Der folgende Text ist eine Übersetzung von “Why there is often so little dance in people dancing tango” von Veronica Toumanova.
Im Originaltext geht es um “leader” und “follower”. Da mir “der Führende” und “die Folgende” zu holprig ist, verwende ich im Folgenden “Mann” und “Frau” in dem Bewusstsein, dass auch Frauen führen und Männer folgen können. Der besseren Lesbarkeit zuliebe verwende ich nur männliche Formen.
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In einem meiner Artikel habe ich geschrieben, dass das Schwierigste für einen Tangolehrer nicht ist, korrekte Bewegungen zu lehren, sondern die Leute zum Tanzen zu bringen. Was ist es, was wir Lehrer (und Tänzer) so schwierig finden? Gewöhnliche Lexika definieren Tanzen als “sich rhythmisch zur Musik bewegen, typischerweise in einer festgelegten Schrittfolge”. Oberflächlich betrachtet ist die Definition korrekt, danach müsste jede einzelne Person auf einem Tanzparkett auch tanzen. Aber Soldaten, die zu einem Marsch marschieren, bewegen sich auch rhythmisch zu Musik. Intuitiv erkennt man auf einer Milonga immer die Leute, die wirklich tanzen, und diejenigen, die sich lediglich rhythmisch zur Musik bewegen. Man wird sich immer lieber die richtigen Tänzer ansehen.
Was schaut man sich da so gerne an? Was ist Tanz? Schauen wir uns erstmal an, was er nicht ist.
Tanz ist nicht Technik. Man braucht keine perfekte Technik um zu tanzen, in Wahrheit ist es genau andersherum. Du musst tanzen, um deine technischen Fähigkeiten zu entwickeln. Tanz entsteht weder aus dem Verständnis von Formen, Balance und Dynamik, noch aus der physischen Fähigkeit diese auszuführen. Man benötigt Technik, um den Tanz leicht und ausdrucksvoll zu machen, aber sogar ein kleines Kind kann schon tanzen. Bei großen Künstlern bewundern wir zwar die Technik, aber was uns emotional berührt ist der Tanz.
Tanz ist nicht körperliche Bewegung, genauer gesagt, er ist nicht NUR körperliche Bewegung. Eine rein körperliche Bewegung ist im Sport üblich, denn im Sport geht es darum Ergebnisse zu erzielen. Tanz strebt nicht nach Ergebnissen, sondern nach Ausdruck. So wie das Drücken von Klaviertasten nicht automatisch Musik produziert, ergibt Bewegung im Raum nicht automatisch Tanz. Tanz ist auch nicht Anstrengung, er ist vielmehr Anstrengungslosigkeit, was schlicht bedeutet, dass die Anstrengung der Aufgabe angemessen ist.
Tanz ist nicht die Umarmung, der Tanz wird in der Umarmung erschaffen. Tango ist bekannt als “der Tanz der Leidenschaft” und historisch zeigt er ein sinnliches Spiel zwischen Mann und Frau. Sinnliche oder sexuelle Spannung existiert nicht automatisch zwischen den Tänzern, sie wird lediglich ausgedrückt. Ein verbreiteter Irrtum über den Tango ist, dass diese sinnliche Verbindung, oder einfacher ausgedrückt, eine flirtende Grundeinstellung die Quelle des Tanzes sei. Einen Mann oder eine Frau sinnlich zu umarmen wird jedoch keinen Tanz erschaffen. Im Tango reicht die Verbindung viel tiefer als eine sexuelle Verbindung zwischen Mann und Frau, es ist eine zutiefst menschliche Verbindung. Sinnlichkeit kann den Tanz bereichern, ihn aber nicht ersetzen. Deshalb können auch zwei Männer oder Frauen oder eine weibliche Führende und ein männlicher Folgender Tango tanzen.
Tanz ist auch nicht die Verbindung mit der Musik, obwohl Musikalität wichtig ist, um einen Tanz zu erschaffen. Ob du in der Lage bist, die Art wie du die Musik hörst in Bewegung umzusetzen, hängt von vielen Dingen ab, aber, wie die Umarmung, ist Musik nur ein Bestandteil um einen Tanz zu erschaffen.
