Oberstufen-) Lehrplan richtig „erfüllen“.
Rechnen wir einfach mal ein bisschen. Allein wenn man nur die Aufzählungspunkte bei „Interkulturelles Lernen und Landeskunde“ durchzählt, kommt man auf 18 Themenbereiche. Viele dieser Bereiche (wie z.B. „Bedeutung und Einfluss der Medien“) decken diverse Unterthemen ab, aber belassen wir es mal bei den 18. Auch bei „Umgang mit Texten und Medien“ sind wir großzügig und nehmen nur die bei „Literatur“ vorgeschriebenen fünf Textsorten als jeweils ein Thema, dann sind wir bei 23. Der Bereich „Lernstrategien und Methoden selbständigen Arbeitens“ besteht aus 14 Punkten, den dampfen wir für unsere Rechnung auf 3 Themen ein, macht 26. Der Bereich „Sprache“ soll ebenfalls nur als 4 Themen zählen, dann sind wir bei 30.
Oder nehmen wir den bekannten Wunsch „das Buch durchzukriegen“. Green Line Oberstufe Bayern (Amazon) besteht aus insgesamt 16 Kapiteln. Viele dieser Kapitel behandeln drei Themen (wie z.B. Topic 14: Internet – TV – Advertising oder Topic 15 The Arts: Street art – Architecture – Painting and poetry). 16 x 3 wäre 48, seien wir wieder großzügig und gehen von 40 Themen aus. Context 21 Bayern hat „nur“ 12 Kapitel, da käme man dann auch auf ca. 30 Themen.
Selbst wenn wir jetzt (damit wir uns mit dem Rechnen leichter tun) von 28 Themen ausgehen, und die durch 4 (Semester) teilen, hieße das SIEBEN Themen pro Semester. Jetzt kann man sich natürlich darüber streiten, was „ein Thema behandeln“ bedeutet. Aber dass man ein Thema noch nicht angemessen behandelt hat, wenn man lediglich einen Text im Buch dazu besprochen hat, dürfte unstrittig sein. Die meisten Kollegen/innen, die ich kenne, schaffen drei bis vier Themen pro Semester (die Vorschriften fürs Kolloquium verlangen, dass man „mehr als zwei pro Halbjahr“ behandelt). Mehr als vier Themen behandeln zu wollen, endet häufig in wenig freudvollem „durch den Stoff galoppieren“, außerdem bleibt dann meistens überhaupt keine Zeit mehr z.B. für aktuelle Dinge.
Welche landeskundlichen bzw. „interkulturellen“ Themen du wählst, bleibt letzlich dir überlassen, denn für das schriftliche Abitur brauchen die Schüler ja praktisch nichts von dem, was du die zwei Jahre lang unterrichtest (sehr angenehm, wenn man sich im Vergleich z.B. die verpflichtenden Schwerpunktthemen in Baden-Württemberg, siehe S. 4 ansieht). Ich empfehle dir allerdings Themen zu wählen, die dich auch selber interessieren. Wenn dich z.B. „regional identities“ (GLO Topic 2) schon selber anöden, wird dein Unterricht mit großer Wahrscheinlichkeit auch eher uninspiriert sein. Noch besser wäre es, wenn sich auch deine Schüler für wenigstens ein paar der Themen interessieren würden, dann wird es nicht gar so zäh. Wie jeder Schüler seine persönliche Themen-„Hitparade“ erstellt, beschreibe ich in diesem Artikel.
Chris
Dass man Themen wählen soll, die einen selbst (oder die Schüler)interessieren klingt gut, setzt aber voraus, dass man bei der Themenwahl frei ist. An unserer Schule wird auf eine „Harmonisierung“ der Lerninhalte in der 11. Jahrgangsstufe hingearbeitet, damit man in der 12 . problemloser 1 Englisch-Kurs auflösen kann, wenn die Schüler „ausgestiegen“ sind, die Englisch nicht weiter belegen müssen. Der „Harmonisierungsdruck“ wird nun wohl zu Kompromisslösungen führen, d.h. am Ende bestimmen diejenigen die Themen, die das meiste Durchsetzungsvermögen/höchste Dienstalter/eine Funktionsstelle haben und alle anderen machen (notgedrungen) mit. Neben den von dir erwähnten Aspekten des übervollen „Leerplans“ vergällt mir dies den Einsatz in der Oberstufe zusätzlich.
Jochen
Stimmt, das ist ärgerlich, kenne ich aus eigener Erfahrung.
Darf man natürlich nicht laut sagen, aber das ganze „Harmonisieren“ ist eh für die Katz, denn spätestens drei Wochen nach Abschluss eines Themas haben die Schüler das Meiste ja eh schon wieder vergessen. Von daher macht es gar nichts, wenn man ein Thema ein zweites Mal behandelt, für die meisten wird es ganz neu sein 😉
Susann
Ich persönlich glaube ja, dass die Stofffülle in Lehrplan und Buch in erster Linie eine Art feel-good-Therapie für die Buchautoren sind. Und für Unterrichtsminister, die im Ländervergleich mit den bayerischen Anforderungen prunken und protzen können.
Geschichte 8. Klasse: Aufklärung, Französische Revolution, Napoleon, Vormärz, Revolution 1848, Reichsgründung, Bismarck, Industrielle Revolution, Imperialismus, Erster Weltkrieg, Vertrag von Versailles. Nebst fünf spezifisch bayerischen Landeskunde-Themen, Wir-lernen-Verfassungsschemata-kennen-Kapiteln und so weiter.
Was glauben diese Leute eigentlich, wie viel die Schüler im darauffolgenden Jahr tatsächlich nachhaltig wissen?
Jochen
> eine Art feel-good-Therapie für die Buchautoren sind.
Also die können jetzt wirklich nichts dafür, die müssen nur umsetzen, was ihnen der Lehrplan vorschreibt (das Buch muss ja schließlich – zumindest in Bayern – zugelassen werden). Ich habe selber bei Context 21 mitgearbeitet und wir (Autoren bzw. Mitarbeiter) haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als wir erfahren haben, was wir alles in das Buch reinpacken sollen.