Ein Gastbeitrag von Claudia Boerger zur Frage, ob man zu Oberstufenschülern you oder She sagen soll:
Fragt man Oberstufenschüler, ob sie von ihren Lehrern lieber geduzt oder gesiezt werden möchten, wird meistens das vertraute Du vorgezogen, wahrscheinlich aus Gewohnheit und wegen Kuschelfaktor. So halten sich dann auch viele Kollegen tatsächlich an die Wünsche ihrer Zöglinge und es wird zumindest meiner Beobachtung nach größtenteils einseitig geduzt. Die Frage sei jedoch erlaubt, ob und wie diese Form der Schülerzugewandtheit pädagogisch zu rechtfertigen ist.
Bisher habe ich meine Schüler von Anfang der Klasse 11 an konsequent gesiezt. Ich frage mich allerdings gerade, ob dies für die 10-Klässler, die durch die Verkürzung der Schulzeit nun in die Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe kommen, ebenso angemessen ist oder ob das so frühe Siezen arg aufgesetzt und unecht wirkt. Dies ist übrigens auch ein häufig angeführter Grund, warum Kollegen das Du vorziehen: Für ihre Art des Unterricht und des Schülerumganges wird das als persönlicher empfundene Duzen häufig als „stimmiger“ und „echter“ empfunden. Zudem wird mancherorts befürchtet, das steife Sie könnte unnötig Distanz und Kühle zwischen Lehrkraft und Schülerschaft produzieren. Besonders befremdlich empfinden es die Beteiligten, wenn die aus der Mittelstufe bereits bekannten Schüler plötzlich gesiezt werden sollen.
Meine Gründe für das durchgängige Siezen sind im Bereich „Erziehung fürs Leben“ zu suchen. Mein Eindruck ist, dass den Schülern das Hineinwachsen in die Erwachsenenrolle mit Hilfe des klar vernehmbaren Signals Siezen leichter gelingt, und sie mit mir schon einmal eine Rolle einüben können, die spätestens nach den verbleibenden drei Schuljahren von ihnen „da draußen in der Welt“ erwartet wird. Ich nehme meine Rolle als Lehrerin – je nach Alter der Schüler – irgendwo zwischen Nanny und Chefin wahr, mit einem deutlichen Akzent auf letzterer Funktion bei den (halb)erwachsenen Schülern. Wenn ich nun z.B. größere Freiheiten gebe und Lernverantwortung teilweise auch an die Schüler abgebe (Fehlen der Hausaufgaben wird z.B. registriert, aber nicht mehr erzieherisch moniert) dann signalisiere ich durch das konsequente Siezen nicht nur diese Rollenerwartung an einen selbstverantwortlichen Lernenden sondern gestehe sie damit auch explizit zu.
Sie oder Du: Beide Anredeformen sind im Oberstufenkontext sicherlich sinnvoll zu rechtfertigen – jedoch sollte auch genau dies geschehen, d.h. mindestens eine individuell-mentale Auseinandersetzung mit diesen berühmt-berüchtigten „Hammaimmaschonsogemacht“-Themen wie eben die Anrede von unseren ältesten Schülern.
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Herr Rau
Früher habe ich geduzt, auch in der Oberstufe, auch auf Wunsch der Schüler, wie oben gesagt. Inzwischen sieze ich lieber – letztes Jahr noch nicht in der 10. (auch wegen Vorjahr), kommendes Jahr kriege ich wieder eine 10. und möchte gerne siezen. Ein bisschen Kühle und Distanz muss auch gar nicht schaden.
(Fehlende Hausaufgabe: Wenn sie nicht zum Üben da ist, sondern zur Vorbereitung des kommenden Unterrichts, dann moniere ich aber immer noch sehr.)
Claudia Boerger
@Herr Rau – zu Hausaufgaben: Ja sicher geht man nicht darueber hinweg (obwohl diese Haltung ist bei Kollegen ja auch mitunter anzutreffen, wenn aus Bequemlichkeit bzw. neudeutsch: „in Anerkennung der Lernautonomie erwachsener Schueler“ auf Hausaufgabenkontrolle gaenzlich verzichtet wird). Meine Reaktion ist bei Oberstufenschuelern aber schon weitaus gedaempfter als bei den Kleinen. Hier warne ich bei entsprechendem Fehlverhalten noch mit besorgter Miene vor den moralischen und wirtschaftlichen Spaetfolgen, die aufgrund des nicht ordnungsgemaess vorbereiteten Vokabulars von Unit 5 persoenlich – aber auch gesamtgesellschaftlich – entstehen moegen. In der Oberstufe gehe ich in der Regel mit nicht so viel missionarischem Eifer vor und notiere nur noch schwer seufzend und mit hochgezogener Augenbraue das Fehlverhalten.
Seriously: Ein Schueler meinte einmal zu mir „Mrs Burger, Sie nehmen das mit den Hausaufgaben viel zu persoenlich. Ist doch unsere Sache, ob wir die haben oder nicht – wir muessen doch die Konsequenzen tragen.“ Da hat er ein Stueck weit Recht und ich habe begonnen, diesen Teil der Oberstufenstunde etwas weniger erzieherisch zu gestalten.
Jochen
> […] wir muessen doch die Konsequenzen tragen.“ Da hat er ein Stueck weit Recht
Das hängt halt sehr von der Art der Hausaufgabe ab. Wenn als HA z.B. ein Text zu lesen / bearbeiten war, den ich in der nächsten Stunde besprechen möchte, dann hat es Auswirkungen auf den gesamten Unterricht, wenn ein Drittel (oder noch mehr) die HA nicht gemacht hat. Deswegen bin ich auch in der Oberstufe noch ziemlich hinter den HA her.