Beim Tanz geht es um deine Energie, darum, dass du deinen Körper benutzt, um Gefühle und Ideen auszudrücken, die ihren Ursprung in der Art und Weise haben, wie du die Musik hörst. Damit verbunden ist ein bestimmter Bewegungswortschatz in Verbindung mit der Bewegung deines Partners. Jede kreative Handlung, vom Kochen bis zum Geschichtenerzählen, benötigt Ideen, Energie und Ausdrucksmöglichkeiten. Im Tanz drückst du dich durch deinen Körper aus. Deshalb ist Tanz nicht etwas, was du TUST, sondern etwas, das du WERDEN musst.
Also, warum gibt es oft so wenig Tanz, wenn Leute Tango tanzen?
Eine Eigenart des Tango ist, dass er zwei gleichermaßen wichtige Komponenten hat: Die Notwendigkeit sich selber zu bewegen und die Notwendigkeit mit dem Partner zu kommunizieren (der Austausch von Impulsen oder Führen/Folgen). Du kannst an deinen eigenen Bewegungen arbeiten, aber für den Tango ist das nur die halbe Geschichte. Du musst fast genauso viel Zeit damit verbringenzu lernen mit deinem Partner durch subtile, praktisch unsichtbare Bewegungen und Absichten zu kommunizieren. Du tanzt in der Umarmung mit dem/der anderen und selbst die kleinste Bewegung deines Körpers wird von deinem Partner deutlich wahrgenommen. Die Umarmung ist im Tango eine extrem sensible Umgebung und kann eine Quelle großen Unbehagens oder tief empfundener Freude sein.
Tango ist eine Unterhaltung und um eine Unterhaltung zu führen, braucht man Ruhe. Um durch Impulse mit einer anderen Person kommunizieren zu können, muss man einen ruhigen Raum schaffen, so dass die kleinste Absicht übertragen wird. Das macht Tango zu so einem introvertierten und emotional erfüllenden Tanz, denn wir erinnern uns nicht an die Schritte, wir erinnern uns an die Qualität der Verbindung und unsere Empfindungen.
Tango-Anfänger sehen sich mit der Tatsache konfrontiert, dass sie nicht “einfach zur Musik tanzen” können. Wenn sie es versuchen, verlieren sie die Verbindung zu ihrem Partner. Tango-Unterricht läuft auf zwei Ebenen ab: Die Leute sollen lernen, durch subtile Bewegungen miteinander zu kommunizieren und sich selber expressiv zu bewegen, um der Energie der Musik gerecht zu werden. Das siehst du bei ausgezeichneten Tänzern: Sie sehen ruhig und natürlich aus, often bewegen sich ihre Oberkörper überhaupt nicht und trotzdem können sie als Paar extreme Dynamik schaffen und von der Musik erfüllt werden. Lehrer haben die anspruchsvolle Aufgabe, sowohl die dynamische Seite als auch die Stille des Tangos zu lehren.
Was imitiert ein Anfänger? Das, was für das Auge am sichtbarsten ist. Wenn Lehrer sehr dynamische Bewegungen zeigen, imitieren die Schüler natürlich diese großen Bewegungen, zum Schaden der Verbindung innerhalb des Paares. Wenn Lehrer die “kleinen Sachen” unterrichten, imitieren die Schüler diese, mit dem Effekt, dass sie ihren Wunsch sich zu bewegen unterdrücken, um “ruhig” zu sein. Sie können sich noch nicht frei bewegen UND gleichzeitig subtil führen und folgen. Wenn sie ihren Wunsch sich zu bewegen unterdrücken, kann ihre Energie nicht mehr fließen, was zu Spannung führt. Die Umarmung wird starr. Wenn man dazu noch die Notwendigkeit hinzunimmt, in einem Raum voller ebenfalls gestresster Paare zu navigieren, ist das Bild komplett.
