Ein Gastbeitrag von Claudia Boerger.
Oft höre ich von Kollegen zum Thema Trinken im Unterricht, Kaugummikauen oder Käppitragen „Das können meine Schüler ruhig machen, das stört mich nicht weiter.“
Mir klingt dieses tolerante Bekenntnis hinsichtlich dieses Schülerverhaltens ehrlich gesagt – im besten Falle – immer mehr nach dem Ausleben persönlicher Befindlichkeit zu Lasten professioneller Reflexion. Weit öfter (und in meinen Augen pädagogisch ungünstiger) meine ich diesbezüglich einen als liberale Gesinnung getarnten Mangel an Konfliktbereitschaft zu bemerken.
But let me explain: Selbstredend bedeutet z.B. Trinken oder Käppitragen im Unterricht keine übergebührlich inakzeptable Störung – wäre diese Erklärung für mich irgendwie relevant, wäre ich auch bereit, dieses alles zuzulassen. Meine eigene Befindlichkeit ist allerdings hier für mich überhaupt nicht ausschlaggebend. Mir geht es vielmehr darum, vermittels des Untersagens der für die Schüler ganz alltäglichen Handlungen ein sensibles Bewusstsein für nicht-alltägliche, d.h. eher formelle Situationen zu schaffen.
Einen potenziellen Arbeitgeber kümmert es z.B. beim Vorstellungsgespräch meines ehemaligen Schülers im Hip-Hop-Look einen feuchten Kehricht, ob Lehrerin Claudia Boerger das Käppitragen einst als nicht störend stets erlaubt hat. Mein Schüler würde den Job aufgrund seiner unpassenden Kopfbedeckung nicht bekommen (außer natürlich er bewirbt sich als Drummer in einer Hip-Hop-Band).
In den außerschulischen beruflichen Situationen wird gemeinhin viel mehr Wert auf das Anerkennen von Hierarchiegrenzen und das angemessene, mehr oder weniger subtile, Verhaltensrepertoire gelegt. Ein Kaugummi kauender Lehrling am ersten Arbeitstag von seinem Vorgesetzten eine Einweisung erhaltend? Kein gelungener Start – gemeinhin zumindest in unserer Gesellschaft.
Sobald ich besonders in punkto Käppi und Kaugummi mit Kollegen ins Gespräch komme, habe ich das Gefühl, dass viele „Kaugummikauen-Erlauber“ sich meiner Argumentation nicht komplett entziehen mögen. Viele bemängeln an dieser Stelle auch, dass das Käppi mitunter den Blickkontakt im Unterricht immens erschwert, wenn der Schirm zu groß ist bzw. ins Gesicht gezogen wird. Dass dennoch, besonders in der Oberstufe, bemerkenswert wenig darauf geachtet wird, kann ich mir nur mit der mangelnden Konfliktbereitschaft mancher Kollegen erklären, die sich das Durchsetzen eines konsequenten Verbotes nicht zumuten oder ‑trauen. Dabei ist meiner Erfahrung nach ein Konflikt mitnichten vorprogrammiert. Ich erkläre meinen Schülern obige Argumentation und bin noch nie auf komplettes Unverständnis dabei gestoßen, höchstens auf augengerollte Genervtheit, wenn das Käppi sehr, sehr langsam vom Kopf über ein Ohr hinuntergeglitscht wird. Well, fair enough…
Nun wird mir oft entgegengehalten, dass all diese Argumente nicht auf das Trinken im Unterricht zuträfen, im Gegenteil, viel Trinken sei sehr gesund und damit ausdrücklich erwünscht. Also erstens glaube ich, dass viel Trinken in der Pause ausreichend Gesundheitsvorsorge bietet. Zweitens bin ich mir ehrlich gesagt auch nicht so sicher, ob es von Vorteil ist, z.B. bei einem Vorstellungsgespräch, während des Opernbesuches oder auf der Beerdigung von Tante Erna seine Pulle herauszuholen. Und genau darum geht es: Diese Situationen sind wahrscheinlich nicht so häufig, aber es gibt sie. Und dafür möchte ich bei den Schülern Sensibilität und automatisiertes Verhalten schaffen. Die Schüler sollen idealerweise so eine Art mentalen Sensor internalisieren „Halt! Stopp! Neue Situation, was passt, was nicht?“ Überhaupt soll ein Gespür für nicht-private, ungewohnte, formelle usw. Situationen entwickelt werden, welche ein – wie auch immer geartetes – angemessenes Verhalten und Register erfordern.
Und so bleibt nun abschließend festzuhalten, dass pädagogischer Eros offensichtlich komplett gegensätzlichen Attraktivitätsbedingungen unterliegt als den gemeinhin üblichen. 😉
Anspielung im Titel und im letzen Satz nicht erkannt? Hier gibt’s Aufklärung.
Max
Danke, Claudia. Ich kämpfe ebenfalls schon lange gegen die Kappi-Träger, und erkläre gelegentlich, dass alte Bauern im Bayerischen Wald beim Besuch des Wirtshauses den Hut aufbehalten dürften.