Matthias Heil
Duzen oder Siezen: Hängt bei mir von der Geschichte ab, die mich mit der Mehrheit der Lernenden verbindet: ist diese herzlich und vertrauensvoll, wie man sich das idealerweise in allen Lerngruppen wünscht, tendiere ich eher zum Duzen obwohl das Siezen m.E. grundsätzlich besser begründet ist.
Hausaufgabe in der Oberstufe: Da mach‘ ich immer Theater… vielleicht übertrieben, aber ich halte es für sehr wichtig, dass Heranwachsende lernen, dass die selektive Erbringung von Anforderungen i.d.R. nicht hinnehmbar ist – am Ende gehen die ihre weitere berufliche Karriere genauso an. – Praktische Gründe hat das Theater auch, denn nicht selten hängt – wie Jochen schon eingeworfen hat – in der Tat das zufriedenstellende Fortkommen dran. Auch hinsichtlich der Kooperations- und Kollaborationsfähigkeiten, die wir entwickeln helfen sollen, empfiehlt sich in dieser Angelegenheit eher das Theater als (zu stark ausgeprägtes) Laissez-faire.
Matthias Heil
P.S. Bin Lehrer, deswegen: „She“ vielleicht doch besser „Sie“ in der ersten Zeile des Beitrags?)
Jochen
> vielleicht doch besser “Sie” in der ersten Zeile des Beitrags?
Das sollte ein kleiner Scherz sein: she = sie; She = Sie
The function of the introductory sentence is to arouse the reader’s interest. 😉
Matthias Heil
Oh, sorry then… :^)
Andreas Kalt
Danke für die guten Anregungen – ich habe bisher (auf Schülerwunsch) geduzt, hatte aber immer das Gefühl, da nochmal näher drüber nachdenken zu sollen. Das habt Ihr mir hiermit deutlich erleichert.
rip
Wenn Lehrer die Schüler entscheiden lassen, ob die Klasse mit „Sie“ oder „Du“ angesprochen werden will, dann ist das keine wirklich freie Entscheidung. Zum einen wiegt die Gewohnheit schwer (wie oben schon angesprochen), zum zweiten aber ist es wohl oft so, dass die Schüler es dem Lehrer nicht unnötig schwer machen wollen und ihm die Umstellung ersparen.
Bei uns ist Siezen ab Jgst. 10 verpflichtend, ohne Ausnahme. Ich finde das richtig – aus denselben Gründen, die Claudia oben angeführt hat; und die Schülerinnen gewöhnen sich sehr schnell daran. Es kommt auch ein bisschen darauf an, wie man als Lehrer damit umgeht. Es muss sich ja nicht der Umgangston radikal verändern, nur weil die Anrede anders ist. Aber dass ein bisschen mehr Distanz entsteht, tut beiden Seiten gut.
„Ohne Ausnahme“ stimmt so nicht ganz – in Wahlfächern wie Theater oder Sport, die Teilnehmer aus verschiedenen Jahrgangsstufen haben, auch solche aus jüngeren Jahrgangsstufen, bleibt es beim „Du“. Ein Argument ist, dass es seltsam wirken würde, Teilnehmer desselben Kurses unterschiedlich anzusprechen; ein weiteres, dass für die intensive Zusammenarbeit in solchen Neigungsgruppen das „Du“ angemessener sei. Bei letzterem bin ich mir inzwischen nicht mehr so ganz sicher, aber ich hatte und habe keine Probleme damit (und auch die Schülerinnen nicht), zur Schülerin X in der Theaterprobe „Du“ zu sagen und am nächsten Vormittag dieselbe Schülerin X im Grundkurs Deutsch mit „Sie“ anzusprechen. Denn im Grundkurs Deutsch wäre es ja wiederum seltsam, wenn ich die Teilnehmer der Theatergruppe duze und den Rest des Kurses sieze.
Ingmar Kolb
Es ist doch erstaunlich, wieviel Aufmerksamkeit die Frage der Anrede auf sich zieht, wiewohl sie meines Erachtens eher nachrangig ist, da sie ihren Platz doch immmer im Gesamtkommunikationszusammenhang, der zwischen Lehrer und Schülern besteht, findet. Herrscht ein gutes Arbeitsklima, dann kann sich auch der geduzte Schüler als Erwachsener angesprochen fühlen, und nicht unbedingt ist das „Sie“ ein Herbeiführer von Kühle und Distanz. In meiner bisherigen Unterrichtserfahrung hat sich das „Du“ bestens bewährt, es ist für mich und die Schüler am stimmigsten, vielleicht auch, weil ich an einer kleinen Schule mit nicht sehr großen Klassen unterrichte. Dennoch möchte ich mir erlauben, Frau Boerger ein Lob ausszuprechen, wenn wir alle so reflektiert unsere Berufstätigkeit nach- und vorbereiten würden, dann wäre das sicherlich toll.
Schöner Gruß, Ingmar Kolb
Claudia Boerger
@Ingmar Kolb: Herzlichen Dank für die freundliche Rückmeldung.
Inhaltlich kann ich nicht zustimmen, ist es doch ein Gemeinplatz, dass die Beschaffenheit zwischenmenschlicher Beziehungen zu einem Großteil abhängig von unserem sprachlichen Handeln ist. Selbstverständlich hat gerade auch die Anredeform, die ja eine klare Rollenerwartung widerspiegelt, eine beziehungsgestaltende Wirkung.