Hach, was für ein Jubel allerorten über Bayerns Rückkehr zum G9. Alles wird wieder gut, viele Versprechungen und Hoffnungen, am häufigsten hört/liest man „höhere Qualität“, „nachhaltiges Lernen“ und „vertiefte Bildung“. Meiner Meinung nach wird kaum etwas davon – zumindest in Englisch – Wirklichkeit werden.
Nun kann man natürlich endlos darüber streiten, was denn „Bildung“ eigentlich heutzutage eigentlich sein soll, aber ich denke, die meisten Leute können sich zumindest darauf einigen, dass man als „gebildeter“ Mensch etwas WISSEN und etwas KÖNNEN sollte.
Ich frage mich die ganze Zeit schon, WAS die Schüler denn eigentlich „nachhaltig“ lernen sollen, denn man darf ja zum Beispiel in Oberstufenklausuren keine Wissensfragen mehr stellen. Also lernen die Schüler freiwillig/aus Einsicht/weil sie so wahnsinnig intrinsisch motiviert sind – willkommen im Wolkenkuckucksheim. Der einzige Grund warum sie unter Umständen Inhalte zumindest kurzfristig lernen, ist, weil in der nächsten Stunde vielleicht ausgefragt wird (bei vielen Kollegen verpönt), weil eine Stegreifaufgabe droht (ebenfalls verpönt) oder für das Kolloquium.
Das Kolloquium ist ein merkwürdiges Relikt aus längst vergangenen Zeit. Da soll ein Schüler doch tatsächlich „stupides“ Wissen (re)produzieren, sprachlich korrekt, verständlich und gut strukturiert. Dabei hatte man in der (inzwischen wieder abgeschafften) mündlichen Abiturprüfung bereits klar gemacht, dass es eben nicht mehr auf Wissen ankommt, das sollte ja eine reine „Kommunikations„prüfung sein, bei der man kein Wissen abprüfen durfte. Ich vermute mal, dass das Kolloquium im Rahmen einer länderübergreifenden „Harmonisierung“ der Abiturprüfungen auch über kurz oder lang zu einer Laber-, Kommunikationsprüfung wird. Außerdem gibt es ja eh keinen Grund warum sich ein Abiturient das stressige Kolloquium antun soll, wenn er doch auch das völlig wissensfreie schriftliche Abitur machen kann.
Wie schaut es mit dem KÖNNEN aus? Schauen wir uns mal das METHODISCHE Können (=Arbeitstechniken) an. Im schriftlichen Abitur müssen Schüler Fragen beantworten, einen Aufsatz schreiben (bzw. einen Cartoon interpretieren) und einen deutschen Text sinngemäß auf Englisch zusammenfassen. Ist das schwierig? Nein, überhaupt nicht – jeder Zehntklassler hat das nach kürzester Zeit begriffen. Die jeweilige Arbeitstechnik das erste Mal exemplarisch demonstrieren, danach ein paar Mal üben, spätestens nach dem dritten Mal können es die meisten. Warum man jetzt ein (demnächst ZWEI) weitere(s) Jahr ausschließlich immer die selben drei läppischen „Abiturformate“ in Klausuren verwenden darf, bleibt rätselhaft. Allein schon aufgrund der Angleichung an andere Bundesländer wird es auch kein Zurück mehr zu anspruchsvolleren Fragen, zum Beispiel nach Stilmitteln, mehr geben.
Betrachten wir nun das SPRACHLICHE Können unserer zukünftigen G9 Schüler. Im Bereich der GRAMMATIK wird die geforderte Einsprachigkeit des Unterrichts weiterhin dafür sorgen, dass die Schüler bestimmte grammatische Phänomene von vorneherin nicht richtig verstehen werden. Einfache Sachen (wie zum Beispiel die Stellungen von Adverben im Englischen) kann man ja vielleicht noch halbwegs erfolgreich auf Englisch erklären, aber spätestens bei Strukturen, die es im Deutschen nicht gibt (wie Verlaufsformen) bzw. die im Deutschen anders funktionieren (wie Bedingungssätze) bricht die Kommunikation angesichts der schockierenden Grammatikdefizite der meisten Schüler komplett zusammen. Konsequentes und regelmäßiges Üben von Grammatik wurde darüberhinaus in den letzten Jahren derart diffamiert („stupide Drills“), dass es nur noch selten stattfindet.
Auch im Bereich des WORTSCHATZES habe ich keine großen Hoffnungen. Hier verhindert die unsinnige Einsprachigkeit den Aufbau eines umfassenden und differenzierten Wortschatzes. Der Aufwand kontextualisierte Aufgaben zu erstellen ist so groß, dass die meisten Lehrer einfach auf entsprechende Aufgaben in ihren Klausuren verzichten. Im Wolkenkuckucksheim lernen die Schüler natürlich brav ihre Wörter, obwohl sie wissen, dass sie nicht abgeprüft werden, in der Realität tun sie es einfach nicht.
Außer ministeriellen Vorgaben und Zwängen haben aber natürlich auch noch andere, „gesamtgesellschaftliche“ Faktoren/Haltungen/Überzeugungen Einfluss auf den „Bildungserfolg“. So besteht inzwischen weitgehend Konsens, dass Hausaufgaben überflüssig sind und abgeschafft werden sollten. Ohne Hausaufgaben kann Grammatik und Wortschatz aber nicht mehr ausreichend gelernt bzw. geübt/wiederholt werden, dafür reichen lächerliche drei Stunden in der Woche (oft aufgeteilt in eine Doppel- und eine Einzelstunde) einfach nicht aus.
Des Weiteren herrscht weitgehende Übereinstimmung, dass Durchfallen schlecht ist und ebenfalls abgeschafft werden sollte. Folglich lässt man immer mehr Schüler „auf Probe“ vorrücken („Lieber Kollege, können Sie mit Sicherheit ausschließen, dass Max seine Lücken nicht schließen kann?“). Die drücken im nächsten Schuljahr im Normalfall den Durchschnitt nach unten. Um sich nun nicht ständig für schlechte Schnitte rechtfertigen zu müssen, senkt man einfach die Anforderungen bzw. verändert den Punkteschlüssel (zum Beispiel Note 5 bereits mit 25% oder 20% der maximalen Punkte und nicht erst mit 33%).
Auch das ständige Wehklagen über „Lernstress“ wird im neuen/alten G9 nicht mehr verschwinden. Wer hat denn schon den Mut sich hinzustellen und offen zuzugeben, dass durch immer höhere Abiturientenzahlen zwangsläufig immer mehr ungeeignete Schüler am Gymnasium aufschlagen, die (aus ihrer Sicht berechtigt) „gestresst“ sind.
Ein Blick nach Sachsen genügt, um sich klarzumachen, dass es bei der Diskussion um „nachhaltiges Lernen“ und „vertiefte Bildung“ NICHT in erster Linie um ein Jahr mehr oder weniger geht. Man kann in acht Jahren Qualität produzieren und neun Jahre sind per se kein Garant für höhere Qualität. Ältere Kollegen erinnern sich noch, wie überflüssig in mancherlei Hinsicht die 11. Klasse früher im G9 war. Viele Schüler vertrödelten das Jahr einfach, weil es ja erst in der 12. Klasse „ernst“ wurde. Aber in ein paar Jahren können wir ja wieder zum „bewährten“ G8 zurückkehren …
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