Herr Rau
Sehe ich auch alles so. Das gibt mit Schülern auch keine Probleme. Grundsätzlich ist auch die Erklärung „mich stört es nicht“ und „bei mir machen die keine Probleme“ wenig solidarisch. Das ist schließlich nicht das einzige Argument.
jens
Ich stimme zu. Bis auf das Trinken! Ich erlaube es, solange es schnell vonstatten geht. In einem Vorstellungsgespräch steht ab und an auch ein Glas Wasser parat. Zumindest finde ich es im Vergleich zu Kaugummi und Käppi nichts schlimmes daran, mal schnell einen Schluck zu trinken (falls man Durst hat).
rip
Wie Jens.
Mit folgender Einschränkung: „schnell mal ein Schluck“ ist okay, „schnell mal ein halber Liter“ oder „alle zwei Minuten schnell ein Schluck“ ist nicht okay, denn das hat Gerenne auf die Toilette zur Folge 😉
Lena
Hm. Schon könnte ein Schüler sagen: Also, beim Herrn rip, da dürfen wir trinken, wieso dann bei Ihnen nicht .…?
Die Problematik an der ganzen Sache liegt nicht so sehr in der schlüssigen, nichtschlüssigen, solidarischen oder nicht solidarischen Argumentation. Vielmehr darin, dass Unterrichtssituationen ein ganz eigenes „Genre“ sind, das auch auf der ganz eigenen Lehrer-Schülerbeziehung beruht: wäre es so formal wie oben beschworen, würde es mich und die Schüler permanent frösteln.
Die beste Lösung ist wohl, allgemein verbindliche Regelungen in der Schulordnung festzuhalten und diese dann auch solidarisch einzufordern. Was nicht in der Schulordnung geregelt ist, muss halt jede Lehrerin und jeder Lehrer selber mit seinen Klassen ausmachen. Aber ein guter Rahmen kann schon sehr entlastend sein.
Und wie handhabt ihr das mit Springerstiefeln?
Jochen
> Hm. Schon könnte ein Schüler sagen: Also, beim Herrn rip, da dürfen wir trinken, wieso dann bei Ihnen nicht ….?
Na und? Solche Situationen hat man doch immer wieder: „Der Herr rip hat aber nie …“, „Bei ihm durften wir aber immer …“ usw. Oft stimmen diese Aussagen gar nicht, bzw. sind nur die halbe Wahrheit, und selbst wenn sie stimmen, ist es mir egal, was Kollege X bzw. Kollegin Y (nicht) machen. Schüler sind sehr anpassungsfähig 😉
rip
So ist es tatsächlich in der Klasse, deren Klassleiter ich bin. In Englisch (bei mir) dürfen sie trinken (in Maßen), bei meiner Kollegin in Deutsch nicht. Kein Problem.
Ich fände es besser, wenn es sich einheitlich regeln ließe – aber da das offenbar nicht möglich ist, arrangieren sich alle je nach Situation. Auch das ist eine Art Vorbereitung auf das „richtige Leben“.
eisbaerin
Ich stehe der ganzen Problemtaik sehr gespalten gegenüber.
Zwar kann ich verstehen, dass man Schüler auf besondere Anlässe vorbereiten sollte, andererseits verbringt man als Schüler nun mal den Großteil des Tages in der Institution Schule, da sollte es meiner Meinung nach legitim sein, sich etwas von der strammmen Haltung, die ein Bewerbungsgespräch von mir fordert zu lösen. Wenn ich also Mittwoch und Donnerstag von 7.30 bis 17.00 Uhr Unterricht habe, finde ich es eine tolle Sache, etwas zu trinken, sich zu strecken und zu gähnen, vielleicht auch mal entspannt im Stuhl zu„hängen“ (auch ein no-go bei Bewerbungen).
Wo überall Bestrebungen sind, dass die Schüler sich mehr mit ihrer Schule identifizieren, sich dort wohl fühlen und diesen Ort als ihren Lebensraum anerkennen, wirkt es für mich schon befremdlich, dass einem einfache Dinge wie der Schluck Wasser oder ein Biss in die Stulle untersagt werden.
Bei meiner Stundenzahl könnte ich es mir auch gut vorstellen, in die Hausschuhe zu schlüpfen, mir zwischendurch einen Tee zu Kochen, ihn aus meiner eigenen Tasse zu trinken, danach zu spülen und nach dem Mittagessen in aller Ruhe die Zähne zu putzen. Wenn schon in der Schule leben, dann aber bitte richtig. Aber das nur am Rande.
Claudia Boerger
@eisbaerin
Ich finde deine Einstellung ebenso legitim wie meine. Verschiedene Lehrer setzen eben verschiedene Prioritaeten – und wenn die paedagogisch begruendet und lehrer-persoenlich stimmig sind, fuehren sicherlich auch im schulischen Umfeld mehrere Wege nach Rom.
Nur nebenbei: Ich muss gestehen, dass ich so eine komplette Anonymisierung wie durch deinen Namen „Eisbaerin“ ein wenig befremdlich finde, da man irgendwie gar keine vernuenftige Ansprachemoeglichkeit hat.