Überall sieht man Leute, die ihren natürlichen Wunsch sich zu bewegen unterdrücken und versuchen in der extrem sensiblen Umgebung ihrer gemeinsamen Umarmung “fixiert” zu bleiben. Der Wunsch, sich zu bewegen, wird auch häufig durch persönliche Schwierigkeiten blockiert: Schüchternheit, Angst sich zu exponieren, Angst zu versagen, Kontaktangst und die Unfähigkeit sich mit der Musik zu verbinden und dadurch Ideen und Gefühle zu bekommen, die man ausdrücken könnte. Man sieht aber auch das Gegenteil: Leute, die ihrer Energie freien Lauf lassen, die sich viel in der Umarmung bewegen, was eine Art Tanz erschafft; aber die Kommunikation zwischen den Partnern entspricht zwei Menschen, die sich gegenseitig anschreien, obwohl sie ganz nahe beieinander stehen.
Um Tango zu lernen, musst du es erstmal falsch machen, bevor du es richtig machen kannst, d.h. lass deine Energie einfach mal fließen. Das bedeutet nicht automatisch sich VIEL zu bewegen, aber manchmal wird genau das unvermeidlicherweise passieren. Wenn Kinder oder junge Hunde eine neue Bewegung erlernen, bewegen sie sich am Anfang mit einem einfachen Ziel im Sinn und machen es immer wieder. Sie bewegen sich zu sehr oder nicht genug, sie fallen hin und stehen wieder auf, versuchen dieses und jenes, bis sie die richtigen Reflexe ausgebildet haben und die Bewegung von allem Überflüssigen befreit wurde. Aber für Erwachsene ist es sehr schwer, wieder ein Kind oder junger Hund zu werden. Es ist eine Herausforderung wieder Anfänger zu sein, vor allem wenn man von anderen Leuten um einen herum beobachtet und beurteilt wird. Kinder haben kein Problem damit, etwas falsch zu machen, aber Erwachsene wollen alles von Anfang an richtig machen. Im Tango lernen die am schnellsten, die keine Angst davor haben, sich zu bewegen, sich in der Bewegung und der Musik zu verlieren und lächerlich auszusehen.
Die meisten von uns kommen zum Tango, nachdem sie eine weitgehend intellektuelle Ausbildung erhalten haben. Wir leben in unseren Köpfen und Computern und nicht in unseren Körpern. Wir versuchen mit dem Verstand zu verarbeiten, was uns passiert. Wenn es darum geht Bewegungen zu erlernen, ist das nicht effektiv. Dein Körper funktioniert auf eine Weise, die du nicht vollständig erfassen kannst, geschweige denn durch deinen Verstand kontrollieren kannst. Kannst du deine Verdauung und deinen Herzschlag kontrollieren? Kannst du bewusst das Blut durch deine Blutgefäße drücken? In deinem Gehirn gibt es mehr neuronale Verbindungen als Sterne in unserer Galaxie, und das ist eine Tatsache, keine Redensart. Kontrollierst du sie? Oder kontrollieren sie dich? Steifheit ist bei einem Tänzer oft das Ergebnis des bewussten Versuchs, jede Bewegung zu verstehen und zu kontrollieren BEVOR sie stattfindet, was einfach nicht möglich ist. Dein Verstand ist nicht der Hauptakteur, er hilft dir nur die Absicht und die Mechanik einer Bewegung zu verstehen. Deshalb flehen Männer oft Frauen an: “Hör bitte auf zu denken.”
Um “Tanz zu werden” musst du deinem ganzen Wesen erlauben, sich der Energie hinzugeben, die du selber erzeugst und dir trotzdem vollständig bewusst sein, was passiert. Ausschließliches Sich-Hingeben führt zu automatischen Bewegungen. Bewusstes Sich-Hingeben führt zu wahrem Tanz und wahrer Glückseligkeit, die wir alle im Tango suchen. Tanz ist dieser besondere Seinszustand, der “Flow” genannt wird. Es klingt schwierig, ist es aber eigentlich gar nicht. Fließen ist das Natürlichste für einen Menschen. Es ist das, was du machst, wenn du nicht versuchst zu kontrollieren was passiert, wenn du sich nicht “bemühst”. Du musst ein Tänzer werden, bevor du ein fortgeschrittener Tänzer werden kannst und tanzen bedeutet jede Bewegung vollständig durch den Körper auszudrücken. Auf diese Art kannst du, egal wie gut du bist, von deinem ersten bis zu deinem letzten Tango tanzen. Ist das nicht eine gute Nachricht?
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