Chrissi
Ich erlaube weder Käppis noch Kaugummis, Trinken nur zum Stundenwechsel und bei über 30°. Was tun aber, wenn einem beim Klassenelternabend ca. 20 ostentativ kaugummikauende Eltern gegenüberfläzen? Wie soll man reagieren, wenn die in gleichem Atemzug die Erziehung ihrer Kinder einfordern…?
Julian
Also gegen Trinken im Unterricht sollte es doch wirklich keine Einwaende geben. Man sollte es halt mit dem Trinken nicht uebertreiben aber ein prinzipielles Verbot ist doch eher Sinnlos.. Vorallem in Klausuren ist es wichtig den Koerper auch trinken zu duerfen. Das regt das Denken an habe ich gehoehrt 😉
Naja und zum Thema Kaugummis, in den USA verteilen Lehrer Kaugummis zu Beginn jeder Klausur, da diese vor allem bei mathematischen Aufgaben das Gehirn anregen, sowie Gespraeche mit dem Nachbarn im Unterricht unterbinden. Zudem hilft der Kaugummi wenn man nervoes ist, sich auf ein Problem zu fokusieren.
Erst neulich hat eine Studie die von CNN mitentwickelt worden ist, dies belegt.
http://edition.cnn.com/2009/HEALTH/04/22/chewing.gum.benefits/index.html
Jochen
> Zudem hilft der Kaugummi wenn man nervoes ist, sich auf ein Problem zu fokusieren.
Bei Schulaufgaben/Klausuren dürfen meine Schüler kauen, was das Zeug bzw. die Kiefer halten. In normalen Stunden müssen sie sich ohne Kaubewegungen auf das Problem fokussieren.
teacher
Bei mir dürfen sie immer und alles trinken, vorausgesetzt es ist Wasser (frei nach H. Ford). Das stört nicht, das hilft sogar.
Sie dürfen sich kleiden, wie sie wollen, vorausgesetzt es stört nicht (Käppi oder Schleier oder anderes).
Kaugummi stört beim Sprechen und Unterricht ist Kommunikation (aber kein Vorstellungsgespräch).
lg teach
Dani
> Sie dürfen sich kleiden, wie sie wollen, vorausgesetzt es stört nicht.
Wie wäre es, wenn man die Käppis dazu verwenden würde, die oft sehr großzügig geschnittenen Blusen- und T‑Shirt Ausschnitte vieler Schülerinnen zu kaschieren? 😉
Ich bin weiß Gott nicht prüde, aber ich empfinde Mikroröcke und bauchfreie Spaghettiträgertops auch als „störend“ – vor allem, wenn das Oberweitenvolumen das Oberteil fast zu sprengen droht. Wie soll man da NICHT hingucken? Ich beneide meine männlichen Kollegen nicht, die sich ja um jeden Preis davon unbeeindruckt zeigen müssen.
An manchen Schulen kann man die Schülerinnen zum Hausmeister schicken, damit sie sich ein Schul-T-Shirt abholen und überziehen können. Das muss dann frisch gewaschen wieder zurückgegeben werden. Diese Möglichkeit gibt es an meiner Schule leider nicht. Also gilt auch im nächsten Sommer das Motto: you can leave your hat on …
Alex
Also, um es klar vorweg zu sagen: nix gegen die Autorität der Lehrkraft. Als Lehrer, Dozent oder wasauchimmer ist man nun mal Chef im Ring und kann und darf und soll sich auch so verhalten. „Ich will nicht, dass hier getrunken wird, Käppi getragen, Pommes gegessen, Kopftuch getragen (ups, das sollte erst gleich kommen…)“, dann ist das halt so. Ende der Diskussion. Solange man mit seinen Vorstellungen hier keine allgemein absurden Grenzen überschreitet, hat sowas auch noch nie Probleme gegeben. Und es kann jeder einzelne für sich selbst entscheiden was geht und was nicht. ABER: mal ehrlich, das ist schon alles willkürlich und dazu muss man stehen. Trinken ja, aber nur in Maßen. Käppi ja, aber nur wenn nicht in den Augen, Kaugummi ja, auch, aber nur zweimal kauen, dann ist Schluß… ach herrje! Entweder, oder. Es gibt faktisch keine Begründung warum das eine und nicht das andere, wie lang, wie oft, wie breit, wie kurz (wir erinnern uns noch an den Sommer vor 2 Jahren??). Ich zB fand die Bekleidung (an der UNi…!) ausgesprochen unterhaltsam! Und nein, sie störte MICH keineswegs bei der ordnungsgemäßen Leistungsmessung. Wenn Kollege X das anders sieht. Gut, so sei es.
Solche Setzungen sind und bleiben willkürlich. Ich bin der Überzeugung, dass eben gerade der Einstieg in eine solche Diskussion ein Problem ist, denn dann ist das (illusorisch) auch verhandelbar. Man kann und sollte natürlich irgendwann einmal ohne konkreten Anlass auf das Problem der Register und STilebenen zu sprechen kommen, aber das ist eine andere Frage